eJournals Internationales Verkehrswesen 73/1

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2021-0021
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Barrierefreiheit im ÖPNV

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Nils Lehmann
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Internationales Verkehrswesen (73) 1 | 2021 85 Veranstaltungen FORUM Mietzsch (ZVNL Leipzig). Nachdem seit 1990 im ZVNL-Verbandsgebiet in der Hauptsache Bahnsteigkanten mit 55 cm Höhe realisiert worden wären - die Ausnahme bilde der Leipziger Hbf, dessen Hallenbahnsteigkanten vornehmlich 76 cm hoch seien - und die vom ZVNL als Aufgabenträger beschafften Fahrzeuge auf das geringere Maß ausgelegt worden wären, sei eine weitere Vereinheitlichung seitens dieses Akteures vorgesehen. Die Planungen der DB Station&Service für das Verbandsgebiet sähen hingegen eine perspektivische Anpassung der Bahnsteigkanten auf durchgehend 76 cm vor; begründet sei dies in der Notwendigkeit dieser Höhe für Fahrzeuge des SPFV. Da zugleich bundesweite Einheitlichkeit in dieser Sache gefordert sei, müssten die bestehenden Anlagen mit geringerer Höhe (erneut) umgebaut werden. Der Referent bemängelte insbesondere die dafür entstehenden Kosten, wie auch die Folge, dass hierdurch über Jahrzehnte keine Barrierefreiheit im SPNV möglich wäre. Vielmehr gäbe es keinen zwingenden technischen oder finanziellen Grund, in Mitteldeutschland eine Umstellung auf 76 cm hohe Bahnsteigkanten durchzuführen; eine bundesweite Vereinheitlichung sei ebenso unnötig, sofern nur barrierefreie Umsteigemöglichkeiten vorhanden wären. Markus Würtz (Jenaer Nahverkehr GmbH) zeigte aus Sicht eines Verkehrsunternehmens Aspekte der Barrierefreiheit innerhalb von Bussen und Straßenbahnen auf. Hervorzuheben sei insbesondere der Barrierefreiheitsstand bei den im Jenaer ÖPNV eingesetzten Fahrzeugen: So seien bereits seit 2003 sämtliche Busse und Straßenbahnen in Niederflurbauart ausgeführt sowie allesamt mit Außenansagen ausgerüstet. E-Scooter könnten in jeglichen Straßenbahnen und wenigstens in Dreivierteln aller Busse mitgeführt werden. Die Haltestellen im Unternehmensgebiet würden bereits seit Anfang der 1990er Jahre niederflur gerecht ausgebaut sowie mit dynamischen Fahrgastinformationssystemen - optisch und akustisch - ausgerüstet. Die zunehmende Installation von Blindenleitsystemen seien bei Neubauten sowie bei der Nachrüstung von Altbauten ebenso vorgesehen. Zu beachten sei bei jeglichen relevanten Vorhaben insbesondere die Abstimmung mit den betroffenen Stakeholdern, beispielsweise dem Beauftragten sowie dem Beirat für Menschen mit Behinderungen. Gleichwohl stünde stets die Frage im Raum, welcher Maßnahmen objektive Barrierefreiheit letztlich bedürfe. Und auch welche äußeren Einflüsse, etwa Witterungsbedingungen, zu beachten seien, sei vornehmlich innerhalb eines Gesamtsystems zu denken. So gelte sicherzustellen, dass die - bestenfalls vollständige - Abwesenheit von Hindernissen nicht beim Ausstieg aus dem Verkehrsmittel ihr Ende findet. Für die Deutsche Bahn AG als Unternehmen, welches sowohl im Bereich der Beförderung von Personen als auch durch die einer Zugfahrt vor- und nachgelagerten Stationen mit dem Thema Barrierefreiheit im ÖPNV zahlreiche Berührungspunkte aufweist, sprach Torsten Wilson (Leipzig). Er betonte, dass die Ermöglichung der Mobilität für alle Menschen für die DB AG nicht nur gesetzlicher Auftrag, sondern darüber hinaus eine gesellschaftliche und auch Selbstverpflichtung sei. Ausdruck dessen sei etwa die Kontaktstelle für kundenbezogene Behindertenangelegenheiten als konzernweiter zentraler Anlaufpunkt für sämtliche Aspekte des Themas Barrierefreiheit. Ziel sei ein ganzheitliches Agieren zur Ermöglichung ebendieser während der gesamten Reisekette. Diese beginne etwa unter dem Titel „Inspiration und Reisewunsch“ mit speziellen, barrierefreien Reisepaketen und Erklärvideos für hörbeeinträchtigte Menschen, ziehe sich über den Bereich „Planen und Buchen“, beispielsweise mit zielgruppenspezifischen Angeboten, Informationen und Vergünstigungen, setze sich an mittlerweile fast 85 % stufenlos erreichbarer Bahnhöfe mit diversen barrierereduzierenden Maßnahmen fort, ehe schließlich die Fahrt als solche in zunehmend barrierefreieren (Fernverkehrs-)Zügen abschließe. Durch Dr. Sigrid Arnade (Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e. V. - ISL, Berlin) wurde die Perspektive von Fahrgästen mit Behinderung eingebracht. Trotz der durch die anderen Referenten aufgezeigten (Beteiligungs-)Rechte sei die tatsächliche Umsetzung der Barrierefreiheit noch stark verbesserungsbedürftig. So würden etwa weiterhin Fahrzeuge gekauft, welche diesem Anspruch nicht gerecht würden, oder Nahverkehrspläne aufgestellt, welche schlicht unwirksam blieben - die bisherigen Regelungen zeitigten schlechterdings nicht den erwünschten Effekt. Dementsprechend seien neue Regelungen vonnöten, um den Missständen abzuhelfen. Als Beispiele wurden eine gesetzliche Verpflichtung der Beteiligung Betroffener bei der Fahrzeugbeschaffung, erweiterte Verbandsklagemöglichkeiten sowie die Einführung von Verpflichtungsstatt der bisherigen Feststellungsklagen genannt. Überdies seien effektivere Beteiligungsmechanismen, die Realisierung des sog. Zwei-Sinne-Prinzips sowie die Schaffung jederzeitiger Ein- und Ausstiegsmöglichkeiten als Sofortmaßnahmen denkbar. In einem abschließenden Fazit wünschte sich die Referentin einen Sinneswandel hin zu einer Partizipation auf Augenhöhe, mit verbindlichen (Zwischen-) Zielen sowie Zeitplänen mitsamt klaren Verantwortlichkeiten. Dr. Rica Werner (Schlichtungsstelle BGG, Berlin) führte mit ihrem Vortrag in die außergerichtliche Konfliktschlichtung als Weg zu barrierefreier Mobilität im ÖPNV ein. Im Gegensatz zu Streitigkeiten vor den Gerichten weise dieses Lösungsinstrument von Problemen diverse Vorteile auf, zu nennen sei beispielsweise die vollständige Barrieresowie Kostenfreiheit des Verfahrens. Das Besondere der Schlichtungsstelle nach § 16 des Gesetzes zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (BGG) sei, dass deren Aufgaben anders als Schlichtungsstellen auf Landesebene nicht zuvörderst die Fahrgastrechte beträfen, sondern gerade Konflikte zwischen Menschen mit Behinderungen und öffentlichen Stellen des Bundes lösen solle. Als positives Beispiel für ein erfolgreiches Schlichtungsverfahren wurde der Umbau eines Bahnhofes genannt, der nach ursprünglichen Planungen während der Bauzeit keine barrierefreie Nutzung ermöglicht hätte. Nach Durchführung des Verfahrens seien Aufzüge installiert worden, sodass Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt waren, den Bahnhof hätten nutzen können. Im abschließenden Vortrag stellte Monika Paulat (Präsidentin des Landessozialgerichts a.D., Präsidentin des Deutschen Sozialgerichtstages e.V., Potsdam) das Projekt „InklusionsTaxi - Taxi für Alle“ vor, welches als Ergänzung des schienengebundenen Verkehrs durch eben jene „InklusionsTaxis“ zu einer ganzheitlichen Barrierefreiheit führen soll. Mithilfe der Fahrzeuge soll dabei die sogenannte „letzte Meile“ überwunden werden, ohne dass es Unterschiede für Fahrgäste mit oder ohne Behinderungen geben solle. Hierin bestehe zugleich ein wesentlicher Unterschied zu Krankenfahrten mit Krankentransportfahrzeugen, welche letztlich nur von mobilitätseingeschränkten Personen genutzt würden. Darüber hinaus stünde die Ermöglichung von barrierefreier, inklusiver Mobilität auf dem Lande im Fokus. Die Referentin resümierte, dass sich die umfassende Barrierefreiheit im ÖPNV nicht (nur) mit einer starren Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben erreichen ließe, sondern vielmehr (auch) im Kopf der Akteure stattfinden müsse. Die 7. Jenaer Gespräche zum Recht des ÖPNV werden am 29. Oktober 2021 stattfinden. Nils Lehmann, LL.M. oec. Rechtswissenschaftliche Fakultät, Friedrich-Schiller-Universität Jena