Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2021-0007
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Automatische Gepäckaufgabe am Bahnhof
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Andrei Popa
Mathias Böhm
Olaf Milbredt
Andreas Deutschmann
Das Mitführen großer Gepäckstücke erschwert vielen Fahrgästen die Bahnfahrt. Längere Einstiegs- und Zughaltezeiten, Schwierigkeiten beim Verstauen von Gepäckstücken, verstellte Sitze und Gänge bedeuten geringeren Fahrgastkomfort. Ein automatischer Gepäckservice ähnlich dem am Flughafen könnte die Attraktivität des Hochgeschwindigkeitsschienenverkehrs verbessern und mehr Personen zur Bahnfahrt animieren. Dieser Beitrag beschreibt eine Parameterstudie, bei der mittels Simulationen die notwendige Anzahl an Gepäckaufgabeautomaten für einen Bahnhof bestimmt wurde.
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Internationales Verkehrswesen (73) 1 | 2021 26 Automatische Gepäckaufgabe am Bahnhof Studie zur Optimierung der Anzahl von Gepäckaufgabeautomaten am Beispiel der Next Generation Station Gepäckaufgabe, Automatisierung, Fahrgastsimulation, Bahnhof, Next Generation Station Das Mitführen großer Gepäckstücke erschwert vielen Fahrgästen die Bahnfahrt. Längere Einstiegs- und Zughaltezeiten, Schwierigkeiten beim Verstauen von Gepäckstücken, verstellte Sitze und Gänge bedeuten geringeren Fahrgastkomfort. Ein automatischer Gepäckservice ähnlich dem am Flughafen könnte die Attraktivität des Hochgeschwindigkeitsschienenverkehrs verbessern und mehr Personen zur Bahnfahrt animieren. Dieser Beitrag beschreibt eine Parameterstudie, bei der mittels Simulationen die notwendige Anzahl an Gepäckaufgabeautomaten für einen Bahnhof bestimmt wurde. Andrei Popa, Mathias Böhm, Olaf Milbredt, Andreas Deutschmann S chon zu Beginn des Eisenbahnzeitalters entwickelten Eisenbahngesellschaften Lösungen für den Transport des Fahrgastgepäcks. Dieser über 150 Jahre existierende Service ist heute nicht mehr fester Bestandteil im Schienenpersonenverkehr [1]. Gepäckkonzepte, bei denen das Fahrgastgepäck direkt im Zug losgelöst vom Fahrgast transportiert wird, existieren heute noch vereinzelt bei Amtrak in den USA oder beim EuroStar. Für die Abgabe muss der Fahrgast zwischen 30 bis 120 Minuten einplanen. Die Reisekette ist dabei nicht durchgängig [2, 3]. In Deutschland wird das Fahrgastgepäck derzeit entweder im Zug durch den Fahrgast selbst oder durch den Dienstleister Hermes mit einer eintägigen Vorbzw. Nachlaufzeit transportiert. Im Vergleich dazu bieten Gepäcklieferdienste in Japan dem Kunden für 12.000 Standorte eine Zustellung am selben Tag an [4]. City-Check-In-Konzepte wie bei der Kowloon Station in Hongkong oder beim City Airport Train (CAT) am Bahnhof Wien Mitte zeigen, dass eine durchgehende Reisegepäckkette zum Flughafen bereits heute funktioniert, wobei diese Konzepte durch großen manuellen INFRASTRUKTUR Wissenschaft Next Generation Station Visualisierung/ CGI: Christian Höhn, Benjamin Wiesse Internationales Verkehrswesen (73) 1 | 2021 28 INFRASTRUKTUR Wissenschaft Aufgabedauer Reisegepäck Auf Basis von Herstellerangaben für Gepäckaufgabeautomaten, ohne Berücksichtigung der Ankunftsverteilung sowie deren Überlagerungen und ohne Variation der Prozesszeit, wurden für die Abfertigung der Fahrgäste an der NGS ursprünglich 40 Gepäckaufgabeautomaten abgeschätzt. Diese Anzahl dient daher als Startwert für die anschließenden Simulationen. Da die Aufgabedauer für ein Reisegepäckstück an einem Gepäckautomaten nicht für jeden Fahrgast identisch ist und u. a. von dessen individuellen Fähigkeiten abhängt, unterliegt die Aufgabezeit zufälligen Schwankungen. Laut einer empirischen Studie beträgt die mittlere Dauer für die Aufgabe eines Koffers an einem Gepäckaufgabeautomaten an einem Flughafen 2,23 Minuten mit einer Standardabweichung von 1,11 Minuten [10]. Diese Werte wurden im Modell hinterlegt und für alle durchgeführten Simulationen zu Grunde gelegt. Laufgeschwindigkeit der Fahrgäste Die Laufgeschwindigkeit der Fahrgäste wurde in Form einer Wahrscheinlichkeitsverteilung hinterlegt, basierend auf John Fruin. Aufgrund seiner Messungen wurde eine Normalverteilung mit einem Mittelwert von 4,9-km/ h und einer Standardabweichung von 0,918 km/ h verwendet. Weiterhin wurde angenommen, dass die minimale Gehgeschwindigkeit bei 2,47 km/ h, die maximale bei 6,18 km/ h liegt [11]. Angenommene Zahl an Zügen und Fahrgästen Es wird vorausgesetzt, dass von 06: 00 Uhr bis 23: 00 Uhr alle fünf Minuten ein NGT HST vom Bahnhof abfährt, wodurch sich in Summe 204 Abfahrten pro Tag ergeben. Im Vergleich zum Hauptbahnhof in Frankfurt (Main) fahren zu den Hauptreisezeiten ebenfalls etwa zwölf ICE-Züge pro Stunde ab [12], was eine ähnliche Leistungsfähigkeit bezogen auf die Fahrzeuganzahl pro Tag bedeutet. Im Projekt NGT wurde für den HST eine Fahrgastwechselquote von 50 % angenommen [13]. Diese Rahmenbedingung wird auch hier als Grundlage für die Berechnung der Anzahl der Einsteiger herangezogen, was bedeutet, dass durchschnittlich 400 Fahrgäste pro Zug einsteigen. Da nicht davon auszugehen ist, dass die Anzahl der Einsteiger pro Zug über den Betriebstag konstant bleibt, wurde diese nach einer Gauß-Verteilung mit dem Erwartungswert von 400 Personen und einer Standardabweichung von 150 Personen generiert. Somit wurde eine Fluktuation der Einsteiger im Tagesverlauf berücksichtigt. Aus der generierten Anzahl an Fahrgästen pro Zug wurde die Anzahl derer bestimmt, die einen Reisekoffer mit sich führen. Auf Grundlage der Arbeit von [14], bei der umfassende Daten zum Thema Gepäckaufkommen in Reisezügen erhoben worden sind, wurde hier definiert, dass 62 % der Fahrgäste mittlere und große Koffer sowie Reisetaschen oder Rucksäcke ab 60 cm mit sich führen, welche an einem Gepäckautomaten aufgegeben werden müssen (vgl. Luftfahrt). Insgesamt wurden auf Basis der o. g. Datengrundlagen für den betrachteten Zeitraum von 05: 00 bis 24: 00-Uhr 82.148 Einsteiger generiert, davon 51.035 mit Reisegepäck. Die Anzahl der Einsteiger mit Gepäck pro Zug variiert von 116 zum Zeitpunkt 08: 15 Uhr bis 385 zum Zeitpunkt 10: 35 Uhr. Dabei weist die Anzahl der Einsteiger mit Gepäck pro Zug vereinzelt Täler (z. B. im Bereich von 08: 15 Uhr) und Spitzen (z. B. im Bereich von 16: 45 Uhr) auf (Bild 3). Im direkten Zusammenhang mit der generierten Anzahl der Fahrgäste mit Reisegepäck je Zug steht deren Ankunftsverteilung. Alle abfahrenden Fahrgäste mit Reisegepäck wurden mit einer fest zugeordneten Zugnummer generiert. Alle zu einer entsprechenden Zugnummer zugeordneten Einsteiger werden in einem bestimmten Zeitfenster vor der Abfahrt ihres Zuges ermittelt. Diese Generierung basiert auf einer horizontal verschobenen Normalverteilung, mit einer mittleren Ankunftszeit von 30 Minuten vor Abfahrt des Zuges und einer Standardabweichung von 4 (Bild 4). Bei der Ermittlung der Ankunftsverteilung wurde eine feste Pufferzeit berücksichtigt, die dafür sorgt, dass alle Fahrgäste mindestens 15 Minuten vor Abfahrt ihres Zuges im Eingang der Zwischenebene generiert werden. Somit ist die gesamte Verteilung um 15 Minuten auf der x-Achse verschoben. Damit soll gewährleistet werden, 0 50 100 150 200 250 300 350 400 Anzahl Fahrgäste Abfahrtzeit Züge Bild 3: Generierte Anzahl der Fahrgäste mit Reisegepäck pro Zug 0 0.02 0.04 0.06 0.08 0.1 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 Zeit bis Abfahrt des Zuges [min] Mittelwert 30 Standardabweichung 4 Bild 4: Ankunftsverteilung der Fahrgäste vor Abfahrt des Zuges Internationales Verkehrswesen (73) 1 | 2021 30 INFRASTRUKTUR Wissenschaft der unterschiedlichen Prozesszeit führen zu Abweichungen der mittleren Wartezeiten (Tabelle 2, Bild 5). Mit Hilfe der berechneten Warteschlangenlängen wurde die Größe des benötigten Wartebereiches für das LoS-Optimum nach Tabelle 1 berechnet. Bei 110 Gepäckaufgabestellen ergibt sich ein minimaler Wartebereich von ca. 2.600 m 2 , bei 117 ca. 930 m 2 und bei 125 ca. 802-m 2 . Die Zwischenebene der NGS bietet eine Brutto- Fläche von ca. 25.000 m 2 . Damit kann eine ausreichende Wartefläche vor den Gepäckaufgabestationen ausgewiesen werden. Um den Einfluss der Auslastung der Züge mit Fahrgästen auf Wartezeiten und Warteschlangenlängen abzuschätzen, wurden zusätzlich vier weitere Stichproben von Fahrgästen mit Reisegepäck pro Zug generiert. Dabei wurden die gleiche Verteilung zur Generierung der Fahrgäste pro Zug und der Anteil der Fahrgäste mit Reisegepäck benutzt. Diese Stichproben unterscheiden sich in ihren Minimalbzw. Maximalwerten und weisen eine unterschiedliche Verteilung im Tagesgang auf. Die Gesamtanzahl an generierten Fahrgästen mit Reisegepäck variiert um ca. 0,01 %. In Bild 6 sind die Ergebnisse aller Stichproben bei 125 Gepäckabgabestellen dargestellt. Der blaue Graph beschreibt die gemittelten Wartezeiten der fünf Stichproben innerhalb von 10-Minuten-Intervallen. Da die Mittelwerte der einzelnen Stichproben Abweichungen besitzen, wurden diese Abweichungen zur Bestimmung der Standardabweichung der Gesamtheit hinzugenommen. In der folgenden Abschätzung wird die Varianz, d.- h. das Quadrat der Standardabweichung, verwendet (Formel 1): Var w w w w i i i i ± ( ) ( ) ≤ − ( ) + ∑ ∆ 2 w w w w i i + − + + ∑ ∑ ∆ ∆ 2 (1) w i mittlere Wartezeit der einzelnen Simulationsdurchläufe w Mittelwert der mittleren Wartezeiten w i ) ∆ Standardabweichung der mittleren Wartezeit des einzelnen Simulationsdurchlaufs w ∆ Mittelwert der Standardabweichung der mittleren Wartezeit der einzelnen Simulationsdurchläufe Der orangefarbene Graph zeigt die Mittelwerte der kumulierten Warteschlangenlängen der fünf Stichproben. Die Standardabweichung der Mittelwerte wurde analog zu den Standardabweichungen der Mittelwerte der Wartezeiten bestimmt. Auf der linken Seite der y-Achse ist die mittlere Wartezeit in Minuten und auf der rechten Seite die mittlere kumulierte Anzahl der Personen in der Warteschlange, beides bezogen auf einen Zehn-Minuten-Bereich, angegeben. Durch die Korrelation von Wartezeit und Anzahl der wartenden Personen weisen die dargestellten Graphen einen qualitativ ähnlichen Verlauf mit unterschiedlich starker Ausprägung auf. Zum Beispiel schwankt die kumulierte Warteschlangenlänge in der Zeit von ca. 14: 50 Uhr bis ca. 21: 50 Uhr um den Wert 510, während die mittlere Wartezeit in der Zeit von ca. 14: 50 Uhr bis ca. 19: 10 Uhr um den Wert 2,6 min fluktuiert. Die starken Schwankungen im Bereich von ca. 11: 30 Uhr bis ca. 14: 10 Uhr und von ca. 21: 00 Uhr bis 23: 10 Uhr begründen sich auf den Verlauf der unterschiedlichen Stichproben im Tagesgang. Beispielsweise werden bei Stichprobe 3, im Zeitraum von 21: 05 Uhr bis 22: 05 Uhr, 4.136 Fahrgäste mit Reisegepäck erwartet, während die Fahrgastzahl im gleichen Zeitraum der Stichprobe 1 bei 3.157 liegt. Die mittlere Wartezeit inkl. Standardabweichung weist in einigen Bereichen höhere Werte als die Fünf- Minuten-Grenze auf. Erst bei 140 Gepäckaufgabestellen unterschreiten die mittleren Wartezeiten inklusive Standardabweichung bei allen Stichproben die Fünf-Minuten-Grenze. Bei dieser Anzahl an Gepäckaufgabestellen verringert sich auch die Varianz der simulierten Wartezeiten (Bild 7). Der Graph zeigt, dass die Fahrgäste über den ganzen Tag verteilt auf mindestens eine prozessie- 0 100 200 300 400 500 600 700 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 wartende Personen Wartezeit [min] Uhrzeit Mittlere Wartezeit Mittelere kumulierte Warteschlangenlänge Bild 6: Mittlere Wartezeit und mittlere kumulierte Warteschlangenlänge bezogen auf einen Zehn-Minuten-Bereich mit Abweichungen für Stichproben 1 bis 5 bei 125 Gepäckabgabestellen 0 100 200 300 400 500 600 700 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 wartende Personen Wartezeit [min] Uhrzeit Mittlere Wartezeit Mittelere kumulierte Warteschlangenlänge Bild 7: Mittlere Wartezeit und mittlere kumulierte Warteschlangenlänge bezogen auf einen Zehn-Minuten-Bereich mit Abweichungen für Stichproben 1 bis 5 bei 140 Gepäckabgabestellen
