eJournals Internationales Verkehrswesen 72/4

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2020-0078
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2020
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Radverkehrförderung 3.0

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2020
Peter Pez
Antje Seidel
Im ersten Teil dieses Beitrages haben die Autoren die Entwicklung der bisherigen Radverkehrsplanung in zwei Phasen gegliedert. Ihre Argumentation pro einer neuen Ebene 3.0 beinhaltet die Forderung nach einer konsequenten und flächendeckenden Beseitigung von Radverkehrshindernissen, für die in der Phase 2.0 zwar die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen, die Umsetzung aber ausgeblieben sei. Die Forderung nach Barrierefreiheit und Netztransparenz erfährt im vorliegenden Teil 2 mit digitaler Navigation das dritte Kernelement einer RVF 3.0.
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Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 16 Radverkehrsförderung 3.0 Barrierefrei, netztransparent, digital - Teil 2 Radverkehr, Verkehrsmittelwahl, Stadtverkehr, Verkehrsplanung Im ersten Teil dieses Beitrages haben die Autoren die Entwicklung der bisherigen Radverkehrsplanung in zwei Phasen gegliedert. Ihre Argumentation pro einer neuen Ebene 3.0 beinhaltet die Forderung nach einer konsequenten und flächendeckenden Beseitigung von Radverkehrshindernissen, für die in der Phase 2.0 zwar die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen, die Umsetzung aber ausgeblieben sei. Die Forderung nach Barrierefreiheit und Netztransparenz erfährt im vorliegenden Teil 2 mit digitaler Navigation das dritte Kernelement einer RVF 3.0. Peter Pez, Antje Seidel E lektronische Navigation gehört im Autoverkehr bereits zum Standard. Bei vielen Systemen kann man auch Routenvariationen wählen: kürzeste, schnellste oder landschaftsattraktivste Route. Auch für den Radverkehr befinden sich Navigations-Apps für Smartphones auf dem Markt, ebenso wie Smartphonehalter für den Lenker. Die Crux liegt darin, dass diese Navigationssysteme in den meisten Fällen nur auf (Rad-)Wege entlang von Hauptverkehrsstraßen verweisen, selbst wenn man eine Option für gemächliches Radfahren oder schöne Routen anklicken kann. Die Ursache hierfür ist aktueller Bearbeitungsgegenstand in einem universitären Projekt der Autoren. Die Bemühungen, hier zu einer wesentlichen Verbesserung zu kommen, fanden Anerkennung in der Nominierung für den Deutschen Nachhaltigkeitspreis, Sonderkategorie Digitalisierung, Bereich Forschung. Viele Navigations-Apps greifen auf die Daten der OpenStreetMap (OSM) zurück, einer nutzergenerierten digitalen Weltkarte. Anders als beispielsweise die Daten von staatlichen Vermessungsämtern oder privaten Unternehmen wie Google stehen die OSM-Rohdaten unter der „Open Data Commons Open Database Lizenz“ (ODbL). Damit können sie für zahlreiche Einsatzzwecke, auch kommerzieller Art, genutzt werden, sofern auf die Urheberschaft der OSM-Mitwirkenden hingewiesen und das Ergebnis der Daten(weiter)verarbeitung unter gleicher Lizenz weitergegeben wird Foto: Candid Shots/ pixabay INFRASTRUKTUR Radverkehr Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 17 Radverkehr INFRASTRUKTUR [8]. Kosten in Form von Nutzungsgebühren oder ähnlichem fallen hierfür nicht an. Dank einer sehr großen Mapping-Community von weltweit mittlerweile fast 6 Mio. Nutzern [9] und in Deutschland regelmäßig sehr hohen Zahlen bei Datenänderungen und -neueinträgen durch aktive Mapper [10] besitzt die OpenStreetMap hier eine sehr hohe Übereinstimmungsqualität mit der gebauten und natürlichen Umwelt. Damit sind OSM-Daten als Grundlage für GIS-Anwendungen sehr gut geeignet und zumindest im Lüneburger Untersuchungsraum vielerorts „wirklichkeitsgetreuer“ und aktueller als die allseits bekannten Google Maps oder Kartendienste anderer Internetgroßkonzerne (z. B. Microsoft Bing, Here). Geodaten für GIS-Anwendungen sind von diesen Anbietern, wenn überhaupt, nur mit hohem Kostenaufwand erhältlich; einen direkten Einfluss auf die Qualität der Daten haben hier lediglich die Firmen, in deren Eigentum die Daten liegen. Gerade für die zahlreichen Internet-Startup-Firmen im wachsenden Bereich der Geodatenverarbeitung, deren finanzielle Möglichkeiten häufig begrenzt sind, liegt daher die Nutzung der kostenfreien OSM-Daten mehr als nahe, zumal sie durch eine Zusammenarbeit mit den lokalen Mapping-Communities aktiv zur Verbesserung und Aktualisierung der für die jeweilige Anwendung benötigten Daten beitragen können. Weisen OSM-basierte Fahrradnavigationsanwendungen für bestimmte Strecken im innerstädtischen oder stadtperipheren Raum größere (und damit radlerunfreundliche) Umwege aus, sind nur selten real oder in den OSM-Daten fehlende Wegenetzverbindungen die Ursache. Weitaus bedeutsamer sind die den verwendeten Routing- Diensten zugrundeliegenden Algorithmen. So werden zum Beispiel für nicht genauer spezifizierte Wege abseits der Hauptstraßen von diesen Algorithmen meist schlechte Fahrradnutzungsbedingungen per se unterstellt. Das läuft auf Fahrzeiten hinaus, wie sie bei unebenen, schlecht befahrbaren wassergebundenen Decken oder Wegen ganz ohne Befestigung zu erwarten sind. In den automatisierten Fahrzeitberechnungen schneiden deshalb periphere Verbindungen schlecht ab und werden daher entweder gar nicht angeboten oder mit zu langer Fahrzeit. Umgekehrt werden die Radwegeverbindungen entlang von größeren Straßen systematisch bevorzugt, da hier häufig benutzungspflichtige Radwege vorhanden sind, die von den Routing-Algorithmen stark positiv gewichtet und zudem günstiger in Bezug auf die mögliche Fahrgeschwindigkeit bewertet werden. Eigene Streckenbefahrungen zeigen, dass die angegebenen Fahrzeiten nur mit hohem physischem oder/ und E-Fahrradeinsatz zu schaffen sind. Offenkundig werden die zahlreichen Hindernisse entlang der Hauptstraßen (siehe Teil 1) nicht adäquat berücksichtigt. Während in diesem Punkt die Betreiber der Navigationssysteme zur Überprüfung und Korrektur der unterstellten Fahrzeitwerte aufgefordert sind, widmet sich das Lüneburger Projekt der Datenbasis, d. h. der Erfassung von Daten zu den Radschönrouten in der OpenStreetMap. Dazu erfolgt zunächst im Feld eine Erhebung zu den Eigenschaften der einzelnen Streckenabschnitte, die dann mit dem Datenbestand in der OSM-Datenbank abgeglichen werden. So werden unter anderem Angaben zur Wegeart und -breite, Belagsart und -zustand sowie zur Beleuchtungssituation ergänzt, sofern die Daten noch nicht vorhanden sind oder einer Aktualisierung bedürfen. Auch die Charakterisierung als Weg in landschaftlich oder baulich schöner Umgebung gehört dazu. Schließlich werden verkehrsrechtliche Anordnungen und physisch bremsende bzw. die Durchfahrt beeinträchtigende Hindernisse (beispielsweise Umlaufsperren, zu enge Steckpfosten, Treppen, ggf. mit Angaben zur maximalen Durchfahrtsbreite) aufgenommen. Aus Letzteren ergibt sich ein Teufelskreis, den es zu durchbrechen gilt: Wenn Einbahnstraßen, Zufahrtsverbote, Abbiegegebote, Nur- Gehwege und Barrieren der Fahrradfahrt im Wege stehen, resultieren daraus in den Navigationsalgorithmen Umwege, die notgedrungen zur Prädisposition einer (vermeintlich) friktionsärmeren Führung entlang von Hauptverkehrsstraßen führen müssen. Digitale Netztransparenz setzt deshalb eine flächendeckende, „analoge“ Netzdurchlässigkeit zwingend voraus, ohne die eine elektronische Navigation keine optimalen Routenempfehlungen geben kann. Auch die analoge Wegweisung via Schilder und Karten wird keine Radschönroute ausweisen, die nicht ordnungsrechtlich durchgehend befahrbar ist. Gleichzeitig kann jedoch auch das beste Navigationssystem nur dann eine korrekte Route ausweisen, wenn die hinterlegten Daten aktuell und korrekt sind. Gerade in Bezug auf die genannten Hindernisse ist es darum von großer Bedeutung, die Datenbasis selbst einer ständigen Überprüfung zu unterziehen und z. B. in Gegenrichtung für den Radverkehr freigegebene Einbahnstraßen auch in der OSM als solche kenntlich zu machen. Hier leistet das Projekt der Autoren einen entscheidenden Beitrag für den Raum Lüneburg, werden die Daten doch von zahlreichen beteiligten Studierenden und unter engem Einbezug der lokalen OSM-Community regelmäßig auf den neuesten Stand gebracht. Elektronische Navigation kann angesichts der vorhandenen Nutzungspräferenzen (Tabelle 2) den Radverkehr erleichtern sowie zum Umstieg vom Auto animieren. Die hierfür erforderliche Barrierefreiheit ist ebenso eine kommunale Aufgabe wie die analoge Wegweisung über Richtungs-/ Entfernungsbeschilderungen und Radstadtpläne/ -karten. Bessere Hintergrunddaten in OpenStreetMap setzen jedoch eine derart umfangreiche Recherche und Dateneingabe voraus, dass kommunale Verkehrsplanungsabteilungen dies nicht leisten können - schließlich verfügen nicht alle Kommunen über die Möglichkeit, Studierende für diese Aufgabe gewinnen zu können. Ziel des Lüneburger Projektes wird es deshalb sein, einen auf andere Kommunen und Regionen übertragbaren Erfassungsbogen und eine Eingabehilfe zu erstellen, mit der möglichst selbsterklärend viele Akteure dezentral für ihre Region Daten (nicht nur, aber gern primär von Radschönrouten) erfassen können. Zu denken wäre dabei an Mitglieder verkehrspolitisch aktiver Verbände und Arbeitsgemeinschaften von Schulen. Zusätzlich müssen App-Betreiber die unterstellten Geschwindigkeitsparameter in Richtung größerer Realitätsnähe überarbeiten. Die Resultate eigener Reisezeitexperimente in Lüneburg, Hamburg und Göttingen [11] könnten hierzu dienlich sein, sind aber ausbaubedürftig, weil die Fahrgeschwindigkeiten von Radfahrern mit den lokalen Bedingungen erheblich variieren. Schließlich sollte die App-Navigation für Radler genauso komfortabel werden wie eingangs für den Autoverkehr angesprochen, sie sollten die zeitlich günstigste, die (kilo-)metrisch kürzeste und eine landschaftlich attraktive Strecke anbieten, wobei im Radverkehr der Idealfall, dass diese drei Parameter zusammenfallen, gar nicht so selten ist. Methodische Gewichtungen umkehren Wie gezeigt ist die Diskrepanz zwischen der bisherigen Form der Radverkehrsförderung und den Belangen des realen Radverkehrs groß. Nicht dauerhaft effiziente politischplanerische Perspektiven (Baupolitik, Fördermittelorientierung), nicht optimaler Mitteleinsatz (Vernachlässigung der Fläche) und nicht behobene Defizite einer früheren Verkehrsplanung mit der Folge vieler verbliebener Radlerhindernisse wurden bereits im Teil 1 dieses Beitrages genannt. Ein weiteres, mit einer RVF 3.0 inkompatibles Element bilden die bei der Radverkehrsplanung angewendeten Erhebungsmethoden. Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 18 INFRASTRUKTUR Radverkehr Schlaglichtartig zeigen das die Erfahrungen mit der Auftragsvergabe für ein Radverkehrskonzept des Landkreises Lüneburg an ein Planungsbüro. Die Bearbeitung im Laufe des Jahres 2019 orientierte sich vor allem an den Berufspendlerströmen und blendete dabei sowohl die Distanzbegrenztheit des Alltagsradverkehrs als auch andere Verkehrszwecke weitgehend aus. In der Folge lokalisierte man Radverkehrsrouten ausschließlich an Radwegen entlang hoch KFZ-belasteter Straßen, meist als Kreis-, Landes- oder Bundesstraßen klassifiziert - quasi ein Wiederaufleben des unzureichenden städtischen Radcityroutenkonzeptes aus den 1990er Jahren in nun vergrößertem Planungsraum. Selbst das Novum eines „Fahrradringes“ um Lüneburg verläuft ausschließlich an solch klassifizierten Straßen, obwohl es dafür viele andere, attraktivere Optionen gegeben hätte. Der ausgewiesene Fahrradring taugt realiter weder in der Funktion seiner Bezeichnung noch für ansprechende Querverbindungen zwischen den Radialrouten, vielmehr ergäbe er eine sinnvolle Umleitungskonzeption für den Autoverkehr im Falle einer Vollsperrung der Lüneburger Ostumfahrung. Die Konzeptionierung attraktiver Radrouten muss hingegen von anderen Parametern ausgehen und sollte eher versuchen, Streckenqualitäten zu entdecken und zu nutzen, wie sie für touristische Radroutenführungen, etwa entlang vieler Flusslagen, üblich sind: Orte verbindend, gute Wegequalitäten bei fehlender oder sehr geringer KFZ-Frequentierung, attraktives Umfeld. Im Fall des Landkreises Lüneburg war eigentlich die Berücksichtigung des Fahrradfreizeitverkehrs im Auftrag enthalten, das Ergebnis spricht dem Hohn. Mehr Erfolg hätte eine Verfahrensweise geliefert, die den Freizeitverkehr nicht als (verzichtbaren, weil schwerer erfassbaren) Rest, sondern prioritär betrachtet: Zwischen und um die Orte im Landkreis alle Verbindungen identifizieren, die für den Radverkehr taugen (nicht zu reliefiert, hinreichend befahrbare sowie ausreichend breite Wege) und vom Umfeld her möglichst angenehm sind. Im sich dabei ergebenden dichten Netz kann man dann die Nahraumwege für Versorgung und distanziell fahrradrelevante Pendlerrelationen herausarbeiten. Radwege an Autostrecken wären, wenn sie sich entfernungstechnisch anbieten, dann nur noch abschnittweise ergänzend hinzunehmen, sie würden nicht mehr das grundlegende oder gar alleinige Element bilden. Eine derartige Streckenanalyse gelingt natürlich nur, wenn Radstrecken von Gutachtern konsequent erradelt und nicht mit dem Auto abgefahren werden. Das letztgenannte, immer wieder übliche Vorgehen müsste im Zuge einer Auftragsvergabe ausgeschlossen werden. Insgesamt muss RVF 3.0 mit einer Quasiumkehr der Gewichtungsparameter bei den Analysemethoden einhergehen (Bild 4). Während in der KFZ-Planung Zählungen und Messungen von Verkehrsströmen sowie Umlegungsberechnungen eine sehr große Bedeutung zukommt, ist dies im Bereich Radverkehr nahezu irrelevant, weil der vorhandene Verkehrsraum (derzeit) kaum Radlerstaus provoziert. Für den Radverkehr wären hingegen flächige Befahrungen (mit dem Fahrrad) und die qualitative Streckenaufnahme in Protokollen (mit besonderer Fokussierung auf Mängel) von aussagekräftigster Relevanz - was übrigens auch für eine Fußgängerplanung gelten würde, also für den nichtmotorisierten Verkehrsanteil generalisierbar ist. Unfalldaten sind aufgrund ihrer Häufigkeit im KFZ-Bereich bereits Gegenstand der kommunalen Unfallkommissionen und führen, von dort angestoßen, zu verkehrlichen Änderungen. Solche Daten können für den Radverkehr vereinzelt nützlich sein, aber sie bilden nur sehr eingeschränkt die Unfallgefahren für diesen ab, diese äußern sich eher in Risiken, Beinaheunfällen und nicht polizeilich erfassten Stürzen/ Kollisionen. Befragungen können deshalb in diesem Aspekt gewinnbringender sein, nützen aber wenig, wenn sie - wie im Lüneburger Fall - im Wesentlichen nur allgemeine Einschätzungen erheben, die nur Stimmungen widerspiegeln, aber nicht systematisch und als Hauptzweck konkrete Problempunkte und Veränderungsvorschläge generieren. Da helfen dann auch hohe Rücklaufzahlen nicht weiter, eine weitaus geringere Zahl an qualitativen Interviews verspräche eher Gewinn. Dass es jedoch auch eine sehr gute quantitative Erhebungsform gibt, zeigt die hessische Internetmeldeplattform [12], in der Mängel textlich beschrieben, fotografisch hinterlegt und kartografisch exakt verortet werden können. Sind auf diese Weise handlungsrelevante Informationen gewonnen, müssen sich die Akteure nur noch um die gemeldeten Schwächen und Risiken kümmern. Zusammengefasst: Das Erreichen eines qualitativ neuen, höheren Levels der Radverkehrsförderung setzt auch eine grundlegend andere Planungsmethodik als die derzeit übliche voraus und im Zusammenhang mit den Ausführungen in Teil 1 wider Bündelungsprinzip und Wunschliniennetzplanung sowie pro flächendeckender Analysen ergibt sich daraus die Forderung nach einer zumindest teilweisen Neujustierung in der verkehrsplanerischen Ausbildung. Kommunikation, Moderation, Werbung Im Kontext dieser Forderung steht, dass in der Radverkehrsförderung das Set kommunikativer Methoden viel intensiver genutzt werden sollte - was wiederum einer systematischen Integration in die Ausbildung bedarf. Für Radverkehr muss geworben werden, das heißt die Produktion geeigneter Werbemittel sollte von planerischer Seite zumindest angestoßen und kompetent begleitet werden können. Kompetenz im Umgang mit Presse und sozialen Medien gehört ebenso zum erforderlichen Wirkspektrum von Radverkehrsplanern wie die Leitung (und konstruktive Nutzung) von Bürgerbeteiligungen oder Austauschprozessen mit Verbänden. Die Realität ist hingegen eher geprägt durch „hard policy“-Lastigkeit - Planen am PC und Bauen nach ERA reichen aber für eine nutzergerechte Radverkehrsstrategie nicht mehr aus, diese fordert Öffentlichkeitswirksamkeit und Partizipation. Präferenz für Anteil Relevanz für „Radschönrouten“ Route durch Parks und auf ruhigen Nebenstraßen Route mit glatter Oberfläche durch Parks und auf ruhigen Nebenstraßen 12 % 18 % Sehr hoch; „Komfort-affine“ Schnellste Route Route, die Hauptverkehrsstraßen ohne Radinfrastruktur meidet Route mit glatter Oberfläche sowie Vermeidung von Hauptverkehrsstraßen ohne Radinfrastruktur 36 % 6 % 25 % Hoch, bei Wahrung des Primärmotivs schneller Zielerreichung Route auf Hauptverkehrsstraßen ungeachtet von Radinfrastruktur 3 % Keine; Bevorzugung von „Autostrecken“ Tabelle 2: Routenpräferenzen in der Fahrradnavigation (n = 461.170, 1-Jahres-Abfrage aus dem Datensatz eines Berliner Fahrradnavigationsanbieters) Quelle: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (Hrsg.): Hardinghaus, M.; Cyganski, R. Attraktive Radinfrastruktur. Routenpräferenzen von Radfahrenden. Berlin 2019. S. 21; letzte Spalte ergänzt. Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 19 Radverkehr INFRASTRUKTUR Es wird daher Zeit, „soft policy“-Komponenten in die planerische Ausbildung zu integrieren, allein schon aus Effizienzgesichtspunkten: Sollen verkehrliche Maßnahmen die Radverkehrsgunst erhöhen, dann muss man dies in Medien (auch sozialen Medien) kundtun und darf nicht unnötig viel Zeit verstreichen lassen bis Verkehrsteilnehmer das irgendwann von selbst merken - was wiederum umso länger dauert, je „autoaffiner“ das Nutzerverhalten ist - tu Gutes und rede darüber! Wie weiter mit dem Radwegebau? Die bisherigen Ausführungen können den Eindruck einer kompletten Abkehraufforderung von bisherigen Formen der Radverkehrsplanung aufkommen lassen. Bei aller Kritik an der Konzentration von Mitteleinsatz und planerischer Aufmerksamkeit auf Radweganlagen entlang klassifizierter Straßen wird diesem Anteil in Bau (vor allem für Lückenschlüsse) und Sanierung jedoch weiterhin eine Bedeutung zugemessen. Dies ergibt sich bereits aus dem Umstand, dass an diesen Straßen Menschen wohnen und diverse Einrichtungen als Zielorte auch des Radverkehrs ihren Standort haben. Es sind zudem vor allem straßenbegleitende Radwege, die nachts beleuchtet und im Winter geräumt/ gestreut werden können, die nach starken Niederschlägen vielleicht Pfützen aufweisen, aber nicht durchweicht sind wie Nebenwege mit wassergebundener Decke. Deshalb geht es nicht um Abkehr, sondern um Weiterentwicklung, es geht nicht um Revolution, sondern um Evolution. Neben der Blickerweiterung auf die Fläche muss dabei aber auch Augenmaß für Nutzerbelange „auf der Linie“ eingefordert werden, ganz besonders bei der neuesten, von der Bundesebene angestoßenen Initiative des Baues von Radschnellwegen. Flexibilität für lokale Anpassungen So begrüßenswert die Fixierung hochqualitativer Ausstattungskriterien für schnellen Radverkehr ist, etwa hinsichtlich der Wegbreiten, der Beleuchtung und der direkten Linienführung, so besteht doch die Gefahr, damit Vorgaben festzuschreiben, die den regionalen Erfordernissen nicht entsprechen und für lokale Gegebenheiten überdimensioniert sind. Die niederländischen Velorouten wurden flexibler und mit weit weniger Mindestauflagen gebaut, sind aber dennoch hoch komfortabel und nutzerfreundlich. Wenn Empfehlungen und Richtlinien zum Ausschlusskriterium mit Quasi-Gesetzesrang werden, geht die gerade im Radverkehr dringend nötige Flexibilität für lokale Anpassungen verloren. Das Dilemma sei aber nicht verschwiegen: Die Planungshistorie zeigt, dass in Deutschland für Radverkehrsanlagen Mindestwerte (vor allem bezüglich der Wegbreite) zu Regelwerten mutieren. Vielleicht ist die Bindung der Unterschreitung von empfohlenen Regelvorgaben an beschreibungspflichtige und der rechtlichen Überprüfbarkeit zugängliche Ausnahmeumstände ein Weg, um die nötige und sinnvolle planerische Variationsbreite zu erreichen. Routenkonzeption So anerkennenswert die Planung von Fahrradlangstrecken ist, begrenzte Geschwindigkeit und der nötige Einsatz von Körperkraft wird die Masse des Alltagsradverkehrs auch weiterhin im Kurz- und Mittelstreckenbereich fixieren. Eigene Verkehrsmittelwahlerhebungen zeigten deutliche Distanzschwellen für die Radnutzung bei 5 bis 6 km im Ausbildungs- und Berufsverkehr sowie 2 bis 3 km bei Strecken für kleine Einkäufe und Besorgungen; für Großeinkäufe liegt die akzeptierte Distanz bei 1 bis 2 km [13] und ist zusätzlich vom möglichen Gepäckvolumen der individuellen Ausstattung mit Gepäckträgertaschen/ -körben oder Fahrradanhänger abhängig. Die neueren MID-Untersuchungen deuten in dieselbe Richtung [14], erst die E-Fahrräder versprechen eine erhebliche Vergrößerung der Aktionsräume. Nach den eigenen Reisezeitexperimenten zu urteilen, beträgt der Zuwachs an Durchschnittsgeschwindigkeit bei Pedelecs im städtischen Umfeld zwar nur 3,5 bis 5 km/ h, aber das reicht, um den reisezeittechnischen Vorteil gegenüber dem Auto im Stadtverkehr mehr als zu verdoppeln [15]. Deshalb ist auch bei den genannten Aktionsradien von einer Verdoppelung auszugehen. Jedoch liegen die von einer Mehrheit der Radler akzeptierten Entfernungen dann immer noch weit unter den Distanzen, für die Radschnellwege geplant werden. Die logische Konsequenz wäre daher, die Routenkonzeption weniger an Direktverbindungen zwischen großen und mittelgroßen Städten zu orientieren als vielmehr maßvolle Abweichungen von der direkten Achsenlinie in Kauf zu nehmen, wenn dadurch mehr Siedlungen als Quell- und Zielorte eingebunden werden können. Planungsgrundlage Schließlich ist in regionalen Diskussionen zu beobachten, dass sich in der gewohnten, aber hier kritisierten Weise erneut Streckenführungen entlang von Hauptverkehrsstraßen, darunter auch hoch frequentierte Bundesstraßen, herauskristallisieren. Leichtere Flächenverfügbarkeit und -gestaltbarkeit ist hierfür das Hauptmotiv. Dies wird den Nutzungsbelangen des Radverkehrs definitiv nicht gerecht. Auf kürzeren Teilstrecken mögen zugunsten eines schnelleren Vorankommens die Lärm- und Abgasbelastung toleriert werden, aber gerade ein Angebot, das zum Radeln auf längeren Strecken Anlass geben will, ist mit der Nachbarschaft stark befahrener KFZ-Straßen selbst bei kreuzungsfreier Wegeführung unvereinbar. Das lehren auch Berichte über „Intensivradler“, die sich nicht scheuen, im Alltagsverkehr Einzelstrecken von über 20 km (und dann später am Tag auch zurück) zu bewältigen. Sie suchen sich gezielt ruhige Wegstrecken, ebenso wie Radtouristen sie für ihre Tagesetappen bevorzugen. Radstreckenplanung gelingt besser, wenn man den Freizeitverkehr nicht als nebenher abzuhandelnde Residualgröße betrachtet, sondern die dort gewünschten Qualitäten zur Planungsgrundlage von Alltagsrouten nimmt. Radverkehr ist gegenüber dem Auto auf Kurzstrecken von 3 bis 4 km schon heute hoch konkurrenzfähig, mit elektrischer Trittunterstützung gilt das auch für den Bild 4: Erhebungsmethodische Gewichtungen in der Verkehrsplanung Methodik MIV-Planung: (Erforderliche) Methodik NMIV-Planung: Verkehrszählungen, EDVgestützte Umlegungsberechnungen, Parkraumerfassung Flächendeckende Sichtanalysen per Befahrung / Begehung Unfalldatenanalyse Befragungen, Expertengespräche Interviews, Befragungen, Unfalldatenanalyse Punktuelle Begehungen Verkehrszählungen Fahrradparkraumerfassung Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 20 INFRASTRUKTUR Radverkehr Mitteldistanzbereich bis 10 km. Darüber hinaus sollte man im Alltagsbereich besser nicht mit Radfahrermassen rechnen, lediglich bei Freizeitradtouren und Sportradlern sind noch längere Wege häufig. Für Beruf, Ausbildung und Versorgung sind jedoch Distanzen von mehr als 10 km eher ein Fall für die Multimodalität mit dem ÖPNV, vor allem dem SPNV. Hierfür ist das Fahrrad ein sehr leistungsfähiges Zuwegungs- und Anschlussverkehrsmittel. Sowohl für monomodalen Radverkehr im flächigen Kurz-/ Mittelstreckenbereich als auch für Transportketten im Stadtregionsverkehr sind Radschnellwege als Langstreckenoptionen eigentlich nur bedingt passfähig. Der Hype um diese Innovation birgt deshalb das Risiko, dass die Elementarbelange von Radlern im flächigen Verkehr unterer Distanzbereiche weiterhin vernachlässigt werden. Was RVF 3.0 nicht (allein) kann Verkehrsmittelwahlanteile vom Auto auf Verkehrsmittel des Umweltverbundes zu verschieben ist das Ziel nachhaltiger Verkehrspolitik. Ein neues Level in der Radverkehrsförderung wird dafür seinen Beitrag leisten können. Aber Verkehrsmittelwahl ist zu einem erheblichen Anteil gewohnheitsbestimmtes Verhalten [16]. Für alltägliche Wege wird nicht ständig eine rationale Abwägung von Vor-/ Nachteilskriterien vorgenommen. Und ist erst einmal die Autonutzung habitualisiert, werden Verbesserungen im Radverkehr gar nicht mehr wahrgenommen oder als minder relevant eingeschätzt. Verkehrsmittelwahlbeeinflussung funktioniert deshalb eigentlich besser durch Anstöße als durch Anreize, auch wenn die Kombination von push & pull sicherlich das Optimum darstellt und zudem akzeptanzsteigernd wirkt. Dennoch ist Verkehrsberuhigungspolitik bereits alleinstehend eine äußerst probate Form indirekter Radverkehrsförderung. Sie kann durch Senkung der KFZ-Geschwindigkeit Unfallgefahren mindern und die relative Reisezeitgunst des Fahrrads verbessern, schafft in einigen Fällen mehr Verkehrsraum für Nichtmotorisierte und wirkt als Nachdenkanstoß zur Infragestellung von Verkehrsroutinen. Es war in Lüneburg nicht die (viel zu zaghafte) Radverkehrsförderung, die 1993/ 94 einen Erdrutsch im Modal Split zugunsten des Fahrrades auslöste, sondern die Umsetzung des autoarmen Stadtzentrums [17]. Heute könnten Einbahnstraßenregelungen auf parallelen, innerstädtischen Hauptverkehrsstraßenabschnitten in Lüneburg dazu dienen, den Autoverkehr umständlicher (aber nicht weniger flüssig) zu gestalten und damit die Fahrradnutzung zweckmäßiger erscheinen zu lassen, vor allem aber dringend benötigte Fläche für Bus- und Radverkehr zu gewinnen. In autoaffineren Verkehrsstrukturen, etwa Hamburgs, wäre für dasselbe Ziel vorrangig an die Reduzierung der Fahrspurzahlen für den Autoverkehr auf den Hauptmagistralen zu denken. In allen Städten wäre es an der Zeit, über Bannmeilen um Schulen die zum Teil chaotischen Verhältnisse durch Elterntaxis zu Unterrichtsbeginn und -ende zu ordnen oder für neue Wohngebiete nur noch das zentrale Quartiersparken vorzusehen. Letzteres bedeutet: Nur Ausnahme-KFZ-Zufahrt auf überbreiten Geh-/ Radwegen vor die Haustür zum Halten (Be-/ Entladen), längeres Abstellen des Fahrzeuges hingegen in zentralen Anlagen, vorzugsweise in Form raumsparend doppelstöckiger Parkdecks mit E-Anschluss zum Aufladen für jeden Stellplatz sowie optional gemeinschaftlichen Lagerräumen und integriertem Carsharingangebot. Bereits ein um lediglich eine Minute verlängerter Fußweg (= 80 bis 85 m) vor dem Einstieg ins Auto oder nach dem Aussteigen zum Zielort beeinflusst die Reisezeitrelationen nennenswert, wodurch insbesondere der Radverkehr als Alternative spürbar an Attraktivität gewinnt. Fazit Die Maxime, Radverkehrsplanung zu betreiben, um Wege frei zu machen für Autoverkehr (RVF 1.0), ist überwunden. Dennoch ist die heutige Stellung des Fahrrades (RVF 2.0) immer noch stark defizitär. Zwar haben sich die Ziele als Teil einer Umweltverbundförderung für nachhaltige Verkehrsentwicklung deutlich verändert, aber die Methoden und Inhalte in den Bereichen Finanzförderung, Planung, Erhebungen und Ausbildung haben sich diesen neuen Zielsetzungen nur unzureichend angepasst. RVF 3.0 setzt auf flächige Herangehensweisen statt Linearität, auf Beseitigung von Barrieren und Verbesserungen im Mikrobereich statt einseitige Fixierung auf große und teure Bauvorhaben, auf Schaffung analoger und digitaler Netztransparenz für die Mental Maps statt Kanalisierung, auf Erhebungsformen zur Ermittlung originärer Radverkehrseignungen auch bei vermeintlichen Kleinigkeiten statt Fahrradplanung aus der Windschutzscheibenperspektive, auf Medien- und Moderationskompetenz für Information und Werbung statt Planung abseits einer als störend empfundenen Öffentlichkeit sowie auf ein Begreifen der Radnutzer als aussagekräftige Informationsquellen und mögliche aktive Planungspartner statt Objekte, deren Verhalten es möglichst regelkonform zu gestalten gilt. Für das Erreichen eines solchen Levels benötigen wir Strukturreformen in der verkehrsplanerischen Ausbildung, im Leistungsprofil von Planungsbüros, in den Inhalten kommunaler Verkehrspläne/ Radverkehrskonzeptionen sowie in der Fördermittelpolitik von Bund und Ländern. Radverkehr kann dann über seine heutige quantitative Bedeutung erheblich hinauswachsen und, ähnlich wie in den Niederlanden und Dänemark, zu einer tragenden Säule nachhaltigen Verkehrs in Stadtregionen werden. ■ QUELLEN [8] www.openstreetmap.org/ copyright/ de, abgerufen 10.12.2019 [9] https: / / wiki.openstreetmap.org/ wiki/ DE: Statistik, abgerufen 10.12.2019 [10] https: / / osmstats.neis-one.org/ ? item=countries&date=1-11-2019, abgerufen 10.12.2019 [11] Pez, P. (2017): Reisezeitexperimente als Forschungs- und Evaluierungsinstrument - Ergebnisse aus Feldstudien in Lüneburg, Hamburg und Göttingen. In: Wilde, M.; Gather, M.; Neiberger, C.; Scheiner, J. (Hrsg.): Verkehr und Mobilität zwischen Alltagspraxis und Planungstheorie. Ökologische und soziale Perspektiven. Studien zur Mobilitäts- und Verkehrsforschung. Wiesbaden. S. 99-112 [12] www.meldeplattform-radverkehr.de [13] Pez, P. (1998): Verkehrsmittelwahl im Stadtbereich und ihre Beeinflußbarkeit. Eine verkehrsgeographische Analyse am Beispiel von Kiel und Lüneburg. Kieler Geographische Schriften 95. Kiel; hier. S. 174-176 [14] Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (Hrsg.) 2019: Mobilität in Deutschland - MiD. Analysen zum Radverkehr und Fußverkehr. S. 2, Bonn [15] Pez, P. (2017): a. a. O., S. 105 [16] Pez, P. (1998): a. a. O., S. 188-192 [17] Pez, P. (2000): Verkehrsberuhigung in Stadtzentren. Ihre Auswirkungen auf Ökonomie, Politik, Mobilität, Ökologie und Verkehrssicherheit - unter besonderer Berücksichtigung des Fallbeispiels Lüneburg. Archiv für Kommunalwissenschaften 39 (1), S. 117-145; hier: S. 137-138 TEIL 1 DES BEITRAGS: Pez, P.; Seidel, A. (2020): Radverkehrsförderung 3.0. Barrierefrei, netztransparent, digital - konzeptionelle Folgerungen aus 30 Jahren Beobachtungen und Forschung (nicht nur) in der Region Lüneburg - Teil 1. In: Internationales Verkehrswesen (72) Heft 3, S. 20-23 _______________ Radverkehrsförderung 3.0 soll in Stadt und Landkreis Lüneburg in den nächsten Jahren im Rahmen des Modellvorhabens Rad mit Mitteln des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur realisiert werden. Peter Pez, Apl. Prof. Dr. Institut für Stadt- und Kulturraumforschung, Leuphana Universität Lüneburg pez@uni.leuphana.de Antje Seidel, Dr. Institut für Ethik und Transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung, Leuphana Universität Lüneburg antje.seidel@uni.leuphana.de