eJournals Internationales Verkehrswesen 72/4

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2020-0086
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„Die komplette Mobilitätswelt komfortabel zugänglich machen“

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Jörg Puzicha
Volker Weiß
Der gesamte öffentliche Verkehr vereint auf einer gemeinsamen Plattform – das ist die Vision von Mobility inside, einem Zusammenschluss verschiedener Verkehrsunternehmen und -verbünde. Ziel ist eine einzige App für alle Reisen mit Bus, Bahn, Rad und Auto – und das deutschlandweit. Wie entwickelt sich dieses Projekt und welche Serviceangebote können Fahrgäste nach der Pilotphase erwarten? Ein Gespräch mit den beiden Geschäftsführern der Mobility inside-Holding, Jörg Puzicha von der Rhein-Main-Verkehrsverbund Servicegesellschaft und Volker Weiß, Stadtwerke München.
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Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 53 „Die komplette Mobilitätswelt komfortabel zugänglich machen“ Der gesamte öffentliche Verkehr vereint auf einer gemeinsamen Plattform - das ist die Vision von Mobility inside, einem Zusammenschluss verschiedener Verkehrsunternehmen und -verbünde. Ziel ist eine einzige App für alle Reisen mit Bus, Bahn, Rad und Auto - und das deutschlandweit. Wie entwickelt sich dieses Projekt und welche Serviceangebote können Fahrgäste nach der Pilotphase erwarten? Ein Gespräch mit den beiden Geschäftsführern der Mobility inside-Holding, Jörg Puzicha von der Rhein-Main- Verkehrsverbund Servicegesellschaft und Volker Weiß, Stadtwerke München. Seit Dezember 2019 sind Sie beide Geschäftsführer der- Mobility inside-Gesellschaft. Wie waren die ersten Monate? Puzicha: Ich denke, wir können sehr zufrieden sein. In dem Projekt ist unglaublich Power. Alle spüren, dass sie an dem zentralen digitalen Zukunftsprojekt der Branche arbeiten. Die Gesellschaftsgründung hat uns natürlich in unserer formalen Struktur ein großes Stück nach vorne gebracht. Ich genieße diese Aufbruchstimmung einfach sehr. Weiß: Es macht unglaublich Spaß, in München weiter vor Ort Projekte zu realisieren und parallel die so wichtige Vernetzung in unserer Branche voranzubringen. Wir können hier natürlich Ingo Wortmann, Prof. Knut Ringat und Oliver Wolff nur sehr dankbar sein, die ja ganz maßgeblich im VDV das Projekt Mobility inside auf den Weg gebracht haben. Für alle, denen der Name Mobility inside noch nichts sagt: Worum geht es in dem Projekt? Weiß: Mobility inside ist die brancheneigene Vernetzungsinitiative, die den gesamten öffentlichen Nahverkehr, den Fernverkehr und weitere Mobilitätsangebote wie Bike- und Carsharing auf einer intermodalen Plattform vereint. Alle Schritte, von der Planung einer Fahrt bis zur Abrechnung, also Informieren, Buchen und Bezahlen, werden auf dieser Plattform gebündelt. Puzicha: Erstens erhalten die Kundinnen und Kunden Verbindungsvorschläge, die bei Bedarf über Bus und Bahn oder die Produkte des jeweiligen Unternehmens hinausgehen. Bei der Fahrt von München zum Frankfurter Hauptbahnhof kann ich dann wählen, ob ich lieber die U-Bahn in die Innenstadt nehme oder bei schönem Wetter ein Leihrad. Zweitens stehen den Kundinnen und Kunden Foto: Foto: Mofoni/ pixelio Interview MOBILITÄT Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 54 MOBILITÄT Interview alle Optionen offen, ohne dass sie mehrere Apps installieren oder sich mehrfach anmelden müssen. Welchen Vorteil hat Mobility inside gegenüber bestehenden Nahverkehrs-Apps? Puzicha: Aus Sicht der Nutzerinnen und Kunden ganz klar, über die Grenzen von Unternehmen hinaus ein durchgängiges Angebot zu erhalten. Ein weiterer Pluspunkt ist, dass Mobility inside die bisherigen Apps nicht ersetzt, sondern diese ergänzt. Ein Fahrgast, der die App des Verkehrsunternehmens vor Ort seit Jahren gerne nutzt, muss weder eine neue App installieren, noch sich grundlegend neu mit ihr befassen. Die Vernetzung der bestehenden App mit Mobility inside erfolgt nach außen unsichtbar - bis natürlich auf die Kleinigkeit, dass die App dann auf eine Plattform zugreift, auf der Hunderte Unternehmen dabei sind. Weiß: Aus Sicht der Verkehrsunternehmen und -verbünde besteht der Vorteil darin, Kundinnen und Kunden einen erheblichen Mehrwert bieten zu können. Die Menschen verlangen heute nach vernetzten Angeboten. Das ist gut fürs Image, aber auch für den Markterfolg. Wer macht bei Mobility inside aktuell mit? Weiß: Die aktuelle Partnerlandschaft setzt sich aus neun Gesellschaftern, sieben Plattform-Projektpartnern sowie zehn Pilot-Partnern zusammen. Wobei sich die Rollen der Partner mehrfach überschneiden. Die Gesellschafter gehören zu den Initiatoren und bringen das Gesamtprojekt strategisch voran. Die Plattform-Projektpartner sind die Partner aus dem Gründungskreis, die vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur Förderung erhalten haben. Pilot-Partner sind die Unternehmen, bei denen seit Oktober 2019 der Test der App stattfindet. Bei Mobility inside sind Unternehmen von Flensburg bis München dabei, kleinere Verkehrsunternehmen genauso wie große Verkehrsverbünde. Ganz besonders freut uns, dass wir von der Deutschen Bahn die verbindliche Zusage haben, zeitnah Gesellschafter bei Mobility inside zu werden. Ab wann könnte die DB dabei sein? Puzicha: Die Gespräche sind weit fortgeschritten. Toll wäre es, wenn wir die DB noch in diesem Jahr als neuen Partner begrüßen könnten. Als größtes deutsches Verkehrsunternehmen ist die DB natürlich ein ganz besonders attraktiver Partner. Und gewissermaßen nebenbei bringt die DB großes Knowhow und sicher auch Zugkraft für weitere künftige Partner mit. Will die Nahverkehrsbranche damit dem Silicon Valley zuvorkommen? Weiß: Wir haben natürlich durchaus die Entwicklung in der Hotelbranche vor Augen. Der ist es nicht gelungen, ein eigenes Buchungssystem aufzubauen. Heute dominieren daher branchenfremde IT-Größen den direkten Zugang zum Markt und nehmen wichtige Umsatzanteile weg. In der Nahverkehrsbranche wären die Folgen womöglich noch fataler, da wir keine Gewinne erwirtschaften und sich somit die Frage stellt, wie wir das Fahrtenangebot weiter finanzieren. Es sollte aber auch einfach das Selbstverständnis unserer Branche sein, den Menschen Angebote zu machen, die zu ihren Mobilitätsbedürfnissen passen. Das umfasst Fahrpläne, Tarife, aber eben auch übergreifende Informations- und Buchungsmöglichkeiten. Wie soll ich einem Fahrgast erklären, dass er in ganz Europa mit seinem Auto umherfahren und tanken kann, der ÖPNV es aber nicht schafft, durchgehende Services über eine Stadt- oder Bundeslandgrenze hinweg anzubieten? Puzicha: Sicher eher ein ergänzender Aspekt, aber doch wesentlicher Punkt: Auch aus wirtschaftspolitischer Sicht muss es doch unser Anspruch sein, diese Aufgabe selbst in Deutschland zu lösen und nicht wie bei vielen digitalen Themen in die große Abhängigkeit von internationalen IT-Konzernen zu gelangen, auf deren Strategieentwicklung wir keinerlei Einfluss haben. Nur so können wir Jörg Puzicha Foto: Rhein-Main-Verkehrsverbund Servicegesellschaft mbH Volker Weiß Foto: Stadtwerke München GmbH Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 55 Interview MOBILITÄT die Entwicklungsthemen nach unseren Präferenzen priorisieren und Risiken vor allem in den Bereichen Datenschutz und Wirtschaftlichkeit eingrenzen. Im vergangenen Jahr hat sich das Projekt formalrechtlich aufgestellt. Welche Rechtseinheiten gibt es? Weiß: Den Anfang machte die Mobility-inside-Verwaltungs GmbH, gegründet am 5. Februar 2020. Zwei Wochen später folgte die Mobility-inside-Holding GmbH & Co. KG. Die Geschäftsführung haben Jörg Puzicha und ich übernommen. Der Unternehmenssitz ist Frankfurt mit einer Zweigstelle in München. Für den zukünftigen Betrieb der Mobility-inside-Plattform wurde im Juli 2020 die Mobility-inside-Plattform GmbH gegründet, deren Geschäftsführer Ralf Nachbar und Frau Dr. Nadja Well sind. Die Mobility-inside-Plattform GmbH entwickelt und betreibt die Plattform, betreut die fachliche und technische Einbindung der Partner und unterstützt interessierte Unternehmen dabei, die technischen Voraussetzungen zum Mitmachen bei Mobility inside zu erfüllen. Zusätzlich unterstützt sie bei der Suche nach Fördermöglichkeiten und bei der Platzierung von Förderprogrammen beim BMVI und den zuständigen Ministerien der Länder. Wo steht Mobility inside aktuell? Puzicha: Entsprechend unserem Ziel, in schnellen Schritten eine einwandfrei funktionierende und skalierbare technische Basis zu haben und mit einer möglichst großen Anzahl an Partnern auszurollen, lässt sich das Projekt in drei Arbeitsfelder gliedern: App, Flächenertüchtigung und Partnerlandschaft. Die App läuft von Beginn an stabil. Wir begleiten die Erfahrungen zudem eng per Marktforschung. Weiß: Für den Realbetrieb ist es wichtig, dass alle Schnittstellen und Module der Plattform der Belastung durch den Live-Betrieb standhalten. Hier können wir auf den Meta-Router der Stadtwerke München und das vertriebliche Hintergrundsystem des Rhein- Main-Verkehrsverbunds (RMV) zurückgreifen. Daran kann man übrigens gut erkennen, dass Mobility inside ein Gemeinschaftswerk ist. Technisch sind wir dann voraussichtlich im nächsten Jahr so weit, Mobility inside in den Produktivbetrieb zu überführen. Vor zwei Jahren haben wir ja mit einem Letter of Intent das Interesse in der Branche erfasst, und rund 200 Unternehmen haben unterschrieben. Jahrelang hat der ÖPNV geboomt. Dann kam Corona. Was-bedeutet das für Mobility inside? Puzicha: Erstmal hat sich an den guten Gründen für eine Mobilitätswende ja überhaupt nichts geändert. Bessere Luft, weniger CO 2 und lebenswertere Innenstädte gibt es nur, wenn mehr Menschen vom Auto umsteigen. Genau hier setzt ja Mobility inside an. Ich würde daher sogar sagen, dass Corona für die Idee von Mobility inside ein Push sein kann. Erstens, weil bei uns der Fahrkartenkauf ohne Kontakt mit Fahrkartenautomaten oder Verkaufspersonal funktioniert, zum anderen, weil wir die komplette Mobilitätswelt über Bus und Bahn hinaus, zu Leihrädern und vor allem auch neuen Mobilitätsformen wie On-demand-Verkehren, komfortabel zugänglich machen. Auf der anderen Seite sehen wir aktuell natürlich auch, dass die Rekruting des Entwicklungsteams natürlich auch unter veränderten Rahmenbedingungen stattfinden muss. Was kostet Mobility inside und wer trägt die Aufwände? Weiß: Einer der Vorteile von Mobility inside ist, dass wir auf das Know-how und die technischen Entwicklungen unserer Partner zurückgreifen können. Als Beispiel hatte ich ja bereits den Meta Router der Stadtwerke München, der Routen inklusive Umsteigen berechnet, sowie das vertriebliche Hintergrundsystem „vHGS“ des RMV genannt. Die weiteren Projektkosten von 20 Millionen Euro in der dreijährigen Projektlaufzeit werden zur Hälfte vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur gefördert sowie von den Projektpartnern getragen. Wie soll es danach weitergehen? Puzicha: Innerhalb des Förderprojekts geht es ja darum, die Technik von der App bis zu allen Hintergrundsystemen für die Flächenertüchtigung bereit zu stellen. Danach werden wir die Plattform um weitere Dienste ergänzen und können Mobility inside auf eine große Anzahl von Unternehmen in der Branche und darüber hinaus ausrollen. Weiß: Eine Plattform wie Mobility inside darf man sich nicht so vorstellen, dass sie einmal entwickelt wird und danach für alle Zeiten fertig ist. Wir haben eine Vielzahl von weiteren Funktionen auf der Agenda und mit neuen Partnern kommen neue Ideen und Herausforderungen. Auch die Kundenwünsche werden nicht an irgendeiner Stelle Stopp machen. Ich bin aber absolut optimistisch, dass der Bund, wenn es konkreten Bedarf und gute Ideen zur Weiterentwicklung gibt - oder um Unternehmen den Weg zu Mobility inside zu ebnen - auch nach der derzeitigen Förderungsphase an unserer Seite bleiben wird. Das war in der Vergangenheit so - und in die Zukunft zu investieren, ist letztlich immer auch gut investiertes Geld. Was muss ein Unternehmen machen, um bei Mobility inside dabei zu sein? Weiß: Hier stehen künftig gleich drei Wege offen. Unternehmen können mit Unterzeichnung des Teilnahmevertrags Teilnehmer werden, zusätzlich Mitglied im assoziierten Verein der Mi-Holding oder Kommanditist der Mobility-inside-Holding GmbH & Co. KG. Eine Mitgliedschaft im Verein, den wir demnächst gründen, oder gar die Beteiligung als Kommanditist bei der Mobility-inside-Holding sichert dem Unternehmen Einfluss auf die Ausgestaltung und Ausrichtung von Mobility inside. Dies folgt dem Motto „Aus der Branche, für die Branche“ und meint die gemeinsame Weiterentwicklung der Vernetzungsinitiative. Gerade kleinere Unternehmen haben ja nicht immer das notwendige personelle Know-how und die finanziellen Spielräume. Welche Angebote, etwa Fördergelder, gibt es hier? Puzicha: Bis vor kurzem gab es z. B. vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) eine Förderrichtlinie zur „Digitalisierung kommunaler Verkehrssysteme“, nach der schon einige aktuelle Partner und Unterzeichner der Letter of Intent-Anträge für eine Förderung zur Ertüchtigung und Erweiterung verschiedener Systeme gestellt haben, um damit Grundlagen für einen Anschluss an Mobility inside zu schaffen. Aktuell sind weitere Förderprogramme in Vorbereitung mit attraktiven Förderquoten, bei denen sogar eine zusätzlichmbHe Kofinanzierung der einzelnen Länder zum Teil möglich ist. Noch im Juli 2020 gab es einen weiteren Sonderaufruf für Mobilitätsplattformen im Rahmen dieser Förderrichtlinie, wo Mittel in Höhe von 30 Millionen Euro zur Verfügung gestellt worden sind. Förderschwerpunkt des Sonderaufrufs ist der Themenbereich „Automation, Kooperation und Vernetzung“, was, wie man so schön sagt, wie die Faust aufs Auge passt. Auch hier haben nach der Beratung durch die Mobility inside-Gesellschaften neun Unternehmen einen Förderantrag gestellt. Wann wird Mobility inside deutschlandweit verfügbar sein? Puzicha: Unser Ziel ist, 2022 mit dem schrittweisen, dennoch zügigen Ausrollen durchzustarten. ■