Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2021-0014
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Treiber und Getriebener - Thesen zum Wandel des ÖPNV
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Jakob Zwiers
Lisa Büttner
Siegfried Behrendt
Ingo Kollosche
Wolfgang Schade
Christian Scherf
Simon Mader
Angetrieben von neuen Akteuren und Innovationen, vor allem in den Mobilitätsmärkten der Mikromobilität, kollaborativen und intermodalen Mobilität, sowie von allgemeinen gesellschaftlichen wie technologischen Trends entstehen neue Mobilitätsdienstleistungen. Sukzessive durchwirken diese Trends den Mobilitätssektor und bewegen somit auch zunehmend den öffentlichen Verkehr. In dieser Dynamisierung kann der ÖPNV zukünftig verstärkt unter Handlungsdruck geraten, jedoch auch neue Entwicklungschancen wahrnehmen. Das Projekt „ÖPNV zwischen Gemeinwohl und Kommerz“ untersucht im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung diese Dynamiken und stellt erste Thesen vor.
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Internationales Verkehrswesen (73) 1 | 2021 54 Treiber und Getriebener - Thesen zum Wandel des ÖPNV ÖPNV, New Mobility, Mehrebenen-Modell, Transformation, Digitalisierung, Geschäftsmodell, Wertschöpfung Angetrieben von neuen Akteuren und Innovationen, vor allem in den Mobilitätsmärkten der Mikromobilität, kollaborativen und intermodalen Mobilität, sowie von allgemeinen gesellschaftlichen wie technologischen Trends entstehen neue Mobilitätsdienstleistungen. Sukzessive durchwirken diese Trends den Mobilitätssektor und bewegen somit auch zunehmend den öffentlichen Verkehr. In dieser Dynamisierung kann der ÖPNV zukünftig verstärkt unter Handlungsdruck geraten, jedoch auch neue Entwicklungschancen wahrnehmen. Das Projekt „ÖPNV zwischen Gemeinwohl und Kommerz“ untersucht im Auftrag der Hans- Böckler-Stiftung diese Dynamiken und stellt erste Thesen vor. Jakob Zwiers, Lisa Büttner, Siegfried Behrendt, Ingo Kollosche, Wolfgang Schade, Christian Scherf, Simon Mader D er ÖPNV in Deutschland steht nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie unter Druck, sondern seit Aufkommen der „New Mobility“. Um die Auswirkungen dieser Dienste thematisieren zu können, erscheint es unerlässlich, nachzuvollziehen, dass aufgrund vielzähliger neuer Mobilitätsangebote der gesamte Mobilitätssektor bereits seit über einem Jahrzehnt von einer hohen Dynamik strukturellen Wandels zeugt. Dieser Wandel bewegt zunehmend auch den ÖPNV. Im Wechselspiel zwischen Digitalisierung, Automatisierung und Elektrifizierung einerseits sowie der zunehmenden Mobilitätswende vor dem Hintergrund zu erfüllender Ziele und Nutzerwünsche zur Nachhaltigkeit andererseits, entstehen neue Technologien, Geschäftsmodelle und Nutzungsmuster. Vom autonomen Fahren über „Dieselgate“ und Elektromobilität bis hin zur plattformbasierten Shared Mobility changieren die Themen der Mobilität von einem Skandal zur nächsten Innovation. Zwar galt dies zunächst vor allem für den motorisierten Individualverkehr (MIV), doch scheinen sich unter dem Stichwort der „New Mobility“ vermehrt ebensolche Veränderungen im Bereich des ÖPNV zu vollziehen. 1 Dynamisierung des ÖPNV Wesentliche Treiber der „New Mobility“ und ihrer veränderten Wertschöpfung sind bisher vor allem private Mobilitätsanbieter, IT-Konzerne und Startups als Sharing- und Plattformbetreiber sowie die Akzeptanz junger, digital-affiner Mobilitätsnutzer. So entstehen neue Mobilitätsdienstleistungen in den neuen Mobilitätsmärkten der Mikromobilität sowie kollaborativen und intermodalen Mobilität. Kommunen pilotieren erste Angebote einer „Mobility-as-a-Service“ (MaaS) oder bieten Apps als Interfaces zu diesen neuen Geschäftsfeldern an. Auch wenn sich viele Ansätze noch im Experimentierstadium befinden, deutet sich mit diesen Entwicklungen bereits ein Prozess der Hybridisierung zwischen Formen des privaten und öffentlichen Verkehrs an. Dadurch verändern sich nicht nur die Wert- Foto: Planet Fox / pixabay MOBILITÄT ÖPNV Internationales Verkehrswesen (73) 1 | 2021 57 ÖPNV MOBILITÄT strombasierten Mobilitätsdienstleistungen und aktiver Mobilität realisiert. Im Vergleich zum heutigen Privat-PKW wird dieses System sehr viel ressourcenschonender (insbesondere flächeneffizienter) sein. These 4: Kommunen und kommunale Verkehrsunternehmen müssen verstärkt zum Treiber des Mobilitätswandels werden und bei der Ausgestaltung von integrierten Mobilitätsdienstleistungen mitwirken. Aufgrund zunehmender Flächenknappheit, Klimaschutzbedarfe und Umweltbelastung bei einem gleichzeitig wachsenden Mobilitätsbedürfnis und ansteigendem Verkehr ist der Handlungs- und Investitionsdruck hoch. Herausforderungen sind etwa neue Anreizsysteme, der Ausbau der (digitalen) Infrastrukturen - u. a. 5G-Netz, Mobility Hubs, E-Ladesäulen, E-Roaming, Mobility Data Services und Mobility-Roaming. Hinzu kommt die Förderung von nachhaltigen Lebensstilen, die in zivilgesellschaftlichen Initiativen für mehr Lebensqualität in Städten eingefordert werden. Das Berliner Mobilitätsgesetz kann hier als ein besonderer Fall hervorgehoben werden. Lösungsansätze könnten in einer stärker verzahnten, kommunalen Umwelt-, Digital- und Verkehrspolitik liegen, die eine veränderte Stadt- und Raumplanung fördert. Der MIV sollte dabei nicht mehr gegenüber anderen Mobilitätsformen im Stadtraum privilegiert werden. Ein besonderer Handlungsbedarf bei datenbasierten Mobilitätsdienstleistungen besteht im Bereich kommunaler Datensouveränität (besonders gegenüber IT-Unternehmen und Plattformanbietern). Förderwürdig sind zudem datenrechtliche Kompetenzen in den Kommunen als Bedingung zur Erfüllung der Daseinsvorsorge unter Kenntnis der Lage vor Ort. These 5: Die Corona-Krise bewirkt Veränderungen des ÖPNV wie auch der neuen Mobilitätsdienste. Wirtschaftlicher Druck und Handlungsbedarf entsteht gegenwärtig durch den Rückgang der Fahrgastzahlen im ÖPNV. Auch Anbieter neuer Mobilitätsdienstleistungen strukturieren um und konsolidieren sich in neuen Akteurs-Arrangements. Kurzfristig müssen besonders junge Unternehmen sogar ihr Geschäft aufgeben. Noch ist offen, wie dauerhaft und tiefgreifend diese Veränderungen sein werden und wie stark die Erbringung der Daseinsvorsorge zukünftig herausgefordert wird. Ebenso entsteht ein Innovationsdruck, im Bereich der Digitalisierung und User Experience (Nutzererfahrung) agiler zu werden und neue Angebote in das Leistungsportfolio zu integrieren. These 6: Neue Mobilitätsdienstleistungen sind bisher eher als eine integrative Ergänzung des ÖPNV zu verstehen. Vor diesem Hintergrund ließe sich thesenhaft von einer sukzessiven Hybridisierung des ÖPNV und des Individualverkehrs sprechen. Die vorhandene Wertschöpfungsstruktur des ÖPNV bleibt jedoch zunächst grundsätzlich unhinterfragt. Vielmehr wird mit neuen Mobilitätsdienstleistungen das bisherige Angebot sukzessive erweitert. Der ÖPNV transformiert sich daher im Sinne einer adaptiven Rekonfiguration von Akteuren, Technologien, Geschäftsmodellen und Nutzungsmustern. Die Erschließung neuer bei gleichzeitiger Bewahrung alter Wertschöpfungsmuster kann verstärkt Inkompatibilität und Ineffizienz im ÖPNV bewirken. Elaborierte ÖPNV-Anbieter scheinen nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Wahrung der Daseinsvorsorge beständig zu bleiben. Direkter Wettbewerb findet daher verstärkt im Bereich neu adaptierter Nischen, also mit den neuen Mobilitätdienstleistungen statt. Ziel der Hybridisierung muss es sein, Rahmen auszuloten in denen zusätzliche, integrierte Mobilitätsdienste nicht zu mehr Ineffizienz im ÖPNV führen, sondern zu Synergien und zusätzlicher Nachfrage. Zwischenfazit Prospektiv besteht ein zunehmender Gestaltungsbedarf des Verhältnisses zwischen markt- und gemeinwohlorientierten Formen des ÖPNV. Die Thesen zeigen, dass besonders im Kontext der Daseinsvorsorge neue Mobilitätsdienstleistungen als ein Möglichkeitsfenster genutzt werden könnten. Öffentliche Mobilität kann mittels neuer Wertschöpfungsstrukturen zwischen Markt und Gemeinwohl entwickelt werden, um eine flächeneffiziente, nachhaltige und sozial-gerechte Mobilität auf neue Weise zu verwirklichen. Dafür ist es aber notwendig, ein neues Mobilitätssowie Wertschöpfungsverständnis des ÖPNV zu etablieren. Besonders wäre der Verkehr allgemein integrierter zu organisieren (z. B. durch den MaaS-Ansatz). Als eine fundamentale Infrastruktur müsste der ÖPNV verstärkt im Sinne einer erweiterten (gesellschaftlichen) Wertschöpfung mit normativer Ausrichtung (hin zu mehr Nachhaltigkeit und Inklusion) verstanden werden, die die Wertschöpfung in anderen Arbeits- und Lebensbereichen erst ermöglicht. Besondere Aufmerksamkeit ist bei der Gestaltung der Daseinsvorsorge und somit der Infrastrukturpolitik auf die Entwicklung einer bereits global agierenden Digitalbzw. Datenökonomie sowie auf die interkommunale Kooperation der Gebietskörperschaften zu richten. Dies wird die kommunale Governance vor neue Herausforderungen stellen. ■ 1 Der Begriff „New Mobility“ bezeichnet definitorisch keinen fest abgesteckten Begriff. Allgemein im Mobilitätsdiskurs angeführt, um Veränderungen zu indizieren, umfasst „New Mobility“ alle neuartigen Mobilitätsdienstleistungen. Diese werden durch neue digitale Technologien und innovative Geschäftsmodelle seitens mitunter völlig neuer Akteure im Mobilitätsbereich ermöglicht und vernetzt und gestalten so ein neues Mobilitätsverhalten. 2 Die vollständige Transformationsanalyse erschien mit dem Titel „Wandel des öffentlichen Verkehrs in Deutschland - Veränderung der Wertschöpfungsstrukturen durch neue Mobilitätsdienstleistungen“ als Band 451 in der Reihe „Study“ bei der Hans-Böckler-Stiftung und wurde innerhalb des Forschungsverbunds „Ökonomien der Zukunft“ im Projekt „ÖPNV zwischen Gemeinwohl und Kommerz“ durchgeführt (Projekt-Nr. 2019-547-3). Der Link zur Publikation auf der Projektseite: https: / / t1p.de/ hbs-oepnv 3 Geels, F. (2002): Technological transitions as evolutionary reconfiguration processes: a multi-level perspective and a case-study. In: Research Policy 31, S. 1257-1274 Lisa Büttner Wiss. Mitarbeiterin Bereich „Mobilität & Urbanität“, IZT - Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung, Berlin l.buettner@izt.de Wolfgang Schade, Dr. Geschäftsführer und wiss. Leiter, M-Five GmbH Mobility, Futures, Innovation, Economics, Karlsruhe wolfgang.schade@m-five.de Ingo Kollosche Forschungsleiter Bereich „Zukunftsforschung & Transformation“, IZT - Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung, Berlin i.kollosche@izt.de Christian Scherf, Dr. Wiss. Berater, M-Five GmbH Mobility, Futures, Innovation, Economics, Karlsruhe christian.scherf@m-five.de Jakob Zwiers Wiss. Mitarbeiter Bereich „Ressourcen, Wirtschaften & Resilienz“, IZT - Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung, Berlin j.zwiers@izt.de Siegfried Behrendt, Dr. Forschungsleiter Bereich „Ressourcen, Wirtschaften & Resilienz“, IZT - Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung, Berlin s.behrendt@izt.de Simon Mader Wiss. Berater, M-Five GmbH Mobility, Futures, Innovation, Economics, Karlsruhe simon.mader@m-five.de
