eJournals Internationales Verkehrswesen 73/1

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2021-0006
21
2021
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Die Region als Lebensraum für die Menschen

21
2021
Meike Levin-Keitel
Lisa Ruhrort
Tanja Göbler
Für ein Kind braucht es ein Dorf zur Erziehung, sagt man. Wenn der Mensch erwachsen wird, braucht er eine ganze Region als Lebensraum. Wohin der Mensch sich orientiert, folgt seinen persönlichen Vorlieben, aber auch den Möglichkeiten, die ihm geboten werden. Um dieses Angebot zu schaffen, folgt die Planung seit Jahrzehnten verschiedenen Leitbildern wie der dezentralen Konzentration und dem Wohnen an der Schiene. Aber passt das wirklich (noch) zur Lebenswahrheit der Menschen? Sind leere Busse in ländlichen Gegenden nicht ein Symptom dafür, dass Angebot und Lebenswirklichkeit nicht zueinander passen?
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Internationales Verkehrswesen (73) 1 | 2021 22 Die Region als Lebensraum für die Menschen Herausforderungen für die integrierte Regionalplanung im Kontext von Klimaschutz und Digitalisierung Region, Integrierte Regionalplanung, Klimaschutz, Digitalisierung, Region Hannover Für ein Kind braucht es ein Dorf zur Erziehung, sagt man. Wenn der Mensch erwachsen wird, braucht er eine ganze Region als Lebensraum. Wohin der Mensch sich orientiert, folgt seinen persönlichen Vorlieben, aber auch den Möglichkeiten, die ihm geboten werden. Um dieses Angebot zu schaffen, folgt die Planung seit Jahrzehnten verschiedenen Leitbildern wie der dezentralen Konzentration und dem Wohnen an der Schiene. Aber passt das wirklich (noch) zur Lebenswahrheit der Menschen? Sind leere Busse in ländlichen Gegenden nicht ein Symptom dafür, dass Angebot und Lebenswirklichkeit nicht zueinander passen? Meike Levin-Keitel, Lisa Ruhrort, Tanja Göbler V erkehr und Raum hängen eng zusammen. Deshalb kann eine gezielte Raumentwicklung helfen, Verkehr zu verlagern und zu vermeiden. Im Kontext der Klimaschutzziele und der Digitalisierung von Mobilität, Arbeits- und Lebensformen steht die integrierte Regionalplanung aktuell vor neuen Herausforderungen. Die Region Hannover verfolgt seit Jahrzehnten die Ziele einer kompakten Regionalentwicklung und dient hier als Beispiel für die Erforschung und Erprobung innovativer Lösungsansätze für die Erreichung dieser Ziele im Kontext von Klimaschutz und Digitalisierung. Die Region als Lebenswelt: Zum Zusammenhang von Raum- und Verkehrsentwicklung Betrachtet man eine ganze Region als Lebensraum für die Menschen, und nicht nur als administrative oder politische Grenze, so eröffnet sich ein Rundumblick auf die komplexen räumlichen Zusammenhänge dieser Lebenswelten: Die Frage des Wohnstandorts legt die täglichen Wege zu Arbeitsplatz, Kinderbetreuung, Einkaufsmöglichkeiten oder ärztlicher Versorgung fest und beeinflusst auch maßgeblich die Wahlmöglichkeiten bei der Verkehrsmittelwahl. Klar ist, dass sich diese Wege nicht an kommunalen Grenzen orientieren: Wochentäglich überqueren in Deutschland Millionen Menschen Bild 1: Die Region als Lebenswelt der Menschen Quelle: pexels INFRASTRUKTUR Regionalplanung Internationales Verkehrswesen (73) 1 | 2021 23 Regionalplanung INFRASTRUKTUR als Pendler*innen auf dem Weg vom Wohnort in die Arbeitsstätte Gemeindegrenzen. Die Region als Lebenswelt ist charakterisiert durch die Verteilung der Nutzungen und Funktionen, sie bestimmt darüber, welche Distanzen zwischen diesen zurückgelegt werden müssen und ob dies z. B. zu Fuß, mit dem Fahrrad, dem ÖPNV oder nur mit dem Auto möglich ist [1]. Umgekehrt beeinflussen die verfügbaren Verkehrsmittel und Infrastrukturen mit den dadurch ermöglichten Erreichbarkeiten die Entwicklung einzelner Ortschaften, Gemeinden oder Städte [2]. Durch die wechselseitige Dynamik von Raum und Verkehr entstehen Stadtviertel oder Ortschaften, die sich entweder durch kurze Distanzen, eine hohe Freiraumqualität und gute Erreichbarkeit mit dem Umweltverbund auszeichnen oder in denen weite Entfernungen dominieren, die nur mit einem eigenen PKW bewältigt werden können (Bild 1). Die Regionalplanung bietet die Möglichkeit, gerade auch die interkommunalen Verkehrsbeziehungen mit zu gestalten [1]. Ein Nebeneinander unterschiedlicher Nutzungen und Funktionen wie Versorgungs-, Arbeits- und Wohnraumangeboten kann Mobilität mit relativ wenig Verkehrsaufwand ermöglichen. Auch die Möglichkeit, ein attraktives ÖPNV-Angebot als Alternative zum privaten PKW- Verkehr bereitzustellen, hängt direkt mit der Siedlungsdichte und den potenziellen Nutzer*innen vor Ort zusammen [3]. Allerdings weisen empirische Untersuchungen auch auf die Grenzen direkter Wechselbeziehungen zwischen Raumstrukturen und Verkehrsgenese hin - und damit auch auf die Grenzen verkehrssparsamer Raumentwicklung [4]. So zeigen Studien z.B. den Effekt der sogenannten „residentiellen Selbstselektion“: ÖV-affine Menschen ziehen bevorzugt in verdichtete Quartiere, während autoaffine Menschen eher einen Wohnstandort im suburbanen Raum wählen. Dies relativiert die Vorstellung, dass kompakte Siedlungsstrukturen zu einer bestimmten Verkehrsmittelwahl anregen [5, 6]. Hinzu kommt, dass es sich in der Vergangenheit oftmals als schwierig erwiesen hat, die Steuerungspotentiale der Raumplanung zu heben [7]. Grundlegende gesellschaftliche Entwicklungstendenzen und politische Orientierungen steuern bislang in Richtung wachsender Verkehrsaufwände und stehen damit einer kompakten Raumentwicklung entgegen [8]. Dennoch kann die räumliche Planung grundsätzlich dazu beitragen, dass kompakte Siedlungsstrukturen mit einer hohen urbanen Dichte in Form von Nutzungsmischung entstehen, die zu einer Verringerung der Verkehrsaufwände beitragen können [9]. Verkehrssparsame Raumstrukturen und raumeffiziente Verkehrsformen können zwar nicht als allein hinreichende, aber als notwendige Bedingung für nachhaltiges Mobilitätsverhalten betrachtet werden. Planungsstrategien mit dem Ziel einer lebenswerten Region Wie kann eine nachhaltige Verkehrsentwicklung durch eine integrierte (Regional-) Planung konkret unterstützt werden? Der Regionalplanung stehen Planungsinstrumente zur Verfügung, deren Anwendung sich stark an den beiden Leitbildern der „Dezentralen Konzentration“ und der „Region der kurzen Wege“ orientiert. Das auf Bundesebene im Raumordnungsgesetz und im Raumordnungspolitischen Orientierungsrahmen verankerte Leitbild der „Dezentralen Konzentration“ verfolgt das Ziel, eine bundesweit ausgeglichene Raum- und Siedlungsstruktur zu entwickeln bzw. zu sichern. Großräumig wird eine Dezentralisierung angestrebt, kleinräumig dagegen eine Konzentration. Zentrale Orte übernehmen neben der Versorgung ihrer Einwohner festgeschriebene Versorgungs- und Entwicklungsfunktionen innerhalb einer Region. Es werden Grundzentren (täglicher Grundbedarf und Mindestmaß öffentlicher und privater Infrastruktur), Mittelzentren (herausgehobene Bündelungs- und Entlastungsfunktion; gehobener periodischer Bedarf wie Krankenhäuser, vielseitige Einkaufsmöglichkeiten, etc.) und Oberzentren (spezialisierter Bedarf wie z. B. Fachhochschulen/ Universitäten, Spezialkliniken, etc.) unterschieden. Dies beeinflusst auch die Verkehrsentwicklung innerhalb der Region: Grundzentren müssen kleinräumig an die einzelnen Ortsteile angebunden werden, während Mittelzentren Nutzungen und Funktionen über den täglichen Bedarf hinaus bündeln und wesentlich besser erreichbar sein sollten. Oberzentren gelten als zentrale Pole der Region, tragen einen Großteil des Verkehrsaufkommens und sind in der Regel sehr gut angebunden. Die Hierarchisierung der Zentralen Orte wird in den Regionalplänen bzw. Regionalen Raumordnungsprogrammen festgehalten und gibt damit Vorgaben für die lokale Ebene. Das Leitbild der „Region der kurzen Wege“ zielt darüber hinaus darauf ab, eine verkehrsintensive Raumentwicklung zu vermeiden und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die alltäglichen Aufgaben wie die Wege zu Arbeit und Ausbildung, die Versorgungswege sowie die Wege zu Schule und Kindergarten in möglichst kurzer Distanz zu bewältigen sind, ohne dazu auf ein Auto angewiesen zu sein [10]. Dieses Leitbild markiert einen Paradigmenwechsel zu der seit dem Wiederaufbau deutscher Städte ab den 1945er Jahren verfolgten Strategie einer „Autogerechten Stadt“ [1]. Die wesentlichen Elemente einer Region der kurzen Wege sind eine kompakte Siedlungsstruktur insbesondere entlang der ÖPNV-Achsen, Nutzungsmischung sowie die attraktive Gestaltung der öffentlichen Räume [1]. Ziel ist es, anteilig mehr Fußgänger-, Rad- oder öffentlichen Personennahverkehr zu fördern und den motorisierten Individualverkehr möglichst gering zu halten [10]. Neben verkehrsspezifischen Effekten kann sich dadurch auch die Landschaftszerschneidung und weitere Zersiedelung und Flächeninanspruchnahme reduzieren. Planungsprinzipien der „Region der kurzen Wege“ sind die Wohnraumverdichtung sowie die Multifunktionalität von Stadtquartieren und Ortschaften. Die Wohnraumverdichtung folgt dabei dem Prinzip „Innenentwicklung vor Außenentwicklung“, das heißt die Verdichtung bereits bebauter Quartiere (z. B. Konversionsflächen oder Industriebrachen) ist der Ausweisung von Bauland auf der grünen Wiese (z. B. Umwidmung von Ackerflächen o. ä.) vorzuziehen. Eine Klassifizierung von Funktionen im Raum kann dabei potentiell dazu beitragen, verkehrssparsame Strukturen zu schaffen oder zu erhalten - z. B., indem Gewerbe- und Wohngebiete als Vorranggebiete entlang von Schienenverkehrsachsen oder neue Siedlungsflächen als Vorranggebiete im Einzugsbereich vorhandener Siedlungskerne ausgewiesen werden. Aktuelle Herausforderungen für eine integrierte Regionalentwicklung im Kontext von Klimaschutz und Digitalisierung Aktuell rückt die Frage einer nachhaltigen Gestaltung von Verkehr im regionalen Kontext stärker in den Fokus. Spätestens seit erste Anzeichen klimatischer Veränderungen auch in Deutschland spürbar werden, wird die Notwendigkeit zu einem Umbau des Verkehrssystems in Richtung ökologischer Nachhaltigkeit zunehmend als dringlich wahrgenommen [11]. Szenarien zeigen, dass für eine Erreichung der Klimaschutzziele im Verkehr ein Umstieg auf Nullemissionsfahrzeuge nicht ausreichen wird [12]. Es braucht eine Transformation zu einem Mobilitätssystem, das mit weniger Verkehr auskommt und in dem ressourcenschonende Verkehrsmittel eine viel größere Rolle spielen als heute [13]. Eine verkehrssparsame Raumentwicklung kann hierbei eine zentrale Rolle spielen. In jüngster Zeit hat die gesellschaftliche Diskussion um eine nachhaltige Mobilitätsentwicklung deutlich an öffentlicher Prominenz gewonnen, was Internationales Verkehrswesen (73) 1 | 2021 24 INFRASTRUKTUR Regionalplanung dazu beitragen könnte, dass sich neue Umsetzungschancen für integrierte Planung ergeben [14]. Insbesondere auf lokaler Ebene fordern diverse Gruppierungen eine stärkere Förderung des Umweltverbunds und eine Neuaufteilung von Räumen zugunsten umweltschonender Verkehrsmittel und erhöhter Lebensqualität in der Stadt. Zugleich zeichnen sich Veränderungen der Verkehrsnachfrage im Kontext der Digitalisierung ab. Neue soziale Praktiken der Mobilität, etwa das spontane Mieten von Fahrzeugen mit dem Smartphone oder auch die Nutzung von Home Office und Telemeetings als Ersatz für räumliche Mobilität, verbreiten sich rasch. Aus der Perspektive einer verkehrssparsamen Raumentwicklung birgt die Digitalisierung sowohl Chancen als auch Risiken. Die Konturen eines „multioptionalen“ Verkehrssystems werden immer konkreter sichtbar - damit aber auch die Notwendigkeit, diese Entwicklungen so zu steuern, dass sie insgesamt zu einem Systemwechsel in Richtung Nachhaltigkeit beitragen [15]. Studien weisen zum Beispiel darauf hin, dass autonome Fahrzeuge zukünftig zu einer weiter steigenden individualisierten Verkehrsnachfrage führen und dispersen Raumstrukturen Vorschub leisten könnten [16]. Vor diesem Hintergrund erscheint die Frage umso dringlicher, mit welchen Instrumenten räumliche Planung auf die Verkehrsentwicklung einwirken und Verkehrsvermeidung und -verlagerung unterstützen kann. Eine der zentralen Fragen lautet dabei, wie eine nachhaltige Mobilität auch im suburbanen und ländlichen Raum gestärkt werden kann. Neue Lösungsansätze erforschen und erproben: Aktuelle Beispiele aus der Region Hannover Diese Fragen stellen sich mit hoher Aktualität auch in der Region Hannover. Als für die Regionalplanung zuständige Instanz verfolgt sie seit Jahrzehnten eine ambitionierte Strategie der Raumentwicklung im Sinne einer Region der kurzen Wege [10]. In Form von verschiedenen aktuellen Projekten wird hier daran gearbeitet, Lösungen für neue Herausforderungen nachhaltiger Mobilität gerade auch in suburbanen und ländlichen Bereichen sowie in der Stadt-Umland-Beziehung zu entwickeln. Ein zentrales Handlungsfeld ist dabei der öffentliche Verkehr. Gerade in vielen suburbanen und ländlichen Räumen passt das ÖPNV-Angebot oft nicht mehr zu den Bedürfnissen der Menschen. Die Region Hannover will daher erproben, inwiefern digitale Technologien Potentiale für ein besseres Angebot jenseits des Linienverkehrs bieten. Aktuell bereitet die Region deshalb die Erprobung von sogenannten „On-demand-Verkehren“, also einer Bedienung ohne festen Fahrplan und feste Routenführung, in drei Gemeinden vor. Am 1. Juni 2021 startet das On-demand- Angebot in den drei Testkommunen Sehnde, Wedemark und Springe (Bild 2). Das Angebot ist als Bestandteil des ÖPNV in den regulären GVH-Tarif integriert, eingesetzt werden barrierefreie Kleinbusse. Ziel ist es, den Fahrgästen eine deutlich bessere Bedienqualität zu bieten, die sich sowohl vom vorherigen Linienverkehr als auch vom klassischen Anrufsammeltaxi (AST) abhebt. Statt einer einstündigen Vorbuchungszeit soll das neue Angebot eine maximale Wartezeit von 20 bis 30 Minuten bieten. Die Buchung per App soll die Transparenz für den Fahrgast erhöhen und damit ein besseres Nutzungsgefühl schaffen. Das Branding der Kleinbusse als „Sprinti“ lehnt sich bewusst an die Marke „SprintH“ an, mit der die hochfrequenten Schnellbusse in der Region bezeichnet werden. Dies soll unterstreichen, dass es sich hierbei um eine qualitative Aufwertung des ÖPNV-Angebots in ländlichen Räumen der Region handelt, mit der das Ziel einer „Mobilitätswende“ auch in den kleineren Gemeinden der Region verfolgt wird. Die Unterschiede zwischen urbanen, suburbanen und ländlichen Räumen einer Region sind auch Thema des Forschungsprojekts „MoveMe“. Das Kooperationsprojekt zwischen der TU Dortmund und dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) erforscht die Herausforderung, nachhaltige Mobilität in unterschiedlichen Raumtypen - also auch jenseits der Großstadt - zu fördern. Zentraler Praxispartner ist die Region Hannover (siehe Bild- 3). Im Zentrum des Forschungskonzepts steht die vergleichende Untersuchung von Ansatzpunkten für nachhaltige Mobilität in drei verschiedenen Raumtypen innerhalb der Region. Im Rahmen des Projekts, das bis zum 30. Juni 2024 läuft, werden in ausgewählten Gemeinden verschiedene empirische Untersuchungen durchgeführt. Ein Teilprojekt untersucht dabei die Potentiale von Mikromobilität in unterschiedlichen Raumtypen. Der Fokus liegt auf intermodalen Wegen im Pendelverkehr zwischen Stadt und Umlandgemeinden. Am Beispiel von E-Scooter-Sharing soll untersucht werden, wie neue Mobilitätsangebote auch in suburbanen und ländlichen Räumen eingesetzt werden können. Ein zweites Teilprojekt befasst sich mit der Akzeptanz von Maßnahmen, die dem Autoverkehr Raum entziehen: Was sind die Bedingungen dafür, dass Maßnahmen zur Umverteilung von öffentlichen Räumen - zum Beispiel bei der Umwidmung von Autoverkehrsspuren in Fahrradspuren - bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen auf Akzeptanz stoßen? Bild 2: Gemeinden, die am On-demand-Angebot Sprinti teilnehmen Eigene Darstellung