Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2021-0018
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Dezentrale Mobilitätsstationen in urbanen Wohnquartieren
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Felix Czarnetzki
Florian Siek
Carsharing-Angebote leisten einen Beitrag zur Reduzierung des privaten PKW-Besitzes. Mobilitätsstationen, die in den öffentlichen Straßenraum verdichteter Wohnquartiere integriert und mit reservierten Stellplätzen für Carsharing-Fahrzeuge ausgestattet werden, gelten als ein vielversprechender Ansatz zur Stärkung des Carsharings und dessen Einfluss auf den PKW-Besitz. Am Beispiel der hvv switch-Punkte in Hamburg zeigt dieser Artikel mittels einer repräsentativen Befragung von Carsharing-Nutzenden, dass wohnortnahe Mobilitätsstationen die Entlastungswirkungen des Carsharings erheblich steigern.
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Internationales Verkehrswesen (73) 1 | 2021 73 Wissenschaft MOBILITÄT werden, die unmittelbar in die Wohnquartiere eingebettet werden. Vor diesem Hintergrund wurden durch die Hamburger Hochbahn AG seit November 2017 in der Innenstadt Hamburgs mittlerweile 58 sogenannte dezentrale hvv switch-Punkte errichtet (Name bis Juli 2020: dezentrale switchh Punkte). Dabei handelt es sich um kleine Mobilitätsstationen, an denen je Standort drei bis vier reservierte Carsharing-Stellplätze für Fahrzeuge der Anbieter „Share Now“ (free-floating Carsharing) sowie „Cambio“ (stationsbasiertes Carsharing) bereitgestellt werden. Die dezentralen Stationen entstanden durch die Umwandlung öffentlicher Parkstände und sind somit direkt in den Straßenraum der stark verdichteten Wohnquartiere integriert (siehe Bild 1). Sie ergänzen die 17 größeren, bereits seit 2013 ausgebauten zentralen hvv switch-Punkte, die in unmittelbarer Nähe großer U-Bahn- und S-Bahn- Haltestellen liegen. Das Ziel der überwiegend in Nebenstraßen abseits von Schnellbahn-Haltestellen errichteten dezentralen Stationen besteht vor allem darin, einer Vielzahl von Haushalten leichter zugängliche und verlässlichere Carsharing-Angebote im engeren Wohnumfeld zur Verfügung stellen, um das Carsharing zu einer attraktiveren Mobilitätsoption weiterzuentwickeln und in Kombination mit den weiteren Angeboten des Umweltverbunds den Verzicht auf einen eigenen PKW zu erleichtern. Bislang mangelt es jedoch an empirisch gesicherten Erkenntnissen zu den tatsächlichen Wirkungen von Mobilitätsstationen. Die Technische Universität Hamburg führte daher in den Jahren 2019 und 2020 im Auftrag der Hamburger Hochbahn AG eine Wirkungsevaluation der dezentralen hvv switch-Punkte durch. Teile der Ergebnisse werden in diesem Artikel vorgestellt. Dabei geht es hier konkret um die Forschungsfrage, ob die Entlastungswirkung des Carsharings durch die Bereitstellung von Mobilitätsstationen gesteigert wird. Die Antwort darauf liefert eine vergleichende Analyse des PKW-Besitzes von Carsharing-Nutzenden mit und ohne regelmäßige Verwendung einer dezentralen Mobilitätsstation. Forschungsmethoden und Datenaufbereitung Die Untersuchung basiert auf einer umfangreichen Befragung der Wohnbevölkerung in der Umgebung von 16 über die Hamburger Innenstadt verteilten dezentralen hvv switch-Punkten (siehe Bild 2). Um eine Kontrollgruppe zu bilden, umfasste die Erhebung zusätzlich auch sieben Wohngebiete, in denen sich bislang keine Mobilitätsstationen befinden. Bei der Wahl der sieben Kontrollquartiere wurde darauf geachtet, dass diese - abgesehen von der Verfügbarkeit einer Mobilitätsstation - bezüglich soziodemographischer und raumstruktureller Kriterien (z. B. Bevölkerungsstruktur und -dichte, ÖV-Erreichbarkeit, Verfügbarkeit von Carsharing-Diensten) möglichst stark mit den 16 anderen Befragungsgebieten vergleichbar sind. In jedem kontaktierbaren Haushalt innerhalb der insgesamt 23 untersuchten Quartiere wurde im Winter 2019/ 2020 jeweils eine volljährige Person postalisch zur Teilnahme an der Befragung eingeladen, die Erhebung selbst fand per Online-Fragebogen statt. Aus der dabei gebildeten Gesamtstichprobe von 2.717 befragten Personen (bereinigte Rücklaufquote: 11,6 %) wurden für diesen Artikel alle 474 Befragten entnommen, die angaben, mindestens monatlich auf das Carsharing zuzugreifen. Hintergrund dieser Abgrenzung ist die Annahme, dass vor allem die wiederholte und geübte Verwendung von Carsharing-Diensten einen Einfluss auf die Entscheidung für oder gegen den PKW-Besitz ausüben kann. Die 474 berücksichtigten Carsharing-Mitglieder wurden anschließend anhand ihres potenziellen bzw. tatsächlichen Zugriffs auf eine dezentrale Mobilitätsstation in drei Vergleichsgruppen aufgeteilt: • DMS-Nutzende (n = 177): Hierunter werden Befragte zusammengefasst, die im direkten Umfeld einer dezentralen Mobilitätsstation (DMS) wohnen und diese Station mindestens monatlich zum Ausleihen oder Abstellen von Carsharing-Fahrzeugen verwenden. Eine Auswirkung der Station auf das Verkehrshandeln ist bei diesen Personen am wahrscheinlichsten. DMS-Nichtnutzende (n = 192): Zu dieser Gruppe gehören jene Carsharing-Nutzende, die zwar im Umfeld einer dezentralen Mobilitätsstation wohnen, diese Station allerdings nicht oder nur in seltenen Ausnahmefällen in Anspruch nehmen. Die Wirkung der Station auf das Verkehrshandeln kann dementsprechend als allenfalls gering eingeschätzt werden. Die Nichtnutzung erfolgte bei diesen Befragten entweder bewusst - etwa aufgrund einer als zu groß empfundenen Entfernung zwischen der Station und dem Wohnort - oder unbewusst, falls die Mobilitätsstation zum Zeitpunkt der Erhebung noch nicht bekannt war. Kontrollgruppe (n = 105): Hierbei handelt es sich um Carsharing-Nutzende, in deren Wohnumfeld sich keine Mobilitätsstation befindet. Ein Einfluss einer sol- AT A GLANCE Carsharing services contribute to reducing private car ownership. Mobility hubs that are integrated into the public street space of densely populated residential neighborhoods, are equipped with reserved parking spaces for carsharing vehicles and considered a promising approach to strengthen carsharing and its effect on car ownership. Using the hvv switch-Punkte in Hamburg as an example, this article shows, by means of a representative survey of carsharing users, that conveniently located mobility hubs can considerably increase the impact of carsharing on car ownership. Bild 1: Einer der dezentralen hvv switch-Punkte Quelle: hvv switch Internationales Verkehrswesen (73) 1 | 2021 77 Wissenschaft MOBILITÄT Einfluss der Station auf die Abschaffung des eigenen Autos als sehr groß bis teilweise mitentscheidend ein. Bei dem bewussten Verzicht auf die PKW-Anschaffung übte die Mobilitätsstation sogar in fast zwei Drittel der Fälle eine zumindest teilweise mitentscheidende Wirkung aus und lediglich jede fünfte befragte Person gestand der Station überhaupt keinen Einfluss zu. Schlussfolgerungen und Ausblick Die Untersuchung der dezentralen hvv switch-Punkte in Hamburg zeigte, dass die Kombination von Carsharing-Diensten und dezentral in verdichteten Wohnquartieren platzierten Mobilitätsstationen zu einer stärkeren Entlastungsleistung des Carsharings führt. Dies lässt sich zum einen mit der leichteren Zugänglichkeit der Carsharing-Angebote und zum anderen mit der Verfügbarkeit reservierter Stellplätze in den von einem hohen Parkdruck gekennzeichneten Quartieren erklären. Das Carsharing wird dadurch als attraktiver und komfortabler wahrgenommen und letztendlich in seiner Rolle als Alternative zum eigenen PKW gestärkt. Ein hervorzuhebendes Indiz dafür lieferte die Betrachtung des free-floating Carsharings. Während das in der Verkehrsforschung bislang nicht als sehr effektiv bekannte FFCS ohne die Unterstützung der Mobilitätsstationen nur eine sehr überschaubare Entlastungswirkung entfaltet, wird es durch die reservierten Flächen an den Stationen zu einer ernsthafteren Konkurrenz zum privaten Autobesitz aufgewertet. Darüber hinaus besitzt das FFCS aber vor allem wegen seiner - im Vergleich zum stationsgebundenen Carsharing - deutlich höheren Nutzerzahlen eine entscheidende Bedeutung für den Erfolg der Mobilitätsstationen. Erkennen lässt sich dies etwa daran, dass zwei Drittel der regelmäßigen Nutzer und Nutzerinnen dezentraler Mobilitätsstationen ausschließlich auf Angebote des free-floating Carsharings zurückgreifen. Auf Basis der vorgestellten Untersuchung und weiteren, seit 2013 gesammelten Erfahrungen plant die Hamburger Hochbahn AG in den kommenden Jahren einen umfangreichen Ausbau der hvv switch-Punkte in Hamburg. Dies umfasst zum einen die Vergrößerung der Standortanzahl, um durch ein verdichtetes Angebot die Wirkungen der Mobilitätsstationen auf den PKW-Besitz und das Mobilitätsverhalten großflächig zu verbreiten. Dabei liegt der Schwerpunkt auf einem angebotsorientierten Ausbau der dezentralen Standorte. Zum anderen ist eine qualitative Erweiterung der hvv switch-Punkte geplant. So sollen zusätzliche Carsharing-Anbieter, aber auch Mobilitätsdienste aus dem Bereich der Mikromobilität integriert werden. Dadurch wird größeren Teilen der Bevölkerung ein breites, attraktives Angebot von geteilten Mobilitätsdiensten in direkter Nachbarschaft zur Verfügung stehen. Diese Mobilitätsangebote werden zudem durch die Tiefenintegration in die digitale Hamburger Mobilitätsplattform hvv switch einfach über eine App nutzbar sein. Die hvv switch-Punkte werden zukünftig eng mit der Hamburger Mobilitätsplattform verzahnt und bieten komfortabel gelegene Flächen für geteilte Mobilitätsdienste im öffentlichen Raum als Alternative zum privaten PKW. Somit werden sie in den nächsten Jahren einen wichtigen Baustein für das Erreichen der Mobilitätswende in Hamburg bilden. ■ LITERATUR [1] Riegler, S.; Juschten, M.; Hössinger, R.; Gerike, R.; Rößger, L.; Schlag, B.; Manz, W.; Rentschler, C.; Kopp, J. (2016): Carsharing 2025 - Nische oder Mainstream? München [2] Bundesverband CarSharing (2020): CarSharing in Deutschland 2020. Berlin [3] Giesel, F.; Nobis, C. (2016): The Impact of Carsharing on Car Ownership in German Cities. In: Transportation Research Procedia 19, S. 215-224 [4] Becker, H.; Ciari, F.; Axhausen, K. W. (2017): Comparing car-sharing schemes in Switzerland: User groups and usage patterns. In: Transportation Research Part A 97, S. 17-29 [5] Loose, W.; Nehrke, G. (2018): Entlastungswirkungen von Carsharing-Varianten - Vergleichende Befragung von Kunden unterschiedlicher Carsharing-Angebote. In: Internationales Verkehrswesen 70 (4), S. 50-53 [6] Loose, W.; Nehrke, G. (2019): CarSharing-Stellplätze in den öffentlichen Straßenraum bringen - Leitfaden zur Umsetzung der im Carsharinggesetz (CsgG) vorgesehenen Car- Sharing-Förderung. Berlin [7] De Tommasi, R.; Oetterli, D.; Müller, G.; (2004): Standards für intermodale Schnittstellen im Verkehr. Zürich [8] Jansen, H.; Garde, J.; Bläser, D.; Frensemeier, E. (2015): Städtische Mobilstationen. In: Proff, H. (Hrsg.): Entscheidungen beim Übergang in die Elektromobilität - Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte, S. 515-532. Wiesbaden [9] Stein, T.; Bauer, U. (Hrsg.) (2019): Mobilitätsstationen in der kommunalen Praxis - Erkenntnisse und Erfahrungen aus dem BMU-Forschungsprojekt City2Share und weiteren kommunalen Praxisbeispielen. Berlin [10] Verkehrsclub Deutschland (2017): Multimodal unterwegs - Handlungsempfehlungen zur Umsetzung multimodaler Verkehrsangebote. Berlin Felix Czarnetzki, M.A. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Verkehrsplanung und Logistik, Technische Universität Hamburg felix.czarnetzki@tuhh.de Florian Siek, M.Sc. Produktmanager hvv switch-Punkte, Vertrieb und Verkehrswirtschaft, Hamburger Hochbahn AG florian.siek@hochbahn.de
