Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2021-0025
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Schaffung zukunftsfähiger Grundlagen für einen effizienten Schienengüterverkehr
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Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur hat sich mit der Frage beschäftigt, wie die Effizienz des Schienengüterverkehrs signifikant gesteigert werden kann und zu dieser Thematik eine Stellungnahme erarbeitet. Lesen Sie hier eine kurze Einführung. Den vollständigen Text der Stellungnahme finden Sie im Web.
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POLITIK Standpunkt Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 10 Schaffung zukunftsfähiger Grundlagen für einen effizienten Schienengüterverkehr Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur hat sich mit der Frage beschäftigt, wie die Effizienz des Schienengüterverkehrs signifikant gesteigert werden kann und zu dieser Thematik eine Stellungnahme erarbeitet. Lesen Sie hier eine kurze Einführung. Den vollständigen Text der Stellungnahme finden Sie im Web. D er Schienengüterverkehr (SGV) leidet, insbesondere auch in Deutschland, unter einer Reihe grundlegender struktureller Probleme, die seine Entwicklungsfähigkeit einschränken und gefährden. Während das Schlagwort „Digitalisierung“ inzwischen auch von der Bahn für ihre Innovationspläne verwendet wird, sind die notwendigen Schritte zur Reform des SGV sehr grundlegender Art und nicht unmittelbar unter „Digitalisierung“ subsummierbar. Vielmehr geht es darum, die technischen Grundfunktionen des Güterverkehrstransportprozesses der Eisenbahn (wie z. B. zum Bilden und Fahren der Züge) unter Berücksichtigung der intermodalen Verknüpfung durchgängig so zu gestalten, dass die wesentlichen Voraussetzungen für eine Digitalisierung überhaupt erst geschaffen werden. Dabei wird aufgrund der jahrzehntelang vernachlässigten, systemweiten Modernisierung der Grundfunktionen ein dringender verkehrspolitischer Handlungsbedarf erkennbar. Zur Umsetzung des verkehrspolitischen Leitbildes eines leistungsfähigen effizienten Gütertransportsystems unter Einbeziehung des SGV und dessen Digitalisierung müssen gerade im Bereich der Eisenbahn aufgrund des über Jahrzehnte entstandenen, ausgeprägten Innovationsstaus zunächst die dafür notwendigen technischen und prozessbezogenen Voraussetzungen geschaffen werden. Die verfolgten Ziele, den Klimaschutz zu fördern und mit vorhandenen Ressourcen mehr Güter digital unterstützt zu transportieren, zeigen beispielhaft die volkswirtschaftliche Relevanz und die Stoßrichtung für die Weiterentwicklung des Schienengüterverkehrs. Auch wenn über die Jahre hinweg in der Vergangenheit durchaus immer wieder einzelne technische Innovationen partiell oder als Pilotprojekte in der Praxis umgesetzt wurden, kam es kaum zu einer flächendeckenden Migration, die zu einer vollständigen Ablösung veralteter Technologien geführt hat. Deshalb beanspruchen die Teilprozesse der Zugfahrt, der Zugbildung sowie des Rangierens aber auch des Bebzw. Entladens nach wie vor sehr viel Zeit, verbrauchen unverhältnismäßig Infrastrukturkapazität und sind sehr personalintensiv. In seiner Stellungnahme benennt der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur den vordringlichen Handlungsbedarf zur prozessbezogenen Anpassung der technischen Systeme und zeigt Wege zur Überwindung der strukturellen technologischen Defizite durch Effizienzsteigerung des SGV bereits abgestimmt auf das „Innovationsprogramm Logistik 2030“ [1] auf. Es gibt schwerwiegende, in den technischen Systemen zur Realisierung der Grundfunktionen tief verankerte Defizite des Bahnbetriebs: • Die zentralen Systemtechnologien des Rollmaterials, nämlich die Kupplungen und Bremssysteme, sind stark veraltet. Dies beeinträchtigt nicht nur die Bildung und Umbildung von Güterzügen, sondern auch deren Einsatzbedingungen auf dem Schienennetz, mit weitreichenden Folgen auch für die Infrastrukturkapazitäten von Mischverkehrsstrecken. • Die Infrastruktursysteme sind sehr uneinheitlich und mit teils bereits seit Jahrzehnten veralteten Techniken ausgestattet, so dass daraus eine Vielzahl restriktiver Bedingungen und Zusatzkosten für die Infrastrukturnutzung sowie ein unnötig hoher Personalaufwand resultieren. Dies betrifft die Leit- und Sicherungssysteme ebenso wie die Ausstattung der Rangierbahnhöfe und Terminals für den SGV. Die Systemeffizienz wird durch die parallele Weiternutzung der älteren technischen Lösungen mit jeder Innovation zunehmend beeinträchtigt. • Die Voraussetzungen für moderne Systeme des unbegleiteten Kombinierten Verkehrs (KV), gestützt insbesondere auf Container, aber auch für geeignete Transportketten auf Trailer und Wechselbrücken, sind in Infrastrukturen und Prozessabläufen nur unzureichend umgesetzt. Somit kann derzeit das Potenzial dieser intermodal einsetzbaren Ladegefäße unterschiedlicher Größen bei weitem noch nicht ausgenutzt werden. In der Folge gelten die Produktionsprozesse im SGV generell als ineffizient, teuer, schwerfällig und zeitraubend, zudem zeitlich unzuverlässig und unflexibel, wie u. a. auch an den über Jahrzehnte rückläufigen und gegenwärtig auf niedrigem Niveau verharrenden Anteilen des SGV an der Gesamtgüterverkehrsleistung in Deutschland deutlich erkennbar wird. Als Symptom der Probleme des SGV seien die sehr niedrigen Transportgeschwindigkeiten genannt [2]. In einer Untersuchung [2], bei der Güterwagen mit GPS-Modulen ausgerüstet wurden, konnte exemplarisch im grenzüberschreitenden Verkehr eine durchschnittliche Transportgeschwindigkeit für den gesamten Güterwagenumlauf von nur 2,9 km/ h (bei einer Spannweite von 1,3 km/ h bis 6,3 km/ h) ermittelt werden. Vernach- Standpunkt POLITIK Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 11 lässigt man die Standzeiten einschließlich der Be- und Entladezeiten, d. h. die Betrachtung wird auf die Zeit für die Fahrzeugbewegung, die Wartezeit in den Zugbildungsanlagen sowie die Grenzaufenthaltszeit beschränkt, erhöht sich die durchschnittliche Transportgeschwindigkeit auf 9,0 km/ h. Selbst bei ausschließlicher Berücksichtigung der eigentlichen Zugfahrt im Netz ergab sich eine durchschnittliche Transportgeschwindigkeit von nur 24,8- km/ h. Dabei hat der Grenzübertrittswiderstand keinen nennenswerten Einfluss und kann demzufolge weitgehend vernachlässigt werden. Der Anteil der Wartezeit in den Zugbildungsanlagen beträgt 20 % an der gesamten Transportzeit (Güterwagenumlaufzeit), wohingegen sich der Anteil der Zeit für die Fahrzeugbewegung lediglich auf knapp 12 % beläuft und ca. 68 % für die Standzeiten außerhalb der Zugbildungsanlagen einschließlich der Bebzw. Entladeprozesse zu veranschlagen sind. Die niedrige Transportgeschwindigkeit bei der Fahrzeugbewegung deutet darüber hinaus auf eine Vielzahl von kostentreibenden sowie zeitbeanspruchenden Brems- und Beschleunigungsvorgängen hin, vermutlich aufgrund von Überholvorgängen sowie Personalwechseln. Die Notwendigkeit der Überholvorgänge ergibt sich insbesondere aus der sehr hohen Diskrepanz der Geschwindigkeiten unterschiedlicher Zuggattungen im Mischverkehr und trägt zur Gesamtunpünktlichkeit (auch im Personenverkehr) bei. Als weitere Folge der veralteten Technik ist auch die perspektivische Ausrichtung der Eisenbahngüterverkehrsunternehmen wenig zukunftsorientiert entwicklungsfähig, geschweige denn innovationstreibend orientiert. Der SGV besetzt traditionelle bestehende Marktsegmente, in denen er vor intermodalem Wettbewerb weitgehend geschützt ist, zum Beispiel Containerverkehre von bzw. zu den Seehäfen, langlaufende Autotransporte oder Transporte von Massengütern wie Kohle und Stahl oder Schrott. In diesen Marktsegmenten ist unter den vorhandenen Bedingungen und auch längerfristig Schienengütertransport wirtschaftlich möglich. Aber die - unter anderen Bedingungen - durchaus vorhandenen weitergehenden Einsatz- und Wachstumspotenziale des SGV können mit den auf veralteter Technik beruhenden Grundfunktionen des Transportprozesses nicht entwickelt werden. Dies verträgt sich jedoch nicht mit den Zielen der Bundesregierung, den Anteil des SGV an der gesamten Güterverkehrsleistung von heute unter 20 % auf mindestens 25 % bis 2030 zu steigern [3] (bei prognostiziertem gleichzeitigem Wachstum der Güterverkehrsleistung). Damit soll ein Beitrag zur Erfüllung der CO 2 -Ziele geleistet werden, denn der SGV emittiert deutlich weniger CO 2 pro Tonnenkilometer als der LKW-Verkehr. Die technologische Stagnation und zunehmende Rückständigkeit des SGV passt auch nicht zu den starken Erhöhungen der staatlichen Ausgaben für die Schieneninfrastruktur in den letzten Jahren. Denn diese können sich für den SGV nicht positiv auswirken, wenn Rollmaterial und Güterterminals auf technisch veralteter Infrastruktur dauerhaft hinterherhinken. Die Güterverkehrsbranche ist im SGV durch das Festhalten an den alten Technologien und an den gesicherten Marktsegmenten technologisch und wirtschaftlich quasi festgefahren und wird sich aufgrund des kurzfristig sehr hohen Investitionsaufwandes, aber auch der technischen Heterogenität sowohl im Infrastrukturals auch im Fahrzeugbereich, nicht aus eigener Kraft modernisieren können. Hier ist die Verkehrspolitik gefragt, um den notwendigen Modernisierungsprozess zielgerichtet mit Förderprogrammen aktiv in absehbarer Zeit realisieren zu können sowie die dafür zunächst notwendigen verlässlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, u. a. in Form der Vorgabe von Standards, die eine Einengung auf proprietäre Lösungen vermeiden, aber die Kompatibilität zwischen unterschiedlichen modernen technischen Lösungen sicherstellen. Als Voraussetzung für die Ableitung geeigneter technischer Lösungsansätze werden in der Stellungnahme zunächst wesentliche Probleme bei der gegenwärtigen technischen Gestaltung der Grundfunktionen des SGV identifiziert sowie deren Ursachen und Auswirkungen verdeutlicht. Lösungsansätze werden anhand ihrer Wirkungen und Potenziale begründet, bevor dann Empfehlungen für konkrete Maßnahmen folgen. In der Stellungnahme werden drei wesentliche Handlungsfelder herausgestellt, auf die sich die Politik fokussieren sollte: • Einführung einer automatischen standardisierten, nicht-proprietären, robusten Mittelpufferkupplung mit Energieversorgungs- und Datenverbindung, • flächendeckender Einsatz von ETCS und • Aufbau eines umfassenden Transportsystems für den unbegleiteten Kombinierten Verkehr mit dem Schwerpunkt im Containerverkehr. ■ QUELLEN [1] BMVI (Hrsg.): Innovationsprogramm Logistik 2030. September 2019. [2] Martin, U.; Dobeschinsky, H.; Raubal, B. (2008): Projekt CORRECT, Corridor for Rail Equilibrium and Cooperation in Transport. VWI Stuttgart. Mai 2008; sowie Bundesministerium für Bildung und Forschung (2005): Innovation für die Schiene - Bahnforschungsprojekte des BMBF. Bonn, Berlin. [3] BMVI (Hrsg.): Masterplan Schienenverkehr des BMVI vom Juni 2020. [4] BMVI (Hrsg.) (2021): Schaffung zukunftsfähiger Grundlagen für einen effizienten Schienengüterverkehr. Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur Nr. 3/ 2020. März 2021. Die komplette Stellungnahme Nr. 3/ 2020 [4] kann im Volltext heruntergeladen werden unter www.iv-dok.de/ 2105/ Kontakt Geschäftsstelle des Wissenschaftlichen Beirats im BMVI Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur Referat G 12 - Frau Ursula Clever, Robert-Schuman-Platz 1, 53175 Bonn, E-Mail: ursula.clever@bmvi.bund.de Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur Prof. Dr.-Ing. Hartmut Fricke Dresden Prof. Dr.-Ing. Markus Friedrich Stuttgart Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike Dresden Prof. Dr. Astrid Gühnemann Wien Prof. Dr. Hans-Dietrich Haasis Bremen Prof. Dr. Natalia Kliewer Berlin Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Knorr Speyer Prof. Dr.-Ing. Ullrich Martin Stuttgart Prof. Dr. Kay Mitusch (Vorsitzender) Karlsruhe Prof. Dr. Stefan Oeter Hamburg Prof. Dr. Tibor Petzoldt Dresden Prof. Dr. Gernot Sieg Münster Prof. Dr. Wolfgang Stölzle St. Gallen Prof. Dr.-Ing. Peter Vortisch Karlsruhe Prof. Dr. rer. nat. Hermann Winner Darmstadt
