Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2020-0083
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Mobilität in ländlichen Räumen
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Claudia Nobis
Melanie Herget
Ländliche Räume sind geprägt durch weite Distanzen, ein eingeschränktes öffentliches Verkehrsangebot und autoverhaftete Alltagsroutinen. Doch gerade dort könnten Einspar- und Verlagerungseffekte im PKW-Verkehr hohe Wirkung entfalten. Was also tun? Dieser Frage wird auf Basis der „Mobilität in Deutschland“-Daten nachgegangen, und es werden Maßnahmen diskutiert, die gleichermaßen zur Verkehrswende und zur Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im ländlichen Raum beitragen können.
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Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 40 MOBILITÄT Wissenschaft Mobilität in ländlichen Räumen Betrachtungen aus Sicht der Verkehrswende und der Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen Verkehrsverhalten, Verkehrswende, Ländlich, Lebensverhältnisse, Gleichwertigkeit Ländliche Räume sind geprägt durch weite Distanzen, ein eingeschränktes öffentliches Verkehrsangebot und autoverhaftete Alltagsroutinen. Doch gerade dort könnten Einspar- und Verlagerungseffekte im PKW-Verkehr hohe Wirkung entfalten. Was also tun? Dieser Frage wird auf Basis der „Mobilität in Deutschland“-Daten nachgegangen, und es werden Maßnahmen diskutiert, die gleichermaßen zur Verkehrswende und zur Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im ländlichen Raum beitragen können. Claudia Nobis, Melanie Herget D ie Verkehrsleistung ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen. Dabei gilt: Je disperser die Siedlungsstruktur, desto größer der tägliche Aktionsradius und die Anzahl der Kilometer mit dem motorisierten Individualverkehr (MIV) [1]. Die Klimaschutzziele im Verkehr zu erreichen (Verkehrswende), ist im ländlichen Raum daher eine besondere Herausforderung. Allein mit technischen Maßnahmen ist es dabei nicht getan, auch Veränderungen im Verhalten und im politisch-rechtlichen Rahmen sind notwendig [2]. Gleichwertige Lebensverhältnisse und Verkehrswende „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ - das war von jeher ein recht unbestimmtes Leitbild [3]. Jedenfalls geht es nicht um „Gleichheit“, sondern um „faire“, „angemessene“ Grundvoraussetzungen, die eine „zu starke“ Spaltung der Gesellschaft verhindern. Die Grundidee ist, dass alle, unabhängig von ihrem Wohnort, faire Teilhabe-Chancen für ihre Lebensgestaltung haben. In ländlichen Räumen bedeutet dies vor allem, dass auch Menschen ohne eigenen PKW in der Lage sind, ihre alltäglichen Bedürfnisse zu erfüllen. An dieser Stelle überschneidet sich der Diskurs der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse mit der Verkehrswendedebatte. Im Folgenden wird die Mobilität im ländlichen Raum beschrieben, und es werden Maßnahmen vorgestellt, die sowohl zum Klimaschutz als auch zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse beitragen können. Datengrundlage und Vorgehen Grundlage der Analysen sind die Daten der Studie „Mobilität in Deutschland“ (MiD) 2017 und der zugehörige Zeitreihendatensatz. Es werden die Entwicklung und der aktuelle Stand der Verkehrsnachfrage dargestellt. Für die räumliche Differenzierung der Ergebnisse wird die vom Verkehrsministerium und vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) entwickelte regionalstatistische Raumtypologie (RegioStaR) verwendet; bei dieser erfolgt anhand von siedlungsstrukturellen Merkmalen zunächst eine grobe Einteilung der Gemeindeverbände in Stadtregion und ländliche Region. Bei der hier genutzten 7er-Einteilung gliedert sich die Stadtregion in vier Unterkategorien (Metropole, Regiopole/ Großstadt, Mittelstadt/ städtischer Raum sowie kleinstädtischer, dörflicher Raum), die ländliche Region in drei Unterkategorien (zentrale Stadt, Mittelstadt/ städtischer Raum und kleinstädtischer, dörflicher Raum). Im Folgenden werden zur Verdeutlichung die beiden Extreme gegenübergestellt: die Metropolen und der kleinstädtische, dörfliche Raum der ländlichen Region. Dabei wurde darauf geachtet, dass die anhand der Extreme dargestellte Aussage jeweils auch unter Berücksichtigung aller Raumkategorien zutrifft. Vereinfachend ist im Folgenden von Metropolen und ländlichem Raum die Rede. Ungebrochenes Verkehrswachstum Die Diskussion von Klimazielen konnte an der Verkehrsentwicklung bislang nichts ändern: Der Verkehr wächst. Von 2002 bis 2017 hat die Verkehrsleistung um 18 % zugenommen, und zwar trotz sinkender Wegeanzahl. Das Leben der Menschen ist entfernungsintensiver geworden. Dabei handelt es sich um ein raumübergreifendes Phänomen, das im urbanen Raum stärker ausgeprägt ist als im ländlichen. Der Anstieg der Bevölkerung in den Metropolen erklärt das Verkehrswachstum nur zum Teil. Während die Bevölkerung in den Metropolen von 2002 bis 2017 um 10 % zugenommen hat, war ein Anstieg der Verkehrsleistung von 40 % zu verzeichnen. Im ländlichen Raum stieg die Verkehrsleistung um 13 %, trotz einer 5-%-igen Bevölkerungsabnahme [4]. In 2017 wurden im ländlichen Raum im Durchschnitt 569 Mio. Personenkilometer (Pkm) pro Tag zurückge- Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 41 Wissenschaft MOBILITÄT legt, 153 Mio. mehr als in 2002. Von dieser Zunahme entfallen mit 137 Mio. Pkm 89 % auf den MIV. In den Metropolen wurden in 2017 im Durchschnitt 558 Mio. Pkm pro Tag zurückgelegt, eine Zunahme von 212 Mio. Pkm. Mit 106 Mio. Pkm geht die Hälfte davon auf das Konto des MIV. Das heißt: Aufgrund des hohen Ausgangsniveaus des MIV im ländlichen Raum nehmen die mit dem PKW zurückgelegten Kilometer dort mehr zu als in den Metropolen, trotz geringeren Anstiegs der Verkehrsleistung. Zunahme von PKW-Bestand, PKW-Verfügbarkeit und Tagesstrecken Wesentlicher Treiber dieser Entwicklung ist die kontinuierliche Zunahme des PKW-Bestands in Deutschland. Innerhalb der letzten zehn Jahre ist dieser um sechs Millionen Fahrzeuge auf 48 Mio. zu Beginn des Jahres 2020 angestiegen [5], auch wenn Studien einen Einstellungswandel gegenüber dem PKW belegen [6]. In Bild 1 ist die PKW-Verfügbarkeit nach Raum dargestellt. Diese leitet sich ab aus dem Führerscheinbesitz und der Möglichkeit, auf einen PKW im Haushalt zuzugreifen. Die geringste PKW-Verfügbarkeit besteht bei Personen ohne Führschein, die höchste bei Personen mit Führerschein, die einen im Haushalt vorhandenen PKW mit keinem anderen Haushaltsmitglied teilen müssen. Sowohl in den Metropolen als auch im ländlichen Raum hat der Anteil der Personen ohne Führerschein abgenommen. Grund hierfür ist der steigende Anteil älterer Menschen mit Führerschein; vor allem ältere Frauen sind heute häufiger im Besitz einer Fahrerlaubnis als früher. Dieser Trend wird in den nächsten Jahren anhalten. Da sich die Bevölkerung im ländlichen Raum aus mehr alten Menschen zusammensetzt, ist die Entwicklung dort besonders ausgeprägt. In den Metropolen hat die Abnahme von Personen ohne Führerschein dazu geführt, dass es mehr Personen mit Führerschein, aber ohne PKW im Haushalt gibt. Die Anteile der anderen beiden Gruppen (Personen mit geteiltem und mit eigenem PKW) änderten sich nur geringfügig. Im ländlichen Raum ist dies anders: Im betrachteten Zeitraum ist die Gruppe der Personen, die ohne Absprache mit anderen Haushaltsmitgliedern auf einen PKW zugreifen können, um 17 Prozentpunkte angestiegen. Rund die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung im ländlichen Raum verfügt heute über einen eigenen PKW. Personen mit Führerschein und ohne PKW im Haushalt gibt es im ländlichen Raum fast gar nicht. Die Folgen der Verschiebung zugunsten eines eigenen PKW verdeutlicht Bild 2: Die Tagesstrecke und der Anteil des MIV variieren erheblich in Abhängigkeit von der PKW-Verfügbarkeit. Dies ist heute nicht anders als vor 15 Jahren. Da im ländlichen Raum immer mehr Menschen in die Kategorie der Personen mit eigenem PKW und einer entsprechend hohen Tagesstrecke fallen, steigt die Gesamtverkehrsleistung zwangsläufig. Ein Großteil der Zunahme der Verkehrsleistung im ländlichen Raum und der steigenden Anzahl an MIV-Kilometern ist auf diesen Umstand zurückzuführen. Auffällig ist die Gruppe der Personen mit Führerschein, aber ohne PKW im Haushalt: Im ländlichen Raum weist diese - wie in Bild 1 dargestellt nur sehr kleine - Gruppe eine weitaus geringere Tagesstrecke auf als die vergleichbare Gruppe in Metropolen. Zwar unterscheidet sich die Soziodemographie dieser Gruppe deutlich in Abhängigkeit vom Wohnort (siehe unten); die Tatsache, dass Personen ohne PKW im Haushalt im ländlichen Raum einen großen Teil der durchschnittlichen Tagesstrecke als Fahrerin oder Fahrer eines PKW zurücklegen, weist jedoch auch klar auf eine Einschränkung des Aktionsradius mangels Alternativen zum eigenen PKW hin. Personen aus autofreien Haushalten Mobilität ohne eigenes Auto ist vor allem eine städtische Lebensweise. Im ländlichen Raum steht nur 10 % der Haushalte kein eigener PKW zur Verfügung; aufgrund der geringen Größe dieser Haushalte sind dies nur 5 % der Bevölkerung. In Metropolen sind dagegen 42 % der Haushalte nicht im Besitz eines PKW, fast ein Drittel der Bevölkerung lebt dort autofrei. Die Gruppe der Menschen ohne eigenes Auto ist in Stadt und Land sehr verschieden. In den Metropolen handelt es sich vor allem um junge Personen: 39 % gehören der Altersgruppe der 20bis 39-Jährigen an. Auf dem Land sind dagegen 54 % dieser Gruppe 60 Jahre und älter, und 22 % gehören zur Altersgruppe „80 plus“. Bei den Autofreien auf dem Land handelt es sich vor allem um 20 13 25 19 19 9 6 9 16 22 3 2 43 38 38 35 47 39 30 39 22 25 32 49 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% 2002 2017 2002 2017 2002 2017 Gesamt Metropolen Ländlicher Raum* Kein Führerschein Führerschein, kein Pkw im Haushalt Pkw mit anderen Erwachsenen im Haushalt geteilt Eigener Pkw * Basis: 7er-Einteilung der regionalstatistischen Raumtypologie (RegioStaR); ländlicher Raum = kleinstädtischer, dörflicher Raum innerhalb der ländlichen Regionen Quelle: Eigene Berechnung, MiD 2002 und MiD 2017, Personen ab 18 Jahren Bild 1: Entwicklung der PKW-Verfügbarkeit nach Raumtyp 2 3 2 6 9 5 2 6 7 5 5 2 4 6 14 23 31 37 46 9 6 12 3 6 2 4 2 3 10 5 2 5 2 0 10 20 30 40 50 60 70 Metropolen Ländlicher Raum* Metropolen Ländlicher Raum* Metropolen Ländlicher Raum* Metropolen Ländlicher Raum* Kein Führerschein Führerschein, kein Pkw im Haushalt Pkw mit anderen Erwachsenen im Haushalt geteilt Eigener Pkw zu Fuß Rad MIV Mitfahrer MIV Fahrer ÖPNV ÖPFV 22 37 23 43 45 53 58 22 * Basis: 7er-Einteilung der regionalstatistischen Raumtypologie ( RegioStaR); ländlicher Raum = kleinstädtischer, dörflicher Raum innerhalb der ländlichen Regionen Quelle: Eigene Berechnung, MiD 2017, Personen ab 18 Jahren Bild 2: Tagesstrecke nach PKW-Verfügbarkeit und Raumtyp Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 42 MOBILITÄT Wissenschaft ältere Frauen in Rente, mit niedrigem ökonomischem Status und ohne Führerschein, die überdurchschnittlich oft das Haus nicht verlassen haben. In der Stadt ist die Gruppe der Autofreien hingegen meist jung, berufstätig und mobil. Gestalten die autofreien Städter ihre Mobilität multimodal und nutzen im Alltag das breite Spektrum der Verkehrsmittel, ist die Mobilität auf dem Land selbst ohne eigenes Auto auf dieses ausgerichtet. 62 % der Autofreien auf dem Land nutzen im Verlauf einer typischen Woche von den drei Verkehrsmitteln Auto, Fahrrad und öffentlicher Verkehr (ÖV) allein das Auto; in den Metropolen trifft dies nur auf 2 % der Autofreien zu. Das bedeutet: Personen ohne Auto stellen im ländlichen Raum eine Randgruppe im Sinne der Daseinsvorsorge dar. Diese gilt es angesichts der Zunahme von Führerschein- und PKW-Besitz vor allem bei der Gruppe älterer Frauen nicht aus dem Blick zu verlieren. Eingeschränktes Einsatzspektrum des ÖV auf-dem Land Ein Blick auf die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr verdeutlicht, warum auf dem Land auch Personen ohne PKW-Besitz ihre Mobilität auf das Auto ausrichten. Als Indikator für die Qualität des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) wird die Luftlinienentfernung der Wohnadresse zur nächsten Bushaltestelle mit mindestens 28 Abfahrten an einem Werktag zwischen 6 und 20- Uhr gewählt. Berücksichtigt werden damit nur Bushaltestellen mit einer durchschnittlichen Bedienhäufigkeit von mindestens einer Abfahrt je Richtung und Stunde [7]. Gemessen an diesem Indikator liegt bei 62 % der Menschen in Metropolen die nächste Haltestelle weniger als 250 Meter Luftliniendistanz entfernt, bei 92 % gibt es eine Bushaltestelle in unter 500 Metern. Auf dem Land können dagegen nur 19 % der Menschen eine derartige Bushaltestelle in unter 250 Meter Luftliniendistanz nutzen, bei 39 % sind es unter 500 Meter. Zwar gibt es damit auch auf dem Land gut angebundene Bushaltestellen in fußläufiger Entfernung. Im Gegensatz zu den Metropolen wird dort aber zumeist nur die hier zugrunde gelegte Bedienhäufigkeit erreicht. Das bessere ÖPNV-Angebot in den Metropolen führt dazu, dass 50 % aller Personen ab 14 Jahren mindestens einmal pro Woche mit Bus und Bahn im Nahverkehr unterwegs sind. Auf dem Land kommen nur 8 % der Personen auf diese Nutzungshäufigkeit. Werden die von der Gesamtbevölkerung mit dem ÖPNV zurückgelegten Wege betrachtet, ergibt sich in den Metropolen sowohl nach Alter als auch nach Wegezwecken differenziert ein vielfältiges Bild (Bild 3). Auf dem Land dagegen wird der ÖPNV vor allem von jungen Menschen genutzt: 54 % der ÖPNV-Wege entfällt auf Personen unter 19 Jahren (in den Metropolen: 15 %). Entsprechend hoch fällt der Anteil des Wegezwecks Ausbildung an den ÖPNV-Wegen auf dem Land aus. Während junge Menschen in der Stadt - auch nach Erreichen des Führerscheinalters - den ÖPNV für viele verschiedene Wegezwecke nutzen, gehen sie auf dem Land mit Erreichen des Führerscheinalters dem ÖPNV weitgehend als Kundengruppe verloren. Der Schulbus ist dort oft die einzige ÖPNV-Erfahrung. Entfällt dieser regelmäßige Weg, entfällt diese Nutzungsroutine. Zwar nimmt der Wegeanteil des PKW mit Erreichen des Führerscheinalters sowohl bei jungen Personen in den Metropolen als auch auf dem Land um die Hälfte zu, doch unterscheidet sich das Ausgangsniveau erheblich. Mobilität und ökonomischer Status Neben dem PKW-Besitz stellt der ökonomische Status eine zentrale Einflussgröße der Verkehrsnachfrage dar. Abgeleitet aus der Matrix aus Haushaltseinkommen und gewichteter Haushaltsgröße unterscheidet die MiD fünf Kategorien des ökonomischen Status von sehr niedrig bis sehr hoch. In den Metropolen wie im ländlichen Raum zeigt sich: Je höher der ökonomische Status, umso entfernungsintensiver ist der Alltag der Menschen. Aufgrund der insgesamt höheren Entfernungen fallen die Tagesdistanzen im ländlichen Raum zwar in jeder Kategorie des ökonomischen Status höher aus als die vergleichbare Distanz in Metropolen. Innerhalb der beiden Raumtypen sind die Unterschiede nach ökonomischem Status jedoch weitaus größer als zwischen Stadt und Land für denselben ökonomischen Status. So legen Menschen mit hohem ökonomischen Status auf dem Land durchschnittlich 58 km pro Tag zurück, Menschen in Metropolen 51 km. Beim niedrigen ökonomischen Status liegen die Werte bei 31 km pro Tag auf dem Land und 27 km in Metropolen. Auf der Suche nach Ansätzen für die Verkehrswende gilt es daher, die Entfernungsintensität von Personen mit hohem ökonomischem Status sowohl- in den Metropolen wie auf dem Land zu berücksichtigen. 16 26 24 12 10 12 49 11 20 3 9 7 5 13 11 14 25 23 4 3 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Ländlicher Raum* Metropolen Gesamt Arbeit dienstlich Ausbildung Einkauf Erledigung Freizeit Begleitung * Basis: 7er-Einteilung der regionalstatistischen Raumtypologie (RegioStaR); ländlicher Raum = kleinstädtischer, dörflicher Raum innerhalb der ländlichen Regionen Quelle: Eigene Berechnung, MiD 2017, Personen ab 0 Jahren Bild 3: Der Zweck von ÖPNV-Wegen nach Raum 72 34 13 4 2 52 24 14 5 15 26 20 12 5 3 13 13 8 4 2 3 8 11 13 13 18 26 8 12 15 18 19 18 23 7 20 31 36 46 52 47 27 49 58 67 70 73 66 4 12 24 35 33 25 7 2 4 7 7 7 6 19 5 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% unter 1 km 1 bis unter 2 km 2 bis unter 5 km 5 bis unter 10 km 10 bis unter 20 km 20 bis unter 50 km 50 km und mehr unter 1 km 1 bis unter 2 km 2 bis unter 5 km 5 bis unter 10 km 10 bis unter 20 km 20 bis unter 50 km 50 km und mehr Metropolen Ländlicher Raum* zu Fuß Fahrrad MIV (Mitfahrer) MIV (Fahrer) ÖPNV (inkl. Taxi, anderes) ÖPFV * Basis: 7er-Einteilung der regionalstatistischen Raumtypologie (RegioStaR); ländlicher Raum = kleinstädtischer, dörflicher Raum innerhalb der ländlichen Regionen Quelle: Eigene Berechnung, MiD 2017, Personen ab 0 Jahren Bild 4: Modal Split des Verkehrsaufkommens nach Distanzklassen und Raum Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 43 Wissenschaft MOBILITÄT Kurze Wege gibt es auch auf dem Land Die Wege sind auf dem Land durchschnittlich 14,4 km und in Metropolen 11,6 km lang. Der Anteil der kurzen Wege ist auf dem Land dabei nicht viel geringer als in Metropolen: 21 % aller Wege im ländlichen Raum sind kürzer als ein Kilometer, weitere 11 % liegen zwischen einem und zwei Kilometer. Die Vergleichswerte in Metropolen liegen bei 25 % (< 1 km) und 14 % (1 km bis <-2-km). Während diese kurzen Wege in Metropolen vor allem zu Fuß und mit dem Fahrrad zurückgelegt werden, liegt der Anteil des MIV im ländlichen Raum bei Wegen unter einem Kilometer bereits bei 35 %, in der Kategorie ein bis unter zwei Kilometer werden bereits mehr als die Hälfte der Wege mit dem MIV zurückgelegt. Zumindest auf kurzen Wegen ohne längere Wegeketten gibt es also Potenzial für eine Verlagerung - sofern die Strecken als sicher genug empfunden werden. Ansätze für eine klimagerechte und chancengleiche Mobilität auf dem Land Der bisherige politisch-rechtliche Rahmen hat nicht dazu geführt, das Verkehrswachstum zu bremsen. Auch das Ziel, dass zentrale Orte im ländlichen Raum auch ohne eigenen PKW mehrmals täglich und in vertretbarer Zeit erreichbar sind, wurde verfehlt. Stattdessen ist die ÖPNV-Verkehrsleistung im ländlichen Raum in den letzten Jahrzehnten drastisch zurückgegangen [8]. Für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und für das Erreichen der Klimaschutzziele ist ein attraktiver, verlässlicher ÖPNV das unverzichtbare Rückgrat. So zeigen Beispiele des Verbands deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), dass auch in ländlichen Räumen deutliche Fahrgastzuwächse erzielt werden können, z. B. durch eine Erhöhung der Fahrtendichte oder der Reisezeiten durch Schnellbuskonzepte [9]. Daneben braucht es auf dem Land Angebote wie Carsharing und Ridepooling - nicht nur, aber auch als Zubringer zum ÖV. Diese Dienste werden sich im ländlichen Raum aufgrund der geringeren Nutzerdichte nicht einfach auf dem Markt durchsetzen. Hier ist eine stärkere Co-Finanzierung durch Landesministerien, Kommunen und Unternehmen vor Ort gefragt. Auf diese Weise könnten Personen mit Führerschein, aber ohne eigenen PKW, zum Beispiel mit erneuerbar angetriebenen Elektrofahrzeugen mobil sein, und mehrfachmotorisierte Haushalte könnten auf wenig genutzte Zweit- oder Drittwagen verzichten. Mit autonom fahrenden Fahrzeugen werden die Personalkosten bei Bussen und sozialen Fahrdiensten sinken. Aus Sicht der Verkehrswende ist diese Technologie jedoch nicht schnell genug marktreif [8]. Entscheidend ist zudem die Poolingquote: Werden autonome Fahrzeuge vorwiegend individuell genutzt, führt dies lediglich dazu, dass bislang von der Autonutzung ausgeschlossene Personen (Kinder, Jugendliche, Personen ohne Führerschein) nun ebenfalls per Auto unterwegs sind. Auch die kurzen Wege im ländlichen Raum müssen stärker in den Blick genommen werden, um dort die Fahrradnutzung zu fördern. In Deutschland haben derzeit nur rund 24 % der überörtlichen Straßen einen Radweg [10]. Daneben sind auch Landwirtschaftswege oft als Fahrradstrecken geeignet. Neben einem Ausbau der Fahrradinfrastruktur sind Beteiligungsverfahren mit Viel- und Wenig-Radfahrenden wichtig, um passgenaue Maßnahmen zur Radverkehrsförderung zu entwickeln. Und damit der Anteil kurzer Wege nicht weiter sinkt, ist gerade in ländlichen Räumen eine verkehrssensible Siedlungs- und Gewerbeplanung zur Verkehrsvermeidung gefragt, ergänzt durch eine Förderung von Homeoffice und mobilen Dienstleistungen. Der so im Idealfall deutlich reduzierte MIV sollte konsequent auf umweltfreundliche Technologien umgestellt werden. Damit der MIV im Umweltverbund nur bis zum Rand der größeren Städte genutzt wird, braucht es schließlich eine gezielte Park & Ride-Planung an den Stadträndern sowie ein schlüssiges Parkraum-Management in den Innenstädten. Wichtig ist, dass verkehrlich miteinander verwobene Großstädte und Umlandkommunen eng zusammenarbeiten und gemeinsame Verkehrskonzepte entwickeln. Derart aufeinander abgestimmte Mobilitätsangebote können dann sowohl zur Verkehrswende als auch zur Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse beitragen. ■ LITERATUR [1] Nobis, C.; Kuhnimhof, T. (2018): Mobilität in Deutschland - MiD-Ergebnisbericht. Studie von infas, DLR, IVT und infas 360 im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur. Bonn, Berlin [2] Stein, A.; Frölicher, J. (2020): Verkehrswende im ländlichen Raum - Implikationen für die Erreichbarkeit. In: Herget, M.; Neumeier, S.; Osigus, T. (Hrsg.): Mobilität - Erreichbarkeit - Ländliche Räume... und die Frage nach der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Braunschweig. S. 117-120. https: / / literatur.thuenen.de/ digbib_extern/ dn062125.pdf [3] Steinführer, A.; Hundt, C.; Küpper, P.; Margarian, A.; Mehl, P. (2018): Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse - wissenschaftliche Verständnisse und Zugänge. Stellungnahme für das BMEL. Braunschweig [4] Nobis, C.; Kuhnimhof, T.; Follmer, R.; Bäumer, M. (2019): Mobilität in Deutschland - 2002 - 2008 - 2017. Ergebnisbericht. Studie von infas, DLR, IVT und infas 360 im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur (FE-Nr. 70.904/ 15). Bonn, Berlin [5] Kraftfahrt-Bundesamt (2020): Personenkraftwagen am 1. Januar 2020 nach ausgewählten Merkmalen. Flensburg [6] Kuhnimhof, T.; Nobis, C.; Hillmann, K.; Follmer, R.; Eggs, J. (2019): Veränderungen im Mobilitätsverhalten zur Förderung einer nachhaltigen Mobilität. Abschlussbericht. Studie im Auftrag des Umweltbundesamtes. FKZ 3716 58 105 0, UBA-FB 002834. Dessau-Roßlau [7] Nobis, C.; Köhler, K. (2018): Mobilität in Deutschland − MiD Nutzerhandbuch. Anhang: Dokumentation der Raumvariablen des BBSR. Studie von infas, DLR, IVT und infas 360 im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur (FE-Nr. 70.904/ 15). Bonn, Berlin [8] Weiss, C. (2020): Stand der Mobilitätswende in ländlichen Regionen. www. zukunft-mobilitaet.net/ 171427/ analyse/ laendliche-regionen-mobilitaetswende-zukunft-der-mobilitaet-auf-dem-land/ [9] VDV (2020): Gute Mobilität in ländlichen Räumen - Gemeinwohlorientierung und Lebensqualität vor Ort. www.vdv.de/ 18032020-vdv-positionspapier-gute-mobilitaet-in-laendlichen-raeumen-vdv.pdfx [10] ACE (o. J.): Daten und Fakten: Radwege an überörtlichen Straßen. Berlin. https: / / docplayer.org/ storage/ 40/ 21123840/ 1601660555/ YvTbDB7ohYqLkJJEP- CLt1Q/ 21123840.pdf Claudia Nobis, Dr. rer. nat. Gruppenleiterin „Mobilitätsverhalten“, Institut für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), Berlin claudia.nobis@dlr.de Melanie Herget, Dr.-Ing. Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Fachgebiet Verkehrsplanung und Verkehrssysteme, Universität Kassel m.herget@uni-kassel.de
