Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2020-0082
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Auswirkungen von Erreichbarkeitsdefiziten auf das Freizeitverhalten Jugendlicher
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Alexander Bradtke
Für Planungen ist es wichtig zu wissen, wo sich Jugendliche vermehrt in ihrer Freizeit aufhalten, wie sie die Erreichbarkeit und die Einrichtungen bewerten und was sie dementsprechend ändern würden. Über 350 Jugendliche im Alter von 16 bis 19 Jahren wurden sowohl online als auch offline an Schulen befragt. Es zeigen sich dabei deutliche Unterschiede in Bezug auf Freizeitverfügbarkeit und Zufriedenheit im Zusammenhang mit dem ÖPNV. Unterschiede bestehen bei Jugendlichen, die zentral leben und die peripher wohnen, sowie altersgruppenspezifisch. Beispielsweise ist die Zufriedenheit mit der Anbindung des zu Hauses an den ÖPNV oder die Verfügbarkeit von Freizeit je nach Jugendlichem sehr verschieden.
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Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 34 Auswirkungen von Erreichbarkeitsdefiziten auf das Freizeitverhalten Jugendlicher Ergebnisse einer Online- und Offline-Befragung in der Region Göttingen Freizeitverhalten, Erreichbarkeiten, Ländlicher Raum, Beteiligung, Jugendliche Für Planungen ist es wichtig zu wissen, wo sich Jugendliche vermehrt in ihrer Freizeit aufhalten, wie sie die Erreichbarkeit und die Einrichtungen bewerten und was sie dementsprechend ändern würden. Über 350 Jugendliche im Alter von 16 bis 19 Jahren wurden sowohl online als auch offline an Schulen befragt. Es zeigen sich dabei deutliche Unterschiede in Bezug auf Freizeitverfügbarkeit und Zufriedenheit im Zusammenhang mit dem ÖPNV. Unterschiede bestehen bei Jugendlichen, die zentral leben und die peripher wohnen, sowie altersgruppenspezifisch. Beispielsweise ist die Zufriedenheit mit der Anbindung des zu Hauses an den ÖPNV oder die Verfügbarkeit von Freizeit je nach Jugendlichem sehr verschieden. Alexandra Bradtke D ie Erreichbarkeit von Einrichtungen der Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen stellt vor allem weniger mobile Menschen, besonders jene, die nicht selbstständig motorisiert sind, vor Herausforderungen, wenn es darum geht, Alltag und Freizeit zu gestalten ([1] S. 18). Zu diesen Personengruppen zählen bspw. Kinder und Jugendliche, welche im Stadium des Heranwachsens vermehrt das Bedürfnis haben, ihren Bewegungsradius zu erweitern (vgl. [2] S. 32). Vornehmlich dann, wenn der ÖPNV keine Alternative zur Überwindung von räumlichen Distanzen bietet, zu kostspielig für Jugendliche ist und auch Fahrradfahren kaum Potenzial aufgrund weiträumiger Entfernungen, fehlender Radwege oder topogra- Foto: Andreas Hermsdorf/ pixelio MOBILITÄT Ländlicher Raum Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 35 Ländlicher Raum MOBILITÄT phischer Gegebenheiten aufweist, sind sie abhängig von Personen in ihrem Umfeld, die einen PKW zur Verfügung haben (vgl. [3] S. 1). Jugendliche sind eine heterogene Gruppe, ihre Wünsche und Bedürfnisse im Rahmen von Beteiligung zu erfassen, ist äußerst schwierig und die Tatsache, dass sie schnell aus der Zielgruppe Jugendliche herauswachsen, erschwert zudem Beteiligungsprozesse. Es ist kaum bekannt, wie und wo sich Jugendliche in der Fokusregion fortbewegen, wie sie die Erreichbarkeit der öffentlichen Freizeitorte bewerten und was sie diesbezüglich ändern würden. Das war u. a. ein Grund, weswegen eine Beteiligung von Jugendlichen zwischen 16 und 19 Jahren in der Region Göttingen durchgeführt wurde. Ausgewählte Ergebnisse werden im Rahmen dieses Beitrags erläutert. Der Auftrag zu dieser Forschung entstammt dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsprojekt UrbanRural Solutions, aus dem Programm: „Innovationsgruppen für ein Nachhaltiges Landmanagement“ (04/ 2015-03/ 2019). Zielsetzung und Forschungsfrage Dieser Artikel verfolgt das Ziel, aufzuzeigen, wie es um die aktuelle Erreichbarkeitssituation der Jugendlichen in Göttingen steht. Es wurde analysiert, wie Jugendliche sich in ihrer Freizeit fortbewegen und ob bzw. wie stark sie in den ländlichen Räumen Göttingens eingeschränkt sind. Zudem wird erläutert, was Jugendliche aus der Region als Lösungsmaßnahmen für bestehende Probleme vorschlagen. Jugendliche werden als die mobilsten und aktivsten Nutzer der Stadt bezeichnet (vgl. [4] S. 32). Mit zunehmendem Alter legen sie in ihrer Freizeit längere Strecken zurück, während die Verkehrsmittelwahl gleichzeitig differenzierter wird (vgl. [5]). Mobilität bedeutet für Jugendliche, Schule bzw. Ausbildungsplatz, Hobbies oder Freunde erreichen zu können und stellt gleichzeitig eine Loslösung von den Eltern dar (vgl.-[6]). In der Region Göttingen zeigt sich, dass es an einigen Orten entweder zu wenige Jugendliche in den Gemeinden gibt, die öffentliche Freizeiteinrichtungen nutzen, während es andernorts genügend Jugendliche gibt, die die Einrichtungen nutzen könnten, dies aber nicht tun. Sowohl dem Landkreis Göttingen als auch der Stadt Göttingen sind die geringen Auslastungen der Jugendhäuser bekannt, Ursachen dafür jedoch unklar. Mittels Beteiligung sollten Informationen zusammengetragen werden, die Rückschlüsse auf die (Un-) Zufriedenheit der Jugendlichen in Bezug auf ihre Freizeitorte und deren Erreichbarkeit zulassen. Ebenso ist kaum geläufig, womit die Jugendlichen, vor allem am Wochenende, ihre Freizeit verbringen, wie sie dort hingelangen und inwiefern sie in ihrem Freizeitverhalten durch Erreichbarkeitsdefizite eingeschränkt werden. Es ging bei der Beteiligung nicht nur darum, Informationen von den Jugendlichen zu erhalten. Vielmehr hatten sie selbst die Chance, Ideen für Problemlösungen zu unterbreiten und auszuarbeiten. Diese wurden relevanten Akteuren vorgetragen und teilweise in öffentliche Planungen einbezogen. Exkurs: Erreichbarkeit, Mobilität und Freizeit Erreichbarkeit meint die subjektiv durch Verkehrsteilnehmende empfundene Erreichbarkeit, „welche ein bestimmter (Teilnehmende) in Abhängigkeit vom umgebenden Raum- und Verkehrssystem und unter Beachtung der eingeschränkten Informationsmenge und des einschränkenden Wert- und Zielsystems des Verkehrsteilnehmers bietet“ ([7] S. 36). Potenzielle Mobilität ist die allgemeine oder mögliche Beweglichkeit von Personen. Realisierte Mobilität ist die realisierte Beweglichkeit als Befriedigung von Bedürfnissen durch Raumveränderung. Dazu gehören alle Bewegungen, die außerhalb der Wohnung stattfinden, wie zu Fuß gehen oder Radfahren und die Nutzung von Verkehrsmitteln (vgl. [8] S. 255). Freizeit kann als die Zeit verstanden werden, die der individuellen Gestaltung offen steht oder als Restgröße. Das ist jene Zeit, die von der insgesamt verfügbaren Zeit übrig bleibt. Von der Schulbzw. Arbeitszeit, Zeit zum Schlafen, Essen und für Körperpflege, wird somit Zeit abgezogen (vgl. [9] S. 168). In diesem Fall wird unter Freizeit jene Zeit verstanden, die nicht für schulische Aktivitäten inklusive Fahrtwege, Hausaufgabenmachen oder AGs verwendet wird. Jugendliche sind Minderjährige zwischen 14 und 18 Jahren. Diejenigen, die unter 14 Jahre alt sind, werden als Kind bezeichnet, die darüber sind volljährig und somit erwachsen (vgl. [10]). Aufgrund der Tatsache, dass die Über 14-Jährigen größere Bewegungsradien aufweisen als jüngere, sind sie eine interessante Zielgruppe für die Mobilitätsforschung (vgl. [11] S. 1221). Mit steigender Motorisierung wachsen die Mobilitätsmöglichkeiten der Jugendlichen (vgl. [12]). Die EU-Datenschutzgrundverordnung von 2018 enthält in Art. 8 erstmals eine ausdrückliche gesetzliche Regelung in Bezug auf die Einwilligung von Kindern und Jugendlichen (vgl. [13]). Da sich die Verordnung u. a. auf die Gruppe der 14bis 16-Jährigen bezieht, hat sie Einfluss auf das Mitwirken der Jugendlichen im Rahmen dieser Beteiligung. Um dem Datenschutz bzgl. der Online-Plattform gerecht zu werden, blieb nur die Möglichkeit, Jugendliche ab dem 16. Lebensjahr zu befragen. Die Altersobergrenze bildeten die 18bzw. 19-Jährigen, da zum Zeitpunkt der Befragung die meisten Abiturienten bereits die Gymnasien verlassen hatten bzw. wegen den Abiturprüfungen zeitlich kaum zu erreichen waren. Das Untersuchungsdesign und die Fokusregion Online- und Offline-Beteiligungsformate sind fortwährend als Kombination anzuwenden, denn nicht jedes Format spricht jeden Jugendlichen an (vgl. [14]). Die Beteiligung erfolgte dementsprechend in mehreren Formaten, die zeitlich teilweise parallel verliefen: • Eine Online-Befragung mittels einer regionsweiten Online-Plattform (u. a. zur Datenerhebung; 12/ 2017 bis 10/ 2018) • Eine Offline-Befragung mit Papierfragebogen von Schülern an weiterführenden Foto: Holzijue/ pixabay Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 36 MOBILITÄT Ländlicher Raum Schulen in Göttingen, ebenfalls zur Datenerhebung (04/ und 06/ 2018) • Drei lokale Workshops mit einer kleinen Gruppe von Jugendlichen (12/ 2017, 02/ 2018 und 04/ 2018). Lösungen für ihre Freizeit- und Erreichbarkeitsprobleme- entwickeln und mit Experten diskutieren. Der Landkreis Göttingen wird als „städtischer Kreis“ bzw. als „Region mit Verstädterungsansätzen“ klassifiziert ([15] S. 10). In der Region Göttingen befinden sich jedoch zahlreiche, ländlich gelegene Räume, die teilweise eine große Entfernung zum nächsten Mittelzentrum haben, eine sehr hügelige Topografie mit Erhebungen (bspw. 865,1 m ü. NHN) und Defizite in der Daseinsvorsorge und Erreichbarkeiten aufweisen (vgl. [16]). Entfernungen zahlreicher Orte in der Region zum Zentrum Göttingens sind per Rad oder zu Fuß kaum zu überwinden und können daher für Vor-Ort-Veranstaltungen in Göttingen problematisch für nicht individualmotorisierte Menschen sein. Daher war die Region besonders interessant für die Beteiligung der Jugendlichen. Die Befragung Die Bearbeitung des Fragebogens dauerte online und offline zwischen 25 und 45 Minuten. Neben überwiegend geschlossenen gab es auch offene Fragen, bei denen manche Schüler sich länger, andere kürzer fassten oder Fragen gar nicht beantworteten. Themenschwerpunkte des Fragebogens bildeten die Kategorien in Tabelle 1. Vorteil einer Online-Plattform ist, dass sich die Beteiligten jederzeit beteiligen können - hier jedoch nur in dem Fall, dass sie angemeldet sind - und das mittels PC, Tablet, Laptop oder Smartphone, da auf Kompatibilität geachtet wurde. Um auf die Beteiligung und die Online-Plattform aufmerksam zu machen, wurden u. a. Informationsposter und 11.762 Postkarten an über 20 weiterführenden Schulen verteilt, die mit einem Link und einem QR-Code versehen waren, welche die Jugendlichen direkt auf die Plattform verwiesen. 161 Jugendliche registrierten sich auf der Plattform und waren im Durchschnitt 7,17 Minuten auf der Seite. Insgesamt hat es 625 Seitenbesuche gegeben, was zeigt, dass die angemeldeten Jugendlichen tatsächlich wiederholt die Plattform aufsuchten. Auf Anfrage vieler Göttinger Schulen sagten drei Direktoren ihre Unterstützung bei der Offline-Befragung an ihrer weiterführenden Schule zu. Als erstes wurde ein Gymnasium befragt, gefolgt von einem weiteren Gymnasium sowie einer Gesamtschule. Für die Befragung war aufgrund der Abiturprüfungen nur ein enger Zeitraum vorgesehen und für viele Schulen gab es keine Möglichkeit, an der Befragung teilzunehmen. Zu den 279 pseudonymisierten Offline-Fragebögen der Befragung in der Schule, kamen die ebenfalls pseudonymisierten 39 Fragebögen von der Online-Plattform, für die Gesamtauswertung hinzu. Die Workshops Die Workshops fanden an verschiedenen Orten in der Region statt und wurden vormittags durchgeführt, wofür die Schüler vom Unterricht freigestellt wurden. Jugendpfleger holten die Jugendlichen, die keine andere Möglichkeit hatte, den Beteiligungsort zu erreichen, mit dem PKW ab und brachten sie später wieder zurück. An den drei durchgeführten Workshops nahmen Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren teil; beim ersten Workshop sieben Jugendliche beim zweiten 19 und beim dritten zwölf. Ergebnisauswertung Aus Online-Plattform und Offline-Befragung resultierten insgesamt 318 Fragebögen. Von den befragten Jugendlichen waren 49 % weiblich, 49 % männlich und durchschnittlich 16,6 Jahre alt. 2 % machten keine Angaben. Um Aussagen über Erreichbarkeiten zu treffen, ist es wichtig zu ermitteln, wo Jugendliche, die die Göttinger Schulen besuchen, wohnen, was Tabelle 2 aufzeigt. Aus den angegebenen Orten wurden Entfernungen in Kilometern nach Luftlinie und Fahrweg vom Mittelpunkt des Ortes zum Hauptbahnhof als zentralen Punkt von Göttingen berechnet. Diese Angaben helfen kenntlich zu machen, welche Orte zu den Peripheren und welche zu den Zentralen gehören und wie weit die Jugendlichen Distanzen zurücklegen müssen, um ins Zentrum der Region zu gelangen. Mobilität und Erreichbarkeit auf dem Schul- und Heimweg Bild 1 zeigt Unterschiede in der Wahl der Verkehrsmittel zum Schulort, je nachdem ob Schüler zentral oder peripher wohnen. 63 % der peripher Wohnenden kommen mit dem ÖPNV zur Schule, gefolgt von multimodalen Varianten der Fortbewegung (25 %), wie bspw. Radfahren in Kombination mit ÖPNV-Nutzung oder die Verbindung aus PKW und ÖPNV. Die Schüler, die zentral wohnen, gelangen zu 35 % multimodal zur Schule, 29 % kommen mit dem Rad oder zu Fuß. 25 % der Schüler nutzen den ÖPNV und 12 % erreichen als PKW-Selbstfahrer oder Mitfahrer die Schule (siehe Bild 1). Da Schüler, vor allem in Ganztagsschulen, viel Zeit am Tag in der Schule verbringen, ist es für sie wichtig, wenig Freizeit durch Reisezeiten zu verlieren. Der Weg zur Schule nimmt vornehmlich für Schüler, die peripher Ort Luftlinie Fahrstrecke Raumkategorie BBSR Anzahl Schüler Adelebsen 13,5 22 peripher 11 Bovenden 6 8,5 zentral 37 Dransfeld 12,5 15,5 zentral 11 Ebergötzen 12,5 15 peripher 4 Friedland 12,5 15 zentral 2 Gieboldehausen 21 25 peripher 2 Gleichen 14,5 17,5 zentral 3 Göttingen - zentral 164 Hardegsen 15 20,5 peripher 3 Nörten-Hardenberg 11 13,5 zentral 1 Rosdorf 4,5 7 zentral 1 Tabelle 2: Distanzen nach Göttingen in km; Angaben absolut; n = 252 Quelle: Eigene Darstellung nach eigener Erhebung Verkehrsverhalten Persönliche Einstellungen, Empfinden von Erreichbarkeiten, Fragen zum ÖPNV, Fahrrad, PKW und zum (Frei-)Zeitbudget Analyse der mobilen Internetnutzung Informationen zur Onlineaffinität und zur Internetnutzung mittels Smartphone in der Freizeit Statistische Angaben Erfragung von soziodemografischen Faktoren Deine Orte in Göttingen Informationen zu und Bewertung von städtischen Jugendeinrichtungen, Unterbreitung von Verbesserungsvorschlägen sowie Auskunft über das Freizeitverhalten Tabelle 1: Themenschwerpunkte des Fragebogens Quelle: Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 37 Ländlicher Raum MOBILITÄT wohnen, viel Zeit in Anspruch. Die Schulwegezeiten schwanken von einer bis rund 70 Minuten pro Strecke, wobei es über die 70 Minuten hinaus einzelne Ausreißer gibt. 37 % der Jugendlichen fahren zwischen 10 und 20 Minuten zur Schule. Im Durchschnitt sind die Schüler 25 Minuten zur Schule bzw. von der Schule nach Hause unterwegs. Ein kleiner Teil benötigt deutlich länger: 10 % brauchen 30 Minuten, 4 % 50 und rund 4 % 60 Minuten pro Weg. Vor allem die Jugendlichen mit einem Schülerticket für den ÖPNV haben längere Reisezeiten zur Schule bzw. nach Hause (siehe Bild-2). Viele Jugendliche, die den ÖPNV nutzen, sind morgens weit vor Unterrichtsbeginn in der Schule, andere oftmals zu spät, denn die Buspläne sind nicht auf die Unterrichtszeiten abgestimmt (vgl. [17]). Ein weiteres Problem besteht im Fahrpreis bzw. der Ticketnutzung. Jugendlichen, die ein Schülerticket haben, können damit auch ihre privaten Fahrten auf der Strecke zwischen Schule und Wohnort durchführen. Liegen ihre Freizeitorte nicht auf der Strecke von der Schule zum Wohnort, nützt ihnen das Schülerticket in der Freizeit nichts, denn es gilt nur für Orte entlang des Schulweges. Mobilität und Erreichbarkeit in der Freizeit Da die Nutzung des ÖPNV für junge Menschen verhältnismäßig kostspielig ist, ist es interessant zu erfahren, wie viele Jugendliche ein Schülerticket besitzen, welches (beschränkt) in der Freizeit genutzt werden kann. Es stellte sich heraus, dass es mehr Schüler gibt, die kein Schülerticket zur Verfügung haben (200 Schüler, also rund 64 %), als Schüler, die eines besitzen (102, also rund 33 %). Gespräche bei den Workshops zeigten, dass die Jugendlichen die Nutzung des ÖPNVs in Göttingen vielfach als zu kostspielig bewerten. Für einige Schüler kostet eine Busfahrt von ihrer Gemeinde nach Göttingen rund 6,50 EUR pro Fahrt. 21 % der Jugendlichen haben zwischen 21 und 40 EUR im Monat zur Verfügung, 17 % haben maximal 60 EUR. Es bleibt je nach persönlichen Ausgaben wenig Geld für ÖPNV-Nutzungen übrig. Da Kindertarife für Einzel-, Vierer- und Monatstickets nur bis einschließlich dem 14. Lebensjahr gelten, müssen Jugendliche ab 15 Jahren bereits Erwachsenentarife bezahlen. Es gibt zwar Wochen- und Monatskarten im Göttinger Ausbildungsverkehr, der in regionale Bereiche außerhalb der Stadt Göttingens gilt, die die älteren Jugendlichen einschließen. Sie werden im Ausbildungsverkehr an Schüler, Studenten und Auszubildende ausgegeben. Allerdings kosten sie rund 13 EUR (Wochenkarte) bzw. 40 EUR (Monatskarte), was einem großen Teil des Budgets vieler befragter Jugendlicher entspricht (vgl. [18]). Auf die Altersverteilung betrachtet zeigt sich, dass es zwischen den Altersgruppen kaum Unterschiede bzgl. der Zeit für Freizeitaktivitäten gibt. Etwa 42 % aller Jugendlichen zwischen 15 und 19 Jahren verfügen über drei Stunden Freizeit pro Tag und nur rund 2 % haben weniger als eine Stunde. Was besonders interessant ist, ist die Tatsache, dass vor allem Jugendliche, die peripher wohnen, deutlich weniger Freizeit am Tag zur Verfügung haben als jene, die zentral wohnen. Sie haben vor allem längere Fahrzeiten von der Schule nach Hause, da sie nach dem Unterricht oftmals auf den Bus warten müssen oder weil beim Umsteigen keine angepassten Verbindungen vorhanden sind (siehe Bild 3). Das nimmt u. a. Zeit, die für ihre persönliche Gestaltung zur Verfügung steht. In ländlichen Regionen Göttingens ist die Taktung am Wochenende vielerorts sehr unpassend, vornehmlich, wenn Schüler Verkehrsmittel oder Buslinien wechseln müssen und in wenigen Orten fährt einmal Bild 1: Verkehrsmittelwahl zum Schulort; N zentral= 231; N peripher= 24 Quelle: Eigene Darstellung nach eigener Erhebung Bild 2: Wegedauer zur Schule nach Schülerticketverfügbarkeit; N= 374 Quelle: Eigene Darstellung nach eigener Erhebung Bild 3: Freizeit pro Tag nach Lage; N= 274 Quelle: Eigene Darstellung nach eigener Erhebung Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 38 MOBILITÄT Ländlicher Raum pro Stunde ein Nachtbus. Daher sollte herausgefunden werden, ob es Aktivitäten gibt, welche die Jugendlichen aufgrund der Verbindung mit dem ÖPNV nicht durchführen können. 67,2 % gaben an, dass sie keine Aktivitäten hätten, die sie nicht machen könnten, für 30,9 % gibt es diesbezüglich Probleme, bei Freizeitaktivitäten das Eltern-Taxi nutzen oder Freunde mit PKW-Führerschein haben. 1,9 % der Jugendlichen machten keine Angaben. Ergänzend ist es interessant zu erfahren, wie viele Kilometer die Jugendlichen in ihrer Freizeit zurücklegen. Die Gruppe der 17bis 19-Jährigen legt deutlich größerer Strecken zurück als Jüngere (siehe Bild 4). Dies hat zum einen mit der einsetzenden Motorisierung, zum anderen mit den erweiterten Bewegungsradien und dem höheren monatlichen Budget zu tun. Die Jüngeren können, vor allem dann nicht so weite Distanzen zurücklegen, wenn sie kein Schülerticket für den ÖPNV haben und das reguläre Ticket zu kostspielig ist. 95 % der 15bis 16-Jährigen planen einen PKW-Führerscheinerwerb, 2 % besitzen einen, 3 % wollen erst mal keinen Führerschein machen. Bei den 17bis 19-Jährigen haben 14 % einen PKW-Führerschein, 56 % planen den Erwerb. Auffallend ist, dass 30 % aller Befragten keinen PKW besitzen bzw. keinen Erwerb planen. Gründe dafür sind zum einen die Kosten eines Führerscheins und eines PKW, aber auch die Zufriedenheit der öffentlichen Verkehrsmittel in der Stadt Göttingen und die Nutzung des Fahrrads. Göttingen bezeichnet sich selbst als Studenten- und Fahrradstadt mit einem gut ausgebauten Radwegenetz und zahlreichen Stellplätzen. 29 % der Einwohner nutzen regelmäßig das Fahrrad als Fortbewegungsmittel Aber das gilt nicht für das Umland und die Verbindung ländlicher Räume mit dem Zentrum. Die Topografie des Harzes, lange Distanzen und fehlende Radwege erschweren in einigen Räumen des Umlands das Radfahren. Wünsche der Jugendlichen in ihrer Freizeit Bei den Workshops arbeiteten die Jugendlichen die drei Ideen mit einem Konzept und dem Bau eines Prototypen aus, was Bild 5 zeigt. Die Jugendlichen diskutierten ihre Ideen mit Experten auf ihre Umsetzbarkeit und überarbeiteten sie daraufhin. Es zeigten sich besonders Wünsche nach einem englischsprachigen Kino in einer Gemeinde im direkten Umland, Änderung der Buszeiten und der Tarife sowie eine offizielle Fahrradstrecke für Mountainbikes. Die Gruppe „Buszeiten“ erarbeitete einen Vorschlag für eine neue Tarifstruktur im VSN-Gebiet und reichte ihn dem Zweckverband Südniedersachsen ein, der diesen Vorschlag für sein neues Tarifgutachten im Sommer 2019 mit einbezog. Die Gruppe „Offizielle Fahrradstrecke“ verfolgte ihr Konzept und fand Unterstützung beim Ortsbürgermeister sowie dem Betreuer der neu gegründeten Mountainbike-Schul-AG. Letztlich gibt es beim „Projekt Kino“ in Osterode einen Stillstand, da die Jugendlichen aufgrund der schulischen Belastung keine Zeit für das Projekt hatten. Bild 5: Prototypen und Konzepte Quelle: Eigene Fotos Tarifzone Kilometerdistanz bei kürzester Route Einzelfahrt Monatskarte 1 - von Dorf zu Dorf 0-8 km, bspw. Dransfeld-Scheden, Dransfeld-Güntersen 2,50 € 50 € 2 - Göttinger Umland 8-20 km, bspw. Dransfeld/ Adelebsen/ Güntersen/ Scheden - Göttingen, Dransfeld - Hann. Münden 3,50 € 50 € 3 - Überland Nah 20-30 km, bspw. Hann. Münden - Göttingen, Duderstadt - Göttingen 8 € 80 € 4 - Überland Fern Über 30 km, bspw. Dransfeld- Duderstadt, Göttingen-Kassel 12 € (max.) 80 € (max.) Bild 4: Wegelängen in der Freizeit (Angaben in km) N= 322 Quelle: Eigene Darstellung nach eigener Erhebung Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 39 Ländlicher Raum MOBILITÄT Fazit und Ausblick Die Jugendlichen, die außerhalb der Stadt Göttingen wohnen, sind mit der Erreichbarkeit ihrer Freizeitziele unzufrieden, wenn sie auf den ÖPNV angewiesen sind. Fehlende bzw. schlechte Busverbindungen am Abend und an den Wochenenden sowie zeitliche Unzuverlässigkeit des ÖPNVs, erschweren die Gestaltung der Freizeit und das Treffen mit Freunden, die außerhalb der eigenen Wohngemeinde leben. Das führt dazu, dass knapp ein Drittel der Befragten Freizeitaktivitäten nicht ausführen kann, weil sie mit dem ÖPNV abends nicht mehr nach Hause kommen. Auch an Wochenenden sind die Jugendlichen in ihrer Freizeit eingeschränkt und können mit dem ÖPNV viele Freizeitorte nicht aufsuchen. Um das Problem zu umgehen, nutzen einige Jugendliche, die diese Option haben, das Eltern-Taxi oder haben Geschwister bzw. Freunde, die einen PKW-Führerschein besitzen und einen PKW zur Verfügung haben. Die Dauer des Schulbzw. Nachhauseweges nimmt vielen Jugendlichen einen großen Teil ihrer Freizeit. Zwar ist ein Großteil der Schüler, die an der Befragung teilnahmen, aus der Stadt Göttingen, die kaum Defizite im Bereich des ÖPNVs innerhalb der Stadt aufweist. Doch diese können vielfach nur schwierig ihre Freunde im ländlichen Umland erreichen, wenn sie auf den ÖPNV angewiesen sind. Wo adäquate Busverbindungen vorhanden sind, sind vor allem die Preise ein stark einschränkendes Kriterium. Wenige Jugendliche können in ihrer Freizeit ihr Schulticket nutzen, um ihre Freizeitaktivitäten damit zu erreichen. Rund 17 % bewerten ihre Anbindung von Zuhause mit dem ÖPNV an ihre Ziele und an die Schule als schlecht bis sehr schlecht. Ein Umstieg auf das Rad ist aufgrund der Topografie Göttingens, fehlender Radwege und großer räumlicher Distanzen nur in unbeträchtlichen Fällen eine Lösung. Mögliche Lösungsmaßnahmen, um die Erreichbarkeitssituation der Jugendlichen zu verbessern, sind zum einen Fahrgemeinschaften, die bspw. durch die Schule oder eine digitale Plattform organisiert werden. So finden sich Jugendliche einer Gemeinde und der gleichen Schule, auch wenn sie verschiedene Klassen besuchen und sich nicht kennen. Mitfahrmöglichkeiten oder flexible Rufbus-Systeme zu initialisieren, die über Apps geordert werden können, sind ebenso sinnvoll. Eine an die Unterrichtszeiten angepasste Taktung und Linienführung des Busnetzes an das Umland sowie zeitlich längere Nutzungsmöglichkeiten am Wochenende und in den Abendstunden, sind ebenfalls ein guter Lösungsansatz. Eine schülergerechte Tarifgestaltung muss für sämtliche Tarifverbände geprüft werden, was eine gemeinsame Arbeit der Zweckverbände erfordert. Ein erster Ansatz erfolgte mit den Jugendlichen bei der Beteiligung. Der Bedarf bzw. die Nachfrage an Fahrgästen ist eindeutig gegeben, denn die Busse sind derzeit zu Stoßzeiten teilweise überfüllt. Der Zweckverband Südniedersachsen muss Auslastungszahlen, Linienführungen sowie Tarifsysteme kontrollieren und ggfs. auf die Bedürfnisse der Schüler anpassen, ohne andere Fahrgastgruppen damit zu beeinträchtigen. Finanzielle Förderungen für Schüler sind ein wesentliches Element zur Verbesserung von Erreichbarkeiten. Schulbustickets müssen gemeindeübergreifend auch in der Freizeit nutzbar sein. Alternativ können Studententickets, die für ganz Niedersachsen gelten, auf Schüler und Auszubildende ausgeweitet werden. Das Hessenticket etwa, das 356 Tage im Jahr freie Fahrt für einen Euro pro Tag ermöglicht [19], wäre eine sehr gute Maßnahme, die sich auf die Region Göttingen oder ganz Niedersachsen übertragen ließe. ■ LITERATUR [1] Küpper, P.; Steinrück, B. 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Junge Impulse für die Stadtentwicklung; Ein Projekt im Forschungsprogramm „Experimenteller Wohnungs- und Städtebau“ (ExWoSt) des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) und des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung (BBR); Hannover [5] Verkehrswacht (o. A.): Jugendliche und Mobilität (Sek. I); www. verkehrswacht-medien-service.de/ jugendliche-und-mobilitaet. html (Abruf: 05.10.2020) [6] Gastel, M. (2016): Wie ticken Jugendliche in Sachen Mobilität? www. matthias-gastel.de/ wie-ticken-jugendliche-in-sachen-mobilitaet (Abruf: 28.03.2019) [7] Gerike, R. (2005): Wie kann das Leitbild nachhaltiger Verkehrsentwicklung konkretisiert werden? Ableitung grundlegender Aufgabenbereiche; Dissertation, Technische Universität Dresden, Fakultät Verkehrswissenschaften, Dresden [8] Mollenkopf, H. (2002): Mobilität und Lebensqualität im Alter - Objektive Voraussetzungen und subjektive Bedeutung in der mobilen Gesellschaft. In: Glatzer W., Habich R., Mayer K.U. (Hrsg.) 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