eJournals Internationales Verkehrswesen 72/4

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2020-0089
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2020
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Heuristisches Modell zur fahrzeugbezogenen Bewertung des Fahrerlebnisses

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2020
Falk Salzmann
Eduard Schulz
Ziel der vorgestellten Forschungsarbeit ist die automatische Bewertung von Straßen hinsichtlich ihrer Fahrerlebnisqualität. Grundlagen des zu diesem Zweck hergeleiteten Bewertungsmodells bilden empirische Erkenntnisse aus Fahrstudien sowie ein verkehrspsychologisches Modell zur Entstehung von Fahrspaß. Für die aus beiden identifizierten Fahrzustands- und Bediengrößen können fahrdynamische und fahrerverhaltensspezifische Grenzannahmen getroffen werden. Durch die Verbindung dieser Kriterien in einem mathematischen Modell entsteht ein Bewertungssignal, welches als Fahrerlebnisqualität definiert wird. Das Modell wurde abschließend mit Probanden im öffentlichen Straßenverkehr erprobt. Dabei wurde eine weitgehende Übereinstimmung von Probandenmeinung und Bewertungssignal verzeichnet. Insgesamt werden damit ein methodischer Ansatz und ein technischer Vorschlag zur Objektivierung eines bislang wenig erforschten Fahrgefühls formuliert.
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Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 62 TECHNOLOGIE Wissenschaft Heuristisches Modell zur-fahrzeugbezogenen Bewertung des Fahrerlebnisses Fahrerlebnis, Fahrermodellierung, Objektivierung, Fahrerassistenz, Bewertungsmetrik, Navigation Ziel der vorgestellten Forschungsarbeit ist die automatische Bewertung von Straßen hinsichtlich ihrer Fahrerlebnisqualität. Grundlagen des zu diesem Zweck hergeleiteten Bewertungsmodells bilden empirische Erkenntnisse aus Fahrstudien sowie ein verkehrspsychologisches Modell zur Entstehung von Fahrspaß. Für die aus beiden identifizierten Fahrzustands- und Bediengrößen können fahrdynamische und fahrerverhaltensspezifische Grenzannahmen getroffen werden. Durch die Verbindung dieser Kriterien in einem mathematischen Modell entsteht ein Bewertungssignal, welches als Fahrerlebnisqualität definiert wird. Das Modell wurde abschließend mit Probanden im öffentlichen Straßenverkehr erprobt. Dabei wurde eine weitgehende Übereinstimmung von Probandenmeinung und Bewertungssignal verzeichnet. Insgesamt werden damit ein methodischer Ansatz und ein technischer Vorschlag zur Objektivierung eines bislang wenig erforschten Fahrgefühls formuliert. Falk Salzmann, Eduard Schulz B eim Fahren suchen viele Menschen das Fahrerlebnis. Neben dem gewählten Fahrzeug hat dabei bekanntermaßen die Fahrstrecke einen erheblichen Einfluss. Auch beschreiben viele Menschen ähnliche Straßen als fahrerlebnisreich. Doch was macht eine Fahrerlebnisstrecke aus? Ein naheliegender Ansatz ist es demnach, Fahrerlebnisstrecken anhand ihrer besonderen Nutzung, der dort auftretenden Fahrweisen zu klassifizieren; ein anderer, das Fahrerlebnis als latente Empfindung zu begreifen und den Versuch zu unternehmen, es mit zusätzlicher Messtechnik genauer zu quantifizieren. Diese Arbeit verfolgt ersteren Ansatz und beschränkt sich im Unterschied zu Arbeiten der Parameteridentifikation, beispielsweise durch Beobachtung der Mimik [1], auf die Betrachtung fahrzeugeigener Messgrößen. Ferner wird das Fahrerlebnis als Empfindung sportlich motivierter Handlungen und als Gegenteil komfortorientierter Fahrweise verstanden. So eingeschränkt, wird die gesuchte Größe der Fahrerlebnisqualität im Folgenden auch als Fahrspaß bezeichnet. Die unter diesen Randbedingungen in Frage kommenden Messgrößen wurden als Parameter in referenzierten Fahrstudien zum dynamischen und komfortablen Fahren untersucht und davon abgeleitete Kennwerte zur Unterscheidung in einem echtzeitfähigen Signalmodell implementiert. Mithilfe des Signalmodells kann somit während der Fahrt die selbige bewertet werden. Der objektivierte Fahrspaß kann während der Fahrt dazu genutzt werden, um Fahrerassistenzsysteme auf den Zustand des Fahrers abzustimmen. Werden die Informationen verschiedener Fahrer kartiert, ergeben sich weitere Nutzungspotentiale. So kann die Auswertung von Fahrverhaltensmuster auch zur Planung und Lenkung des Verkehrs beitragen, sei es durch die Navigation von Fahrern auf oder das Bauen von geeigneten Verkehrswegen. Ansatz Entstehung von Fahrspaß Zur Bewertung des Fahrerlebnisses soll wie einleitend beschrieben, eine sportlich motivierte Fahrempfindung, mit Fahrzeugsignalen objektiviert werden. Der in diesem Zusammenhang verwendete Begriff Fahrspaß ist, wie beispielsweise in [2] und [3] beschrieben, nicht einheitlich und widerspruchsfrei definiert. Gleichwohl ist bislang kein allgemein gültigerer Ansatz zu dessen Objektivierung bekannt [4]. Eine Ableitung des Begriffs setzt daher allgemeiner mit einem psychologischen Modell zur Entstehung von Spaß gemäß Bild 1 an. Fahren wird als extrinsisch wie intrinsisch motivierte Handlung wahrgenommen. Entsprechend führen sowohl extern spürbare Einflüsse des Fahrvorgangs, wie die Fahrdynamik, als auch die Aktivität des Fahrers bei der Bedienung des Fahrzeugs zu Fahrspaß. Ein fahr- Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 63 Wissenschaft TECHNOLOGIE zeugbezogener Ansatz zur Fahrerlebnisbewertung ist folglich die Erfassung fahrdynamisch charakteristischer Signale sowie gleichermaßen kennzeichnende Größen der Fahrzeugbedienung. Beobachtungsraum Im vorigen Abschnitt wurden die fahrerlebnisrelevanten Signaldomänen Fahrzeugdynamik und Fahrzeugbedienung hergeleitet. In beiden sind die relevanten Fahrzeugsignale zu identifizieren. Dazu dient die Gliederung der Fahrt mithilfe von Taxonomien der Fahrhandlungen, wie sie beispielsweise in [6] und [7] beschrieben sind. Dem Ansatz folgend sind in [5] Befragungen und Diskussionen mit Experten der Verkehrspsychologie und Fahrerassistenz zur Eingrenzung des Beobachtungsraums beschrieben. Die dabei konsolidierten fahrerlebnisrelevanten Fahrhandlungen fasst Tabelle 1 zusammen. Fortführend sind in [8] die als differenzierend hinsichtlich des Fahrerlebnisses ausgewiesenen Fahrhandlungen in ihrer Bedeutung für die Modellbegriffe Fahrkomfort und Fahrspaß gemäß des in Bild 1 eingeführten Modells bewertet. Jedoch wurde der Ansatz nicht auf physikalische Kenngrößen geführt, sodass quantitative Bewertungskriterien fehlen. Deren Bestimmung kann jedoch auf die als differenzierend herausgestellten Fahrhandlungen eingegrenzt werden, beispielsweise in Form einer Fahrstudie. Methodik Parameteridentifikation Die im vorangegangenen Abschnitt theoretisch hergeleiteten Signaldomänen und Fahrhandlungen werden in [9] durch Experimente zur Differenzierung von dynamischen und komfortablen Fahrten untersucht. Darin wird die Schlussfolgerung, dass sowohl Signale der Fahrdynamik als auch der Fahrzeugbedienung zur Fahrerlebnisbewertung beitragen infolge der Trennschärfe identifizierter Parameter gestützt. Im Rahmen der beschriebenen Fahrstudie wurden in den vom mitfahrenden Versuchsleiter und Probanden als dynamisch bewerteten Fahrphasen häufiger Beschleunigungen oberhalb eines Grenzwerts verzeichnet. Hinsichtlich der Fahrzeugbedienung waren Unterschiede insbesondere in der Bewegung von Brems- und Gaspedal signifikant. Es traten zahlreichere, stärkere und schnellere Bremsvorgänge sowie kürzere, schnellere und intensivere Gasstöße bei dynamischer Fahrt auf. Die Lenkgeschwindigkeit stieg bei gleicher Strecke statistisch ebenfalls. Um Strecken hinsichtlich ihrer Fahrerlebnisqualität zu klassifizieren, ist infolgedessen auch die Lenkgeschwindigkeit als relevant anzunehmen. Zusammenfassend ergeben sich aus [9] die in Tabelle 2 gelisteten, signifikanten und in der jeweiligen Signaldomäne unabhängigen Parameter zur Identifikation von Fahrerlebnisstrecken. Bewertungsmetrik In den vorangegangenen Kapiteln wurde festgestellt, dass sowohl aus der ursächlichen Fahrzeugbedienung als auch dem dadurch bedingten Fahrzustand sensitive Kenngrößen zur Bewertung des Fahrerlebnisses abgeleitet werden können. Für diese Kenngrößen sind zur Anwendung in einem Modell konkrete Bewertungskriterien abzuleiten. Dabei ist wegen der kausalen Abhängigkeit von Fahrzeugbedienung und Fahrzeugzustand eine Gewichtung der beiden Domänen von untergeordneter Bedeutung. Sie wurden daher heuristisch festgelegt und in Versuchsfahrten durch den Abgleich von Modell- und Probandenurteil abgestimmt. Bereits in früheren Arbeiten wurden Kriterien zur Klassifizierung von komfort- und fahrspaßorientierten Fahrweisen zweckbezogen definiert und verwendet [10]. Übergreifend findet sich in der Literatur die Annahme einer analog zu [9] bestehenden Grenze eines akzeptierten Aktionsniveaus von Fahrern. Ab dieser zumeist fahrdynamisch definierten Akzeptanzschwelle werden höhere Aktionsniveaus als unkomfortabel empfunden und können einer anderen Fahrmotivation als dem Komfort, wie beispielsweise dem Fahrspaß, zugeordnet werden-[11]. Für die im Folgenden zur Ermittlung einer Bewertungsmetrik wiedergegebenen Ergebnisse der Proban- Fahrhandlung Anfahren Ein- / Ausparken Beschleunigen Rückwärts fahren / Wenden Schalten / Gänge wechseln Hindernis / Fahrzeug passieren Geschwindigkeit halten Kreuzung / Einmündung passieren Fahrspur halten / Straßenverlauf folgen Kolonne fahren / Fahrzeug folgen Verzögern / Abbremsen Abbiegen Anhalten / Stillstand Überholen Tabelle 1: Erlebnisrelevante Fahrhandlungen Bild 1: Heuristisches Modell zur Entstehung von Spaß und Komfort bei Handlungen [5] Fahrzeugzustand Fahrzeugbedienung Fahrdynamik - Querbeschleunigung - Längsbeschleunigung - Fahrzeuggeschwindigkeit Gaspedal - Gaspedalgeschwindigkeit - Gaspedalstellung - Betätigungsdauer des Gaspedals Bremspedal - Bremspedalgeschwindigkeit - Bremsdruck - Bremshäufigkeit Getriebe/ Fahrmodus - Motordrehzahl Tabelle 2: Identifizierte Fahrzeugsignale zur Bewertung fahrerlebnisrelevanter Fahrhandlungen Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 64 TECHNOLOGIE Wissenschaft denstudien [12] und [9] sei vermerkt, das statistische Kennwerte von dynamischen und komfortablen Fahrten mittels Zwei-Stichproben-t-Test geprüft und als signifikant bestätigt sind. Davon abgeleitete Grenzkriterien sind dementsprechend trennscharf. Hinsichtlich der Übertragbarkeit der Kriterien gilt einschränkend zu berücksichtigen, dass die Wahl des Fahrzeugs einen erheblichen Einfluss auf die Empfindung des Fahrers und damit die Ergebnisse der Studie hat. Dies wird anhand der Abweichungen der für einen Porsche Panamera von [12] und Porsche 911 von [9] ermittelten Parameter deutlich. - Fahrdynamische Akzeptanz Die Untersuchung fahrdynamischer Akzeptanzgrenzen erfolgte früh in [13, 14, 15], später in [16] und [17]. Bereits [13] geht von der Existenz einer querdynamischen Akzeptanzschwelle aus, welche aus dem Willen des Fahrers, im Falle eines plötzlich auftretenden Hindernisses gefahrlos ausweichen zu können, resultiert. Demnach hängt die querdynamische Akzeptanzschwelle von der Kurvengeschwindigkeit ab. In [14, 15] und [17] sind Untersuchungen bezüglich der maximalen Komfortbeschleunigung in Querrichtung durch Fahrstudien beschrieben. Darin findet sich ebenfalls eine im Alltagsverkehr in Abhängigkeit der Fahrzeuggeschwindigkeit v selten überschrittene querdynamische Grenze. Der Verlauf dieser Grenze wird von verschiedenen Autoren ähnlich zu der in [15] gegebenen Gleichung (1) für die Fahrzeugquerbeschleunigung a angegeben. â (qS) ( ) , , / ν ν ν = ⋅ ⋅ − 0 155 1 85 70 e km h (1) Eine Überschreitung des auch als querdynamische Komfort- oder Sicherheitsgrenze â (qS) bezeichneten Grenzwerts kennzeichnet im Umkehrschluss bewusst dynamische Fahrhandlungen. Als solches findet das Verhältnis der aktuellen Querbeschleunigung des betrachteten Fahrzeugs zur querdynamischen Akzeptanzgrenze als dominantes Bewertungskriterium im nachfolgenden Kapitel beschriebenen Signalmodell Verwendung. Mit einem zusätzlich eingeführten Faktor kann die Gleichung (1) auf die Stabilitätsgrenzen ähnlicher Fahrzeuge angepasst werden. Des Weiteren lässt sich aus [17] die zentrale Bedeutung der Längsdynamik, beschrieben durch die Fahrzeugbeschleunigung und -geschwindigkeit, für das Fahrerlebnis schlussfolgern. Die Fahrzeuggeschwindigkeit kann zudem sowohl zum Ausschluss innerstädtischen Verkehrs als auch zur Kennzeichnung von Strecken ohne Geschwindigkeitslimitierungen verwendet werden. - Haptische Aktivität Bei dynamischer Fahrt bremsen Fahrer deutlich häufiger, schneller und stärker als bei komfortabler Fahrt. Entsprechend dienen die in [9] und [12] ermittelten Perzentile für die Bremshäufigkeit, Bediengeschwindigkeit sowie der mittlere und maximale Bremsdruck als Kriterien der Fahrerlebnisbewertung. Analog erfolgt die Bewertung der Gaspedalbedienung anhand der Bediengeschwindigkeit, der Betätigungsdauer sowie der durchschnittlichen und maximalen Pedalstellung. Bei sehr kurzen Betätigungen von Bedienelementen wird das entsprechende Signal für einen Moment gehalten, um es im Signalmodell zu verarbeiten. Ähnliches gilt für die Kriterien der Lenkung. Aufgrund der höheren Kurvengeschwindigkeit ist die Lenkgeschwindigkeit bei dynamischer Fahrt höher. Um kurze Schwankungen, beispielsweise durch angedeutete Ausweichmanöver auf gerader Fahrbahn von der Berücksichtigung einer bewusst dynamischen Fahrweise auszuschließen, ist in diesem Zusammenhang zusätzlich ein Mindestlenkwinkel zur Bewertung als fahrerlebnisrelevante Fahrhandlung festgelegt. Zum Ausschluss von Rangierverkehr dient eine festgelegte Mindestgeschwindigkeit. Umsetzung Modellierung Auf Basis der oben hergeleiteten Bewertungsparameter wurde ein Modell zur automatischen Bewertung von Fahrerlebnismomenten entwickelt. Die Implementie- Bild 2: Signalmodell zur Bewertung sportlicher Fahrerlebnismomente Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 65 Wissenschaft TECHNOLOGIE rung erfolgte in MATLAB/ Simulink entsprechend dem in Bild 2 dargestellten Blockschaltbild. Die von den Bewertungsparametern abgeleiteten Kriterien sind im Block „Fahrerlebnisbewertung“ zusammengefasst. Bei der Implementierung wurde zudem die örtliche und zeitliche Referenzierung, die Kontinuität der Ausgangssignale sowie die allgemeine Verfügbarkeit verwendeter Signale in Kraftfahrzeugen berücksichtigt. - Fahrzeugdynamik Der Block „Fahrzeugdynamik“ (Bild 2) liefert bei einer Kombination starker Beschleunigungsvorgänge, hoher Geschwindigkeiten und Motordrehzahlen ein starkes Signal, welches das Fahren auf einer eine Fahrerlebnisstrecke kennzeichnet. Bild 3 beschreibt den Detailaufbau. Die Bewertungskriterien werden dabei gewichtet zu einer Signalsumme verarbeitet. Während die Beschleunigungen taktil, vestibulär und kinästhetisch auf stark auf Fahrzeuginsassen wirken, werden die Geschwindigkeit und die Motordrehzahl indirekt visuell sowie durch den Fahrzeugaufbau gedämpfte Geräusche und Vibrationen wahrgenommen. Besonders hohe Querbeschleunigungen sind in seltenen Fällen auf kritischen Fahrsituationen zurückzuführen, zeugen über längere Dauer jedoch von einer bewusst sportlichen Fahrweise unter Vernachlässigung anderer Fahrziele wie Fahrkomfort und Fahrkosten [11]. Auch Steigungen und Neigungen der Fahrbahn werden durch Beschleunigungen im Fahrzeug berücksichtigt. Der Einfluss niederfrequenter Störungen auf die Beschleunigungssignale wird durch ein PT1- Glied gemindert. - Fahreraktivität Das Fahreraktivitätsmaß fasst analog die Bewertungskriterien der Fahrzeugbedienung zusammen. Diese wurden für die vier wesentlichen Bedienelemente der Fahrzeugsteuerung gleich gewichtet. Wie beschrieben, können über die Lenkwinkelgeschwindigkeit besonders kurvenreiche Strecken gefunden werden. Zudem wurden die Bediengeschwindigkeiten von Gas und Bremse gemäß [9] in das Bewertungsmodell aufgenommen. In Abstimmungsfahrten wurde jedoch festgestellt, dass hohe Pedalgeschwindigkeiten vermehrt bei innerstädtischem Verkehr auftreten. Aufgrund der ebenfalls gefundenen Korrelation der Pedalgeschwindigkeit zur Pedalstellung außerhalb geschlossener Ortschaften konnte daher auf ersteren Parameter zur Fahrerlebnisbewertung verzichtet werden. Die gleichzeitige Betätigung der Pedale wird trotz der Bedeutungslosigkeit für die Fahrzeugdynamik als eine höhere Aktivität des Fahrers bewertet und dementsprechend im zugehörigen Modellteil gemäß Bild 4 verarbeitet. - Fahrgefühl Der den Blöcken Fahrzeugdynamik und Fahreraktivität in Bild 2 nachgeschaltete Bessel-Tiefpassfilter besitzt eine lineare Phase im Durchlassbereich sowie eine gesteigerte Flankensteilheit im Übergangsbereich. Während niederfrequente Störsignale somit unterdrückt werden, führen zeitliche Häufungen der gehaltenen Signale der Fahrzeugbedienung sowie längerfristige Grenzwertüberschreitungen zu einer hohen Bewertung der momentanen Fahrerlebnisqualität. Zur Entstehung län- Bild 3: Signalmodell zur Bewertung der Fahrzeugdynamik Bild 4: Signalmodell zur Bewertung der Fahreraktivität Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 66 TECHNOLOGIE Wissenschaft gerer, konsistenter Fahrphasen ist dem so gefilterten Bewertungssignal zudem ein Zweipunktregler nachgeschaltet. Erprobung Die Bewertungsparameter des in Bild 2 vorgestellten Fahrerlebnismodells wurden im vorigen Abschnitt in verschiedenen Fahrsituationen als relevant für das Fahrerlebnis identifiziert. Es ist jedoch anzunehmen, dass die Bewertungsparameter nicht in jeder Fahrsituation gleichbedeutend sind. Auch die Gewichtung der teils korrelierenden Kriterien beruht auf heuristischen Annahmen. Zur Überprüfung des Modells ist es daher in verschiedenen Verkehrssituationen zu erproben. Die in Bild 5 markierte Strecke am Nordrand des Schwarzwalds diente als Versuchsstrecke. Im Rahmen einer Abschlussuntersuchung fuhren fünf Probanden navigiert durch einen mitfahrenden Versuchsleiter die Strecke entgegen dem Uhrzeigersinn. Die selbstberichtete, subjektive Einschätzung der Fahrerlebnisqualität seitens der Probanden wurde digital und anhand markanter Landmarken örtlich protokolliert. Das Ergebnis fasst der Graph in Bild 6 zusammen. Das arithmetische Mittel der Probandenbewertungen stimmt im Wesentlichen mit der Modellbewertung überein. Positiv fällt auf, dass Kreisverkehre und andere kurzweilige, dynamische Fahrsituationen, wie sie an Kreuzungen oder Autobahnauffahrten entstehen, nicht als Fahrerlebnis klassifiziert wurden. Hinsichtlich der Gestalt ausgewiesener Fahrerlebnisabschnitte gibt es jedoch Unterschiede zwischen der Modell- und Probandenbewertung. Die in Bild 6 gelb schraffierten Flächen kennzeichnen diese Stellen. So entstehen Lücken des Fahrerlebnissignals infolge dessen Digitalisierung. Andererseits werden Fahrerlebnisstrecken nach Abbiegungen vom Modell fortgeführt und brechen nicht abrupt ab. Beide Fälle können durch eine Datennachbereitung mithilfe der Abstände und Ausrichtung aufeinander folgender Fahrabschnitte korrigiert werden. Im Resultat entstünden durchgehende Fahrerlebnisstrecken, welche für die Visualisierung in Navigationsdiensten geeignet sind. Des Weiteren wurde ein Verzug bei den Serpentinen festgestellt, welcher aus der Filterdynamik resultiert. Dieser Effekt wird bei der außerhalb der Versuchsfahrt üblichen Aggregation von Fahrten aus beiden Richtungen kompensiert. Zusammenfassung Die dargestellte Arbeit umfasst die Entwicklung einer für die Automatisierung und Assistenz von Kraftfahrzeugen relevante Objektivierung des Fahrerlebnisses. Der beschriebene Ansatz über ein heuristisches Bewertungsverfahren nutzt ein verkehrspsychologisches Modell zur Identifikation relevanter Signaldomänen. In denen wurden entsprechende Parameter mithilfe referenzierter Studien identifiziert und gefundene Kriterien zu einem echtzeitfähigen Signalmodell verbunden. Die dabei verwendeten Gewichtungen zur Berechnung einer objektiven Fahrerlebnisqualität wurden abgestimmt und exemplarisch in eine Probandenstudie erprobt. Als Ausblick sei auf die in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen vorangetriebenen Bestrebungen zur Messung von Fahrgefühlen und Fahrstilen verwiesen. Auch das Fahrerlebnis stellt in diesem Rahmen eine für die Entwicklung einer Vielzahl von Fahrzeugsystemen wesentliche Einflussgröße dar. Alternativ zu dem gezeigten fahrzeugbezogenen Ansatz versuchen andere, das Fahrerlebnis mithilfe von Fahrerzustandsbeobachtungen zu objektivieren. Dabei werden beispielsweise Innenraumkameras zur Erfassung von Bewegungen, dem Blickverhalten sowie der Mimik des Fahrers verwendet [18]. Weitere Ansätze sind die Analyse akustischer und biometrischer Daten. Auch die Erweiterung um externe Signale, wie die Erkennung von Streckenobjekten, die Analyse des Fahrlinienverlaufs, weiterer Bedienelemente oder die Integration von Echtzeit- Verkehrsdaten stellen Ansatzpunkte dar. Aufgrund der Vielzahl möglicher Größen erscheint die Anwendung maschineller Lernmethoden als zielführend für weiterführende Arbeiten. Insgesamt zielen die genannten Ansätze darauf ab, den Umfang und die Genauigkeit der Metrik zur Fahrerlebnisbewertung zu erhöhen. Für eine entsprechende Umsetzung erscheinen naturalistische Fahrstudien ge- Bild 6: Vergleich der Fahrerlebnisbewertungen von Modell und Probanden Bild 5: Erprobungsstrecke zur Modellbewertung Internationales Verkehrswesen (72) 4 | 2020 67 Wissenschaft TECHNOLOGIE eignet. Durch die dabei anzustrebende Erweiterung des Studienumfangs ließen sich in Hinblick auf die vorgestellte Arbeit in erster Linie die identifizierten Parameter sowie deren Korrelationen und Abhängigkeiten präzisieren. ■ LITERATUR [1] Daimler AG, Pressemitteilung (2007): Emotionsforschung im Auto: Fahrspaß erstmals wissenschaftlich gemessen. https: / / media.daimler.com (aufgerufen am 20.09.2019) [2] Kuijt-Evers, L.; Groenesteijn, L.; de Looze, M.; Vink, P. (2004): Identifying factors of comfort in using hand tools. In: Applied Ergonomics [3] Zhang, L.; Helander, M.; Drury, C. (1996): Identifying factors of comfort and discomfort in sitting. In: Human Factors, Vol. 38, No. 3 [4] Renner, G.; Tischler, M. (2015): Ansatz zur Messung von positivem Fahrerleben. Die Messung von Fahrspaß und Ableitungen für die Fahrzeuggestaltung. Fahrer im 21. Jahrhundert - Human Machine Interface. VDI-Verlag GmbH, Düsseldorf [5] Engeln, A.; Engelbrecht, A.; Kieninger, C. 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VDI-Berichte, VDI-Verlag, Düsseldorf [18] Ekman, P.; Friesen, W.; Hager, J. (2002): Facial Action Coding System. Network Information Research Corporation, Salt Lake City Falk Salzmann, Dipl.-Ing. Doktorand, Technische Universität Dresden falk.salzmann@tu-dresden.de Eduard Schulz, Dipl.-Ing. (FH) Drive Apps, Porsche AG eduard.schulz@porsche.de Brief und Siegel für Wissenschafts-Beiträge Peer Review - sichtbares Qualitätsinstrument für Autoren und Leserschaft P eer-Review-Verfahren sind weltweit anerkannt als Instrument zur Qualitätssicherung: Sie dienen einer konstruktiv-kritischen Auseinandersetzung mit Forschungsergebnissen, wissenschaftlichen Argumentationen und technischen Entwicklungen des Faches und sollen sicherstellen, dass die Wissenschaftsbeiträge unserer Zeitschrift hohen Standards genügen. Herausgeber und Redaktion laden daher Forscher und Entwickler im Verkehrswesen, Wissenschaftler, Ingenieure und Studierende sehr herzlich dazu ein, geeignete Manuskripte für die Rubrik Wissenschaft mit entsprechendem Vermerk bei der Redaktion einzureichen. Die Beiträge müssen „Originalbeiträge“ sein, die in dieser Form und Zusammenstellung erstmals publiziert werden sollen. Sie durchlaufen nach formaler redaktioneller Prüfung ein standardisiertes Begutachtungsverfahren, bei dem ein Manuskript zwei, in besonderen Fällen weiteren Gutachtern (Referees) aus dem betreffenden Fachgebiet vorgelegt wird. Interessierte Autoren finden die Verfahrensregeln, die Autorenhinweise sowie das Formblatt für die Einreichung des Beitrages auf www.internationales-verkehrswesen.de/ autoren-service/ KONTAKT Eberhard Buhl, M.A. Redaktionsleiter Internationales Verkehrswesen Tel.: +49 7449 91386.44 eberhard.buhl@trialog.de