eJournals Internationales Verkehrswesen 72/4

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2020-0088
111
2020
724

„Vision Zero“ – maximale Verkehrssicherheit als Ziel

111
2020
Siegfried Brockmann
Vision Zero als Gesamtstrategie hat im Bereich der Verkehrssicherheit zum Ziel, Straßen und Verkehrsmittel so sicher zu gestalten, dass die Zahl der Verkehrstoten auf „Null“ zurückgeht. Das heißt, dass Regelwerke, Gesetze und Verordnungen entsprechend angepasst werden müssen. Welche Maßnahmen aber können wirklich zum Erreichen der „Vision Zero“ beitragen? Fragen an Siegfried Brockmann, Leiter Unfallforschung der Versicherer (UDV) in Berlin.
iv7240060
Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 60 TECHNOLOGIE Verkehrssicherheit „Vision Zero“ - maximale Verkehrssicherheit als Ziel Vision Zero als Gesamtstrategie hat im Bereich der Verkehrssicherheit zum Ziel, Straßen und Verkehrsmittel so sicher zu gestalten, dass die Zahl der Verkehrstoten auf „Null“ zurückgeht. Das heißt, dass Regelwerke, Gesetze und Verordnungen entsprechend angepasst werden müssen. Welche Maßnahmen aber können wirklich zum Erreichen der „Vision Zero“ beitragen? Fragen an Siegfried Brockmann, Leiter Unfallforschung der Versicherer (UDV) in Berlin. Herr Brockmann, wie schätzen Sie die bisherigen Erfolge in den Programmen des Bundes und der Bundesländer zur Verbesserung der Verkehrssicherheit auf deutschen Straßen ein? Siegfried Brockmann: Seit 2010 hat sich die Anzahl der getöteten Menschen auf deutschen Straßen von 3.648 auf 3.046 im Jahr 2019 reduziert. Das ist noch weit weg vom Ziel der Bundesregierung, die Zahl der Getöteten in dieser Dekade um 40 Prozent zu senken und noch weiter von der sehr ambitionierten Strategie „Null Tote auf deutschen Straßen“. Aus Sicht der Unfallforschung der Deutschen Versicherer (UDV) gibt es eine Reihe von wirksamen Maßnahmen, die uns einzeln oder kombiniert mit konsequenter Umsetzung und Monitoring kurz- und mittelfristig diesem Ziel jedenfalls näherbringen können. Welche Maßnahmen sind das ganz allgemein? Es ist wichtig, die Einsatzbereiche zu differenzieren: • Straßen und Wege noch sicherer gestalten, damit tödliche und schwere Unfälle vermieden oder deren Folgen stark reduziert werden, • das Verhalten der Verkehrsteilnehmenden positiv beeinflussen und vorhandene Verkehrsregelungen durchsetzen, • besonders wirksame Fahrerassistenzsysteme als Serienausstattungen für neue Fahrzeuge vorschreiben und weiterentwickeln. Zum Thema „Straßen noch sicherer gestalten“: Wie sollte man Ihrer Meinung nach da konsequenter vorgehen? Wir müssen zunächst einmal die erkannten Unfallhäufungen beseitigen. Dafür sind funktionierende Unfallkommissionen enorm wichtig. Deshalb müssen die Verantwortlichen in den Ministerien die Ausbildungsstandards und die finanziellen Rahmenbedingungen für die Arbeit der Unfallkommissionen deutlich verbessern. Auch auf neuen Straßen können wegen Fehlern bei Planung und Entwurf vermeidbare Unfälle oder sogar Unfallhäufungen auftreten. Mit Sicherheitsaudits können solche Mängel bereits in der Planung erkannt und abgestellt werden. Das Unfallgeschehen kann auf neuen Straßen um bis zu 80 % verringert werden, wenn das Verfahren konsequent für alle neuen oder umzubauenden Innerorts- und Außerortsstraßen angewendet wird. Sicherheitsaudits müssen deshalb verbindlich eingeführt und wirklich gelebt werden. Auf Außerortsstraßen und Innerortsstraßen entfallen jeweils etwa 50 % der schweren Unfälle bei nur etwa 20 % der Straßennetzlänge. Mit Hilfe von Sicherheitsanalysen können Abschnitte mit hohen Sicherheitspotenzialen - vermeidbare volkswirtschaftliche Unfallkosten - identifiziert werden. Im Rahmen des Straßenmanagements sollten diese Straßenabschnitte vordringlich und sicher umgebaut werden. Sind also außerorts auf Landstraßen die meisten Verkehrstoten jährlich zu beklagen? Das ist ja zunächst einmal nicht überraschend, wenn man die Streckenlänge, die möglichen Konfliktpunkte und die gefahrenen Geschwindigkeiten bedenkt. Gleichwohl können wir noch vieles besser machen. Fast jeder zweite Mensch, der auf Landstraßen tödlich verunglückt, stirbt nach einem Aufprall auf ein Hindernis neben der Fahrbahn. Es gilt einerseits, Maßnahmen gegen Aufprallunfälle dort zu ergreifen, wo die Seitenräume nicht frei von Hindernissen gehalten werden können und andererseits, keine neuen Gefahren zu schaffen. Dies gilt vor allem für die Neupflanzung von Bäumen. Eine kürzlich abgeschlossene Studie der UDV zur „Evaluation von Maßnahmenprogrammen der Bundesländer gegen Baumunfälle“ zeigt, dass Geschwindigkeitsüberwachungen, Überholverbote, Änderungen am Baumbestand, Fahrzeugrückhaltesysteme und eine Verdeutlichung der- Linienführung durch Beschilderungen sehr wirksame Maßnahmen sind, die teilweise sogar kurzfristig umgesetzt werden können. Unfälle, bei denen Verkehrsteilnehmer frontal zusammenprallen, weisen besonders gravierende Unfallfolgen auf. Dort, wo Überholvorgänge möglich sind, sollten sie durch Foto: UDV Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 61 Verkehrssicherheit TECHNOLOGIE geeignete Maßnahmen (z. B. durch ein wechselseitiges Anlegen von Überholfahrstreifen) gesichert werden. Dort, wo das Überholen wegen der fehlenden erforderlichen Sichtweiten gefährlich ist und ein Überholfahrstreifen nicht realisierbar ist, müssen Überholverbote in beiden Fahrtrichtungen angeordnet und durchgesetzt werden. Die Verkehrssicherheit erhöht sich beim Einsatz eines sicheren Knotenpunkttyps gegenüber einem unsicheren um das Vielfache. Bei den hohen Fahrgeschwindigkeiten an Landstraßen-Knotenpunkten sollten auf jeden Fall Verkehrsströme, die an Lichtsignalanlagen kollidieren können, nicht mehr gleichzeitig eine Grünphase bekommen. Wo können auf Innerortsstraßen die Todesfälle wirkungsvoll reduziert werden? Etwa 60 % der 931 Menschen, die 2019 auf innerörtlichen Straßen gestorben sind, waren Zufußgehende und Radfahrende. Sie starben überwiegend an Knotenpunkten und beim Überqueren der Fahrbahnen, in der Regel nach einer Kollision mit dem motorisierten Verkehr. Deshalb müssen Zufußgehende und Radfahrende vor Kollisionen mit dem motorisierten Verkehr besonders geschützt werden. Hier helfen vor allem sichere Querungsmöglichkeiten für diese Verkehrsteilnehmergruppen und das Freihalten von Sichtflächen im Knotenpunktbereich, um die Sichtkontakte zwischen dem motorisierten und nicht motorisierten Verkehr zu erhöhen. Die Kommunen sollten auch vereinfachte Möglichkeiten erhalten, Tempo 30 auch präventiv anordnen zu können. Falls es einmal einen Großversuch zur Wirkung von generellem Tempo 30 innerorts geben sollte, wäre ich auch auf die Ergebnisse gespannt. Wie sieht die Bilanz auf deutschen Autobahnen aus? Im Jahr 2019 sind 356 Menschen bei Verkehrsunfällen auf deutschen Autobahnen ums Leben gekommen. Das sind etwa zwölf Prozent aller Getöteten auf deutschen Straßen. Bezogen auf die jährliche Fahrleistung sind die Autobahnen die sichersten Straßen Deutschlands, nicht aber bezogen auf die Streckenlänge. Hier prägen die Unfälle im Längsverkehr - etwa Überholen, Fahrstreifenwechsel oder Auffahren - das Lagebild des Unfallgeschehens. Hierfür können die Fahrerassistenzsysteme in PKW und LKW einen entscheidenden Beitrag leisten. Das sind vor allem die Notbremse, der Spurverlassenswarner und der Totwinkelwarner. Auch die Infrastruktur kann ihren Beitrag leisten. So können Verkehrsbeeinflussungsanlagen an hoch belasteten oder unfallbelasteten Streckenabschnitten die Verkehrsteilnehmenden rechtzeitig auf Gefahren hinweisen, fahrsichere Geschwindigkeiten empfehlen und somit zu einem sicheren Fahrverhalten führen. Das setzt voraus, dass sich Verkehrsteilnehmer auch nach diesen Empfehlungen richten. Wo kann der Mensch selbst zum Erreichen der „Vision Zero“ beitragen? Die Nutzung von Smartphones oder gar Tablets beim Fahren stellt ein zunehmendes Unfallrisiko dar. Ist der Fahrer vom Verkehrsgeschehen abgelenkt, und sei es für einen kurzen Moment, kann er nicht mehr vorausschauend agieren. Den meisten Verkehrsteilnehmern ist das bewusst. Sie glauben aber fälschlicherweise, das Geschehen kontrollieren zu können. Ein kombinierter Ansatz aus Information und Aufklärung zur Erhöhung des gesellschaftlichen Problembewusstseins in Verbindung mit einer auf die Verkehrssicherheit fokussierten Unterstützung der Kommunikation, z. B. durch optimierte Sprachein- und ausgaben, dürfte der beste Weg sein, mit dem Problem umzugehen. Wie wirkt die bereits 1976 eingeführte Gurtpflicht heute? Wenn alle Insassen im PKW zu jeder Zeit korrekt angeschnallt wären, könnten ca. 200 Getötete und 1.500 Schwerverletzte jährlich in Deutschland vermieden werden. Eine detaillierte Unfallauswertung der UDV hatte ergeben, dass 28 Prozent aller getöteten und 12 Prozent aller schwerverletzten PKW-Insassen nicht gegurtet waren. Die bereits seit 1999 geltende Gurtanlegepflicht bei Reisebussen muss ebenfalls durchgesetzt werden. Die Durchsetzung der Gurtanlegepflicht muss durch häufigere Kontrollen, Erhöhung der Sanktionen und mit wirksamen akustischen und optischen Hinweisgebern auf allen Sitzplätzen im Fahrzeug unterstützt werden. Eine Reihe aufeinanderfolgender Studien der UDV in den letzten 20 Jahren hat gezeigt, dass ein Hauptproblem im Zusammenhang mit der Nutzung von Kindersitzen in deren falscher Benutzung liegt. Deshalb müssen die Sicherungssysteme so gestaltet sein, dass Fehler bei der Nutzung schon durch das Design minimiert werden. Die Benutzung der richtigen Sicherungssysteme sollte überwacht werden. Hersteller sollten verstärkt Isofix-Systeme anbieten, und in Zulassungs- oder Verbraucherschutztests muss verstärkt die Usability bewertet werden. Vor allem aber muss jede neue Eltern- und Großelterngeneration über die Wichtigkeit und die richtige Nutzung der Kinderrückhaltesysteme informiert werden. Gemeinhin gelten ja auch Fahranfänger als Risikogruppe. Welche Herausforderungen sehen Sie da? Junge Fahrer und Fahrerinnen zwischen 18 und 24 Jahren sind weiterhin die Altersgruppe mit dem höchsten fahrleistungsbezogenen Unfallrisiko. Maßnahmen wie das Begleitete Fahren mit 17 Jahren und das Alkoholverbot in der Probezeit bzw. für unter 21-Jährige haben maßgeblich zum Rückgang des Unfallrisikos beigetragen. Weitere Unterstützungsmaßnahmen sind aber erforderlich. Dazu gehören z. B. ein vereinfachter Zugang zum Begleiteten Fahren, ebenso eine Ausweitung der Probezeit in Kombination mit zusätzlichen Lernangeboten. Die Befolgung von Verkehrsvorschriften hängt auch von der Häufigkeit der Kontrollen und der Höhe der Sanktionen ab. Beides muss vor allem bei Verstößen gegen sicherheitsrelevante Vorschriften deutlich erhöht werden. Wir werden in einem umfangreichen Forschungsprojekt eine solche Hierarchie der Sicherheitsrelevanz ermitteln und einen Vorschlag vorlegen. ■ Vita Siegfried Brockmann , von Beruf Kraftfahrzeugmechaniker, studierte Politische Wissenschaften in Berlin. Er war seit 1986 in Verwaltungsfunktionen unter anderem für die Senatskanzlei und den Verkehrssenator des Landes Berlin tätig, leitete von 1993 bis 1997 das Ministerbüro und die Kommunikation des Verkehrs- und Bauministeriums des Landes Brandenburg. Im Jahr 1998 übernahm er die Kommunikation für den Bereich Schaden- und Unfallversicherung des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) und ist dort seit 2006 Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV). Ehrenamtlich ist Brockmann unter anderem Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats und beratendes Präsidiumsmitglied der Deutschen Verkehrswacht (DVW) sowie Vorstandsmitglied des Deutschen Verkehrssicherheitsrates (DVR). Für seine Verdienste um die Verkehrssicherheit erhielt er Auszeichnungen wie die Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, die Goldene Ehrennadel der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie und den Goldenen Dieselring des Verbandes der Motorjournalisten VdM.