eJournals Internationales Verkehrswesen 73/1

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2021-0016
21
2021
731

Stammkunden des öffentlichen Nahverkehrs in Krisen optimal ansprechen

21
2021
Falk Bischoff
Fabian Haunerland
Clemens Kahrs
Gertraud Schäfer
Wie gelingt es den Akteuren des öffentlichen Personenverkehrs, durch geeignete Kommunikation die Bindung ihrer Stammkunden trotz Krisen zu erhöhen? Eine Masterarbeit an der Fakultät Verkehrswissenschaften „Friedrich List“ der TU Dresden untersuchte 2020 anhand von Krisen der Vergangenheit, welche Potenziale die Stammkundenkommunikation zur Kundenbindung in der ÖV-Branche birgt. Aus den Ergebnissen lassen sich Empfehlungen ableiten, wie der ÖV bei länger anhaltenden Einschränkungen agieren soll, um Nachfrage- und Einnahmekrisen zu verhindern oder abzumildern.
iv7310062
Internationales Verkehrswesen (73) 1 | 2021 62 Stammkunden des öffentlichen Nahverkehrs in Krisen optimal ansprechen Bedeutung und Beitrag der aktiven Stammkundenkommunikation vor und in Krisenzeiten ÖPNV, Kundenbindung, Krisenkommunikation, Stammkundenkommunikation, Typenbildende Inhalts analyse, Experteninterview Wie gelingt es den Akteuren des öffentlichen Personenverkehrs, durch geeignete Kommunikation die Bindung ihrer Stammkunden trotz Krisen zu erhöhen? Eine Masterarbeit an der Fakultät Verkehrswissenschaften „Friedrich List“ der TU Dresden untersuchte 2020 anhand von Krisen der Vergangenheit, welche Potenziale die Stammkundenkommunikation zur Kundenbindung in der ÖV-Branche birgt. Aus den Ergebnissen lassen sich Empfehlungen ableiten, wie der ÖV bei länger anhaltenden Einschränkungen agieren soll, um Nachfrage- und Einnahmekrisen zu verhindern oder abzumildern. Falk Bischoff, Fabian Haunerland, Clemens Kahrs, Gertraud Schäfer S tammkunden sind die ökonomisch wichtigste Kundengruppe vieler Verkehrsunternehmen in Deutschland 1 . Sie generieren ca. 80 % der Nachfrage und 50 % der Einnahmen 2 (vgl. Bild 1). Zudem erweisen sie sich in Krisen treuer als andere Kundengruppen. Diese besondere Relevanz lässt die Branche darüber nachdenken, wie Stammkunden trotz krisenbedingter Einschränkungen gehalten werden können. Motivation und Bedeutung von Stammkunden Aus bereits überwundenen Krisen im öffentlichen Personenverkehr lassen sich verallgemeinerbare Schlüsse für die Kommunikationspolitik der Verkehrsunternehmen ziehen. Praktische Erfahrungen der Akteure vor Ort sind essenziell für die Ableitung von Handlungsempfehlungen. Da die Betrachtung der Stammkundenkommunikation in Krisensituationen bisher nicht explizit untersucht wurde, soll mit diesem Beitrag eine Wissenslücke im Verkehrsmarketing geschlossen werden. Ausgangspunkt für die Analyse ist die Einordnung des Begriffs der Krise. Sie wird definiert als ein durch einen zentralen Auslöser unerwartet eintretendes Ereignis, welches sich durch schwer kalkulierbare und prognostizierbare Wechselwirkungen und Folgen auszeichnet. Entscheidungen in Krisensituationen werden unter Unsicherheit Foto: Andy Leung / pixabay MOBILITÄT ÖPNV Internationales Verkehrswesen (73) 1 | 2021 65 ÖPNV MOBILITÄT 3. Stakeholder-Betreuung und Netzwerkpflege Verkehrsunternehmen, die sowohl im Vorfeld als auch während einer Krise regelmäßig Kontakt zu Interessengemeinschaften, Bürgern, Politikern und Medien pflegen, können diese Kontakte in der Krise als Multiplikatoren und Fürsprecher einbeziehen und sich dadurch die Bewältigung der Krise selbst sowie die Kundenkommunikation erleichtern. 9 4. Beseitigung von Hürden für eine individuellere Kommunikation Auf eine direkte und individuelle Stammkundenkommunikation verzichtet der ÖV häufig mit Verweis auf externe oder rechtliche Hürden. Der Abbau solcher Hürden bei der Kundenansprache sollte aktiv vorangetrieben werden, anstatt diese als gegeben hinzunehmen. Bezüglich der wichtigen Themen rund um den Datenschutz bedeutet dies, die Datenbasis zu den Kontaktkanälen deutlich zu verbreitern und die Freigabe zur Nutzung von Kontaktdaten frühzeitig einzuholen. In Verkehrsverträgen und Betrauungen sollten zudem Zuständigkeiten für die Kommunikation bei verschiedenen Kommunikationsanlässen eindeutig festgelegt werden, auch um das besondere Informationsbedürfnis von Stammkunden in Krisen zu berücksichtigen. Zwischen Aufgabenträgern, Verkehrsverbünden und Verkehrsunternehmen sind strategische und operative Kundenansprache abzustimmen und messbare Mindestqualitäten für absehbare Kommunikationsanlässe festzulegen. Gerade Stammkunden sollten zu allen Anlässen eine durchgängige und einheitliche Benutzeroberfläche über alle ÖV-Akteure wahrnehmen. Sind Kontaktdaten vorhanden, sollten diese mithilfe des Datenmanagements leicht nutzbar gemacht werden. Die Verknüpfung der Kundenstammdaten mit ÖPNV-Angebots- und Geodaten erlaubt (nicht nur im Zusammenhang mit Krisen) eine detaillierte Selektion der anzusprechenden Kunden. Zeitgemäße Kanäle wie Social-Media-Plattformen bieten neben hoher Akzeptanz auch die Option, exklusive Kontaktmöglichkeiten zu schaffen. Die technischen und personellen Voraussetzungen für schnelle und individuelle Kontaktaufnahme sind vorzuhalten. 5. In der Krise: Aktion vor Reaktion und „Was-fährt? “-Perspektive In der Krise empfiehlt es sich, alle Kunden wahrheitsgemäß, faktenbasiert, unverzüglich und transparent zu informieren. Dabei hilft die „Was-fährt? “-Perspektive. Hier gilt es, bestehende Angebote, mögliche Alternativen und Ersatzmaßnahmen zum Bewältigen der Reisekette zu kommunizieren, anstatt zu betonen, welche Einschränkungen die Krise bewirkt. Verkehrsunternehmen und -verbünde haben aufgrund ihrer unmittelbaren Betroffenheit in der Regel einen Informationsvorsprung und tragen deutlich zur Meinungsbildung hinsichtlich der Zuverlässigkeit und Nutzbarkeit des ÖV während und nach der Krise bei. Diesen Umstand sollten sie nutzen und daher auch unsichere Informationen - mit Kennzeichnung ihres Vorbehalts - schnellstmöglich veröffentlichen. Auch in der Krise sollten die Akteure ihr positives Tun zur Krisenbewältigung hervorheben. Dabei gilt: Einfachheit vor Schönheit. In der Krise können Kommunikationsmittel aufgrund ihres unvorhersehbaren und schnellen Einsatzes einfacher gestaltet sein. Die Potenziale der digitalen, individuelleren sowie schnelleren und flexibleren Kommunikationsmöglichkeiten insbesondere gegenüber Stammkunden sollten Verkehrsunternehmen besser nutzen. 6. Exklusive Kanäle für Stammkunden Eine Reihe von Unternehmen lehnt mit Verweis auf die Relevanz der Krisenkommunikation für alle Kundengruppen und der Ressourcenknappheit eine besondere Ansprache der Stammkunden ab. Dieses grundsätzlich nachvollziehbare Argument ist durch einen gut gepflegten Informationskanal aufzufangen. Im weiteren Verlauf sollte dieser je nach Art der Krise als zentraler Informationspunkt insbesondere den Stammkunden auf möglichst direktem Weg wie z. B. über digitale oder analoge Stammkunden-Newsletter kommuniziert werden. Auch auf allen anderen Kommunikationskanälen sollte auf den zentralen Informationsort verwiesen werden. Außerdem wird der „Außenauftritt mit einer Stimme“ empfohlen. Bei Krisen, die mehrere Verkehrsunternehmen betreffen, sollten Verkehrsverbünde oder Aufgabenträger die Aufgabe als Koordinator der Informationsvermittlung wahrnehmen. Fallweise können sie auch der zentrale Absender der Kommunikation sein. 7. Perspektive aufzeigen und Hintergründe erläutern Insbesondere Stammkunden wünschen aufgrund der krisenbedingten temporären Einschränkung ihrer Mobilitätsmöglichkeiten eine Perspektive. Das voraussichtliche Ende der Krise oder absehbare künftige Einschränkungen in weiteren Krisenphasen sind für sie von hohem Interesse. Zur Befriedigung der Informationsnachfrage und Verständnisförderung sollten Verkehrsunternehmen Hintergründe der Krise erläutern. 8. Krisenkompensation mit After-Crises- Aktionen Zur Kompensation krisenbedingter Einschränkungen mit dem Ziel der Stammkundenbindung empfehlen sich vorzugsweise nicht monetäre Aktionen mit Bezug zur eigenen Leistung. Dies kann die temporäre Leistungserweiterung von Zeitkarten (z. B. erweiterte Mitnahme, Nutzung 1. Klasse oder Freigabe weiterer Verkehrsmittel) sowie deren räumliche (z. B. die Freigabe im gesamten Verbund) oder die zeitliche Erweiterung (z. B. Verlängerung um die Zeit der massiven Einschränkungen) sein. Das Ziel der Kompensation sollte sein, die bestehenden Stammkunden zu binden, aber auch bereits verlorene Kunden aktiv anzusprechen, um sie in das System zurückzuholen. Statt einer Rückerstattung bereits gezahlter Fahrgelder sind die Vorteile des ÖV herauszustellen, um Mehrnutzung zu induzieren, positive Nutzungsanlässe zu schaffen und Vertrauen wieder aufzubauen. Dabei ist eine klare Stammkundenpriorisierung vorzunehmen und zu kommunizieren. 9. Ausnutzen weiterer Möglichkeiten der Instrumente des Marketings zur Kundenakquise und -bindung Die Kommunikation spielt auch im Krisenfall ihre Stärken nur gemeinsam mit den weiteren Elementen des Marketing-Mix aus. Im Rahmen der Preispolitik gefährden kurzfristig vergünstigte Ticketpreise die Erlösbasis. Allerdings können bei absehbar anhaltenden Nachfragerückgängen temporäre oder dauerhafte preis- und leistungsreduzierte Ticketangebote geschaffen werden, die verlorene oder neue Kundengruppen ansprechen. Bei deren Planung ist zu berücksichtigen, dass Bestandskunden nur in Maßen in die alternativen Ticketangebote abwandern. Hinsichtlich der Personalpolitik sollte der ÖV darauf achten, dass bei allen persönlichen analogen und digitalen Kontakten die eigenen Mitarbeiter dafür sensibilisiert werden, wie wichtig die Bindung der Stammkunden ist. Einheitliche Sprachregeln und Argumentationshilfen sowie ein angemessener Kulanzrahmen ermöglichen den Mitarbeitern, positiv auf Kunden zuzugehen und aktiv für dauerhafte Vertragsbeziehungen zu werben. Seitens des Vertriebs und der Prozesse sollten Krisen die Akteure im ÖV motivieren, die Verknüpfung von Vertriebshintergrundsystemen mit denen des Kundenbeziehungsmanagements (CRM) sowie mit