Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2021-0005
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Brücken mit modernen Mitteln vor dem Kollaps bewahren
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Felix Förster
Marode Brücken, verschlissene Bauteile – wenn Verkehrsbauwerke in die Jahre kommen und Schäden nicht erkannt werden, ist oft Gefahr im Verzug. Das zeigte zuletzt der Einsturz einer Autobahnbrücke in Genua. Wie aber lassen sich wichtige Objekte sicher überwachen und notwendige Schritte zur Instandhaltung gewährleisten? Fragen an Felix Förster, Global R&D Program Director, den Chefingenieur bei DYWIDAG Systems.
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Internationales Verkehrswesen (73) 1 | 2021 20 INFRASTRUKTUR Maintenance Brücken mit modernen Mitteln vor dem Kollaps bewahren Marode Brücken, verschlissene Bauteile - wenn Verkehrsbauwerke in die Jahre kommen und Schäden nicht erkannt werden, ist oft Gefahr im Verzug. Das zeigte zuletzt der Einsturz einer Autobahnbrücke in Genua. Wie aber lassen sich wichtige Objekte sicher überwachen und notwendige Schritte zur Instandhaltung gewährleisten? Fragen an Felix Förster, Global R&D Program Director, den Chefingenieur bei DYWIDAG Systems. Herr Förster, welche Herausforderungen gibt es generell bei Überwachung und Wartung viel genutzter Verkehrsbauwerke? Die Herausforderungen bestehen darin, alle relevanten Informationen für die richtigen Personen zum richtigen Zeitpunkt verständlich aufzubereiten, damit in der Folge fundierte Entscheidungen getroffen werden können. Dazu müssen die am Objekt erhobenen Daten zunächst auf Plausibilität geprüft, in verwertbare technische Einheiten übersetzt und mit anderen Messungen korreliert und kontextualisiert werden, um tatsächliche Kausalitätszusammenhänge ableiten zu können. Die Dateninfrastruktur muss robust, redundant und sicher aufgesetzt werden. Zudem müssen alle Hardwarekomponenten auf die notwendigen Messintervalle abgestimmt werden. Abtastraten können von einmal täglich bis viele hundertmal pro Sekunde variieren, dies erfordert eine entsprechend skalierbare Dateninfrastruktur. Welche Technologie setzen Sie gewöhnlich bei Brücken ein? An Brücken misst man vor allem Verformungen unter Last, Materialermüdungen und Bauteilspannungen. Die Messungen dienen dem Nachweis, dass Bauteile nicht über ihre Belastungsgrenzen hinaus beansprucht werden. Die Betrachtung von Änderungen über einen bestimmten Zeitraum lässt eine Extrapolation über erwartetes zukünftiges Verhalten zu. So wird eine proaktive, ereignisbasierte Instandhaltung ermöglicht. Das heißt, der Betreiber kann frühzeitig intervenieren, bevor es zu kostspieligen und womöglich irreparablen Schäden am Bauwerk kommt. Werden dabei auch Künstliche Intelligenz, Robotik und Sensorik eingesetzt? Allerdings. Robotik kommt vornehmlich in Anwendungen zum Einsatz, die einen hohen technischen und zeitlichen Aufwand erforderlich machen, um sich Zugang zu verschaffen. Oder auch an Stellen, an denen Gefahr für Menschen besteht. Die robotergestützte Diagnostik minimiert die Fehleranfälligkeit subjektiver Bewertungen und bietet mit integrierten zerstörungsfreien Prüfmethoden Einblicke, die weit über die Informationstiefe einer handnahen Inspektion durch zertifizierte Bauwerksprüfer hinausgehen. Unter anderem können wir mit unseren Robotern nicht nur hochauflösende 360°-Panaromabilder ganzer Brückenschrägseile generieren. Mithilfe von Magnet-Induktionsverfahren kann das Seil auch über seinen gesamten Verlauf untersucht und sozusagen geröntgt werden, Guadiana International Bridge Quelle: DYWIDAG Systems Internationales Verkehrswesen (73) 1 | 2021 21 Maintenance INFRASTRUKTUR um unsichtbare Materialfehler im Inneren zu erkennen. Wie genau funktioniert die Überwachung? Welche Methoden und Sensorik verwendet werden, hängt immer vom Einzelfall ab. Zunächst muss die Zielsetzung der Überwachung geklärt und dann die Systemarchitektur den örtlichen Gegebenheiten angepasst werden. Grundsätzlich gibt es sehr unterschiedliche Sensortypen zur Auswahl, die sich in Messgeschwindigkeit, Genauigkeit und Robustheit stark unterscheiden können. Wie gesagt ergibt erst das Zusammenspiel vieler Messungen ein kohärentes Gesamtbild. Nehmen wir z. B. die Überwachung von Bauteilbewegungen, etwa bei Koppelfugen oder im Falle von Durchbiegungen oder Setzungen. Hier muss zunächst geklärt werden, welche Einflussfaktoren zu berücksichtigen sind. Temperatur-Amplituden etwa führen zu Dehnungs- und Schrumpfbewegungen, die man ermitteln und kennen muss, bevor man eine Aussage darüber treffen kann, welche Auswirkungen ausschließlich durch den fließenden Verkehr verursacht werden. Und wann muss eingegriffen werden? In Deutschland müssen Bestandsbrücken rechnerisch dahingehend geprüft werden, ob die Konstruktion noch dem stark gestiegenen Verkehrsaufkommen genügt. Häufig führen diese Nachrechnungen zu sogenannten Traglastdefiziten. Das heißt, dass einzelne Bauteile der Konstruktion keine ausreichenden Tragfähigkeiten mehr aufweisen. Unter Umständen können Durchbiegungen größer sein, als das Bauteil sicher aushalten kann. Hier kann ein Dauer-Monitoring helfen nachzuweisen, dass vorbestimmte Grenzwerte in situ nicht überschritten werden und die Brücke somit weiter genutzt werden kann. Wie ist denn der allgemeine Zustand von Brücken in Deutschland wirklich? Ein Großteil der Infrastruktur in Deutschland wurde in den Sechziger- und Siebzigerjahren erbaut. Die ursprüngliche Lebensdauer dieser Brücken wurde damals mit bis zu 100 Jahren angegeben - wohlgemerkt unter der Prämisse des damaligen Verkehrsaufkommens. Da dieses aber in den vergangenen Jahrzehnten konstant gestiegen ist, hat sich die ursprüngliche Erwartung an die Brücken ebenfalls verändert. Aber auch neuere Brücken sind starken Belastungen ausgesetzt, die es notwendig machen, dass diese regelmäßig geprüft werden. Hinsichtlich Lebensdauer und Verschleiß stellt der zunehmende Verkehr ganz klar einen der Faktoren dar, die für den Zustand von Brücken und Infrastruktur verantwortlich sind. Wie gesagt ist hier die Sammlung von Daten ein entscheidendes Kriterium. Ist der stete Verkehrsfluss nicht auch bei der Datensammlung ein Problem ? Für die Beschaffung von Daten und die Prüfung von Brücken stellt der fließende Verkehr - egal ob Schifffahrt- oder Automobilverkehr - kein übergeordnetes Problem dar. Auch Instandhaltungsarbeiten selbst können, je nach der Arbeit am jeweiligen Projekt, bei laufendem Betrieb stattfinden. Bei größeren Projekten kann es aber selbstverständlich nötig sein, nach alternativen Lösungen zu suchen. Lässt sich aus den Überwachungsdaten auf das Verkehrsaufkommen rückschließen? Die zunehmenden Lieferbewegungen kann man sicherlich auch an den Daten und Messungen ablesen. Das Verkehrsaufkommen in Deutschland ist in den letzten Jahrzehnten gestiegen, das ist bekannt. Nach wie vor ist die Straße die Aorta der Gesellschaft. Durch die zunehmenden Probleme vieler Infrastrukturobjekte droht hier allerdings zunehmend auch ein Kollaps, wenn nicht in die Zukunft dieser wichtigen Verbindungen investiert wird. Daher ist es uns bei Dywidag ein wichtiges Anliegen zu zeigen, dass beispielsweise Brücken mit modernen Mitteln vor einem Kollaps bewahrt werden können. Gibt es dafür ein Beispiel, vielleicht international? Da kann ich die Guadiana International Bridge nennen, die etwa 250 km südöstlich von Lissabon an der Grenze zwischen Spanien und Portugal liegt. Sie verbindet die Städte Ayamonte in Spanien und das portugiesische Castro Marim im Bezirk Faro, wurde zwischen 1985 und 1991 errichtet und ist eine der prägnantesten Schrägseilbrücken auf der Iberischen Halbinsel. Sie hat eine Gesamtlänge von 666 m und eine Hauptspannweite von 324 m. Das Brückendeck wird von 128 Schrägseilen getragen, die an den 100 m hohen Pylonen verankert sind. Die Einzellängen betragen zwischen 50 m und 170 m. Welche Auffälligkeiten gab es bei dieser Brücke? Nachdem Litzenbrüche an einzelnen Schrägseilen auftraten, hat Dywidag im Jahr 2018 zerstörungsfreie Prüfungen an der Brücke durchgeführt, um den Zustand der bestehenden Verankerungen und der Stränge zu ermitteln. Dazu wurden unter anderem die Anti- Vandalismus-Rohre entfernt und die Verankerungen des Überbaus endoskopisch untersucht. Im Zuge der Inspektion stellten sich erhebliche Sicherheitsmängel an der Schrägseilkonstruktion heraus, darauf veranlasste der Betreiber den Austausch aller Schrägseile. Auch hier bei laufendem Verkehr? Es musste gewährleistet werden, dass in jeder Richtung immer mindestens eine Fahrspur dieser wichtigen Hauptverkehrsachse für den Verkehr nutzbar blieb. Dywidag entwickelte dafür ein Konzept, wie der hochkomplexe Austausch der Schrägseile im laufenden Betrieb umgesetzt werden konnte. Dauert das nicht länger als üblich? Durch den Einsatz unserer magnet-induktiven DYNAForce-Sensoren konnten die Bauzeiten sogar verkürzt und die Brücke schneller wieder komplett freigegeben werden. Statt die Seilkräfte aufwendig und zeitintensiv manuell mit hydraulischen Pressen zu überprüfen, konnten sie in Echtzeit automatisiert ermittelt und ausgelesen werden. Die Sensoren detektieren die Änderungen der ferromagnetischen Eigenschaften der einzelnen Schrägseillitzen unter unterschiedlichen Spannungszuständen. Daraus lassen sich dann die Seilkräfte direkt ermitteln. Und wie geht es nun weiter? Ende Dezember 2020 wurde der Austausch der Schrägseile abgeschlossen, und die verbauten Sensoren liefern nun weitere wichtige Informationen über den Zustand des Tragwerks. Aus dem zukünftigen Verhalten können dann Erkenntnisse für eine proaktive Wartung der Brücke gewonnen werden. Auf diese Weise bleibt die Verfügbarkeit für die Nutzer gewährleistet. ■ Foto: DYWIDAG Systems
