eJournals Internationales Verkehrswesen 73/2

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2021-0029
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2021
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Die Covid-19-Pandemie - Anlass oder Ursache der Konsilidierungsphase in der Luftfahrt

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2021
Volker Gollnick
Christian Weder
Die Covid-19-Pandemie hat insbesondere auf die Luftfahrt gravierende Auswirkungen. Diese Arbeit analysiert vergleichbare Ereignisse der Vergangenheit in Ursache und Wirkung und schließt von dort auf mögliche Entwicklungen, die sich mit dem Ausklang der Pandemie für die Luftfahrt in Herstellung und Betrieb ergeben können. Hierzu werden Produktions- und Beschäftigungszahlen der Vergangenheit ursächlich analysiert und in Bezug zur aktuellen Entwicklung gesetzt. Mittels Merkmalsanalogie zu anderen marktbestimmenden Airlines werden anhand der publizierten Flottenentwicklung einer Beispiel-Airline Auswirkungen auf Flottengrößen und Produktionsraten aufgezeigt. Eine Konsolidierung bis zu 40 % bei Herstellern und Betreibern erscheint dabei aus kausaler Marktsicht aufgrund zuvor entwickelter Überkapazitäten sowie geringerer benötigter Flottengrößen bei gleicher oder höherer Sitzplatzkapazität je Flugzeug realistisch.
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Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 24 POLITIK Wissenschaft Die Covid-19-Pandemie - Anlass oder Ursache der Konsolidierungsphase in der Luftfahrt Luftfahrt, Pandemie, Konsolidierung, Flottenentwicklung, Produktionszahlen, Flugzeugmarkt, Nachfrage, Flottenbedarf Die Covid-19-Pandemie hat insbesondere auf die Luftfahrt gravierende Auswirkungen. Diese Arbeit analysiert vergleichbare Ereignisse der Vergangenheit in Ursache und Wirkung und schließt von dort auf mögliche Entwicklungen, die sich mit dem Ausklang der Pandemie für die Luftfahrt in Herstellung und Betrieb ergeben können. Hierzu werden Produktions- und Beschäftigungszahlen der Vergangenheit ursächlich analysiert und in Bezug zur aktuellen Entwicklung gesetzt. Mittels Merkmalsanalogie zu anderen marktbestimmenden Airlines werden anhand der publizierten Flottenentwicklung einer Beispiel-Airline Auswirkungen auf Flottengrößen und Produktionsraten aufgezeigt. Eine Konsolidierung bis zu 40 % bei Herstellern und Betreibern erscheint dabei aus kausaler Marktsicht aufgrund zuvor entwickelter Überkapazitäten sowie geringerer benötigter Flottengrößen bei gleicher oder höherer Sitzplatzkapazität je Flugzeug realistisch. Volker Gollnick, Christian Weder D ie Covid-19-Pandemie hat in erheblichem Maße die jüngste Entwicklung der Luftfahrt beeinflusst. Die weltweiten Lockdown-Wellen haben zu einem massiven Einbruch in Herstellung und Betrieb und dem weitgehenden, andauernden Erliegen des Weltluftverkehrs geführt. Wie sich die Luftfahrt nach dem Abflauen der Pandemie erholen wird, ist dabei unsicher. Dieser Artikel befasst sich zunächst mit einer kausalen Auswirkungsanalyse bisheriger Ereignisse auf die Luftfahrt, die ansatzweise vergleichbare Auswirkungen wie die Pandemie auf die Luftfahrt gehabt haben. Aus diesen Analysen und der Bewertung publizierter Anpassungsmaßnahmen einer beispielhaften Netzwerkairline werden mögliche Entwicklungen für die Luftfahrt abgeleitet, die in Folge der aktuellen Pandemie-Situation eintreten können. Dabei werden Betreiber- und Herstellerverhalten wegen der engen Abhängigkeit gemeinsam betrachtet. Entwicklung des Luftverkehrs 1970 bis März 2020 Die Entwicklung des Luftverkehrs hat seit den 1970er Jahren einen steten Anstieg der Beförderungsleistung in Passagierkilometern erlebt (Bild 1). Dabei wurden von den großen Herstellern seit vielen Jahren jährlich weltweit erwartete Zuwachsraten zwischen 4 und 5 % bis 2038 prognostiziert [1, 2]. Es lässt sich zeigen, dass die Pandemie in ihrer Intensität deutlich stärkere Auswirkungen hervorruft als bisherige Ereignisse. Die relativ hohen Rohölpreis-Steigerungen der 1970er-Jahre haben keinen signifikanten Rückgang in der Beförderungsleistung bewirkt, weil Fliegen zu der Zeit noch nicht die ausgeprägte Preissensitivität wie im 21. Jahrhundert hatte. Auch die Golfkriege Anfang der 1990er Jahre hatten keinen sichtbaren Einfluss auf die positive Entwicklung der Luftfahrt, obwohl die Kriegshandlungen den Luftraum in der Golfregion eingeschränkt haben. Aufgrund der nur lokalen Beschränkungen wurde der Weltluftfahrtverkehr nicht beeinträchtigt. Die den Luftverkehrsmarkt tragenden Wirtschaftsregionen waren von den Kriegshandlungen nicht räumlich betroffen. Auch die Wirtschaftskrise in Asien Ende der 1990er Jahre hat zu keinen Einbrüchen geführt, weil zu dem Zeitpunkt dieser Wirtschaftraum noch nicht die heutige globale Bedeutung hatte. Die Anschläge vom 11. September 2001 haben erstmalig in der zivilen Luftfahrt zu Sperrungen ganzer kontinentaler Lufträume über mehrere Tage geführt, die zudem einen der weltweit führenden Wirtschaftsräume betrafen. Gleichzeitig hat das Angstgefühl, resultierend aus den Terroranschlägen, erstmalig zu rückläufigen weltweiten Fluggastzahlen für zwei Jahre geführt. Maßnahmen wie „Sky-Marshalls“, verschließbare Cockpit-Türen und PEER REVIEW - BEGUTACHTET Eingereicht: 20.11.2020 Endfassung: 27.01.2021 Durch einen technischen Fehler wurde in der gedruckten Ausgabe von Internationales Verkehrswesen 1/ 2021 eine nicht revidierte Rohfassung des Beitrags veröffentlicht. Die Redaktion entschuldigt sich und druckt in dieser Ausgabe die finale Fassung des Beitrags ab. Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 25 Wissenschaft POLITIK intensive Sicherheitskontrollen wurden schnell zur Prävention eingeführt [5, 6]. Das Sicherheitsgefühl der Passagiere in der Luftfahrt konnte nur verzögert wiederhergestellt werden. Luftraumsperrung und Nachfragerückgang zusammen haben daher sichtbar zu einem Rückgang der Entwicklung über zwei bis drei Jahre geführt (Bild 1). Die Sars-Epidemie 2003, die in der Schwere der Erkrankung mit der heutigen Covid-19-Pandemie vergleichbar ist, hatte wegen der regionalen Begrenzung keinen sichtbaren Einfluss auf den Anstieg des Passagieraufkommens. Das Virus breitete sich ausgehend von südchinesischen Provinzen auch weltweit aus, mit insgesamt 8.400 Fällen in 29 Ländern war der Umfang im Vergleich zur Covid-19-Pandemie jedoch sehr gering [6, 7]. Ende Januar 2021 weist die Covid-19-Pandemie rund 99-Mio. Fälle und rund 2,1 Mio. Tote auf [7, 8]. Die Jahre nach der Finanzkrise 2008 bis 2010 zeigen dagegen ebenfalls eine leicht rückläufige Entwicklung der Passagierzahlen infolge des globalen Einbruchs der Wirtschaftsleistung. Der Ausbruch des Vulkans Eyjafjallajökull führte 2010 ohne nachhaltige Wirkung zu tagelangem deutlichem Rückgang des Flugverkehrs in Europa mit einem Ausfall von rund 100.000 Flügen, was rund 48 % des normalen Aufkommens der Zeit entsprach [8, 9]. Resümierend ist festzuhalten, dass in der Vergangenheit entweder wirtschaftliche Einbrüche oder Einschränkungen des Luftverkehrs als Einzelursachen von enger zeitlicher und räumlicher Begrenzung nur zu geringen Einbrüchen im Luftverkehrswachstum geführt haben. Die Covid-19-Pandemie begann im Spätherbst 2019 in epidemischer Form in China und breitete sich zunehmend im asiatischen Raum und dann über die globalen Verkehrswege weltweit aus. Eine Vielzahl schwerer Krankheitsverläufe bis hin zum Tod sowie fehlende Impfstoffe erzeugen weltweit erhebliche Ängste in Politik und Bevölkerung und führten weltweit im Frühjahr 2020 zum sogenannten ersten „Lockdown“ und damit zu einem globalen Zusammenbruch der Personenmobilität und weltweiten Rückgängen der Wirtschaftsleistung von rund -17 % [8, 9]. Diese Maßnahmen wurden im Herbst 2020 wiederholt, so dass der globale und regionale Passagierluftverkehr nahezu vollständig zum Erliegen kam. Die Folgen waren weitreichende Flottenstillegungen der großen Airlines, so dass bis zu 90 % oder 700 der Flugzeuge bei einer Airline am Boden blieben [13, 16]. So hat Air France 180 seiner 224 Flugzeuge am Boden behalten und nur 5 % der regulären Flüge angeboten [11]. Andere Quellen sprechen von bis zu 17.000 stillgelegten Verkehrsflugzeugen (64 % der Weltflotte) [4]. Die ICAO weist 2020 einen Rückgang der Beförderungsleistung von rund 60 % aus [4]. Dies führt in Bild 1 zu einem einschneidenden Einbruch der Luftverkehrsentwicklung, der in vergleichbarer Form auch von der IATA bis 2024 prognostiziert wird [5]. Globale staatliche Anordnungen, auf Reisen zu verzichten, sind im Vergleich zu früheren Ereignissen einmalig und neu. Betrachtet man die Covid-19-Pandemie vor diesem Hintergrund hinsichtlich ihrer Wirkung, so überlagern in der Pandemie der erhebliche Rückgang der weltweiten Mobilitätsnachfrage und staatliche vorgegebene Angebotsbeschränkungen, die zudem räumlich, zeitlich und in der Intensität deutlich einschneidender verlaufen, als bei früheren Ereignissen mit funktional vergleichbaren Auswirkungen. Vergleicht man den Einbruch durch die Pandemie mit den Einbrüchen 2001 und 2009, so zeigt sich allein grafisch ein Unterschied in Größenordnungen in zeitlicher Dauer und Intensität. Folgen dieser Entwicklung sind ein erheblicher Personalabbau und Flugzeugstillegungen bei den Luftfahrzeugbetreibern von bis zu 35 % laut IATA [20]. Die Flugzeugproduktion - ein überhitzter Markt? Die Auswirkungen der Pandemie auf den Luftverkehr führen auch zu einem massiven Einbruch des Herstellermarktes. Eine vergleichbare Entwicklung hat die europäische militärische Luftfahrtindustrie mit dem Ende des Kalten Krieges Anfang der 1990er Jahre erlebt, als umfangreiche Einsparprogramme einen erheblichen Rückgang der Auftragslagen und Beschäftigungen bewirkt haben. Durch den Zusammenbruch des Ostblocks veränderte sich grundlegend die sicherheitspolitische Lage in der Welt. Während zu diesem Zeitpunkt die zivile Luftfahrtindustrie nur geringe Produktionsstückzahlen aufwies, dominierte die Militärluftfahrtindustrie mit den Großprogrammen Tornado, Eurofighter, Tiger und NH90. Als Konsequenz wurden die Stückzahlen für alle militärischen Flugzeugmuster deutlich reduziert. Zusammen mit Wechselkursungleichgewichten Deutsche Mark und Dollar führten die Entwicklungen 1995 zu Bild 1: Entwicklung der globalen Beförderungsleistung der Luftfahrt seit 1970 [1, 3, 4]. Bild 2: Beschäftigungsentwicklung in der deutschen Luftfahrtindustrie 1979 - 2019, erweitert aus [15] Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 26 POLITIK Wissenschaft dem Einsparprogramm „Dolores“ (Dollar Low Rescue) der damaligen DASA und dem Abbau von rund 40 % der damalig 95.000 Arbeitsplätze in der Luftfahrtindustrie in Deutschland (Bild 2) [15]. Diese Entwicklung ist vergleichbar mit der aktuellen Situation, dergestalt, dass durch stillgelegte Flugzeuge der Markt für Neuflugzeuge zusammengebrochen ist und die Airlines in Personal und Sitzplatzangebot um gut 30 % weltweit schrumpfen. Airbus lieferte 2020 566 Flugzeuge aus, Boeing 157 - Einheiten. Diese Zahlen entsprechen in etwa dem Umfang der im April 2020 am Boden befindlichen Flugzeuge der Lufthansa-Gruppe. British Airways und Air France haben im Januar 2021 immer noch 194 ihrer 469 Flugzeuge am Boden [12]. Die Ankündigungen von Boeing und Airbus von 40 % Produktionsratenkürzung lassen daher erwarten, dass in ähnlicher prozentualer Größenordnung wie 1994 ein Personalabbau stattfinden wird. Teile dieses Einbruchs können durch das erstarkende Militärprogramm FCAS (Future Combat Air System) kompensiert werden, ähnlich wie umgekehrt nach 1995 der Verkehrsflugzeugmarkt kompensieren konnte. Seit 2006 entwickelten sich die Bestellzahlen, die deutlicher auf Marktstimmungen reagieren als Auslieferungszahlen, schwankend, und zeigen eine klare Abhängigkeit von einschneidenden Ereignissen wie den Terroranschlägen 2001 und der Finanzkrise 2009, wobei die Terroranschläge nachhaltiger wirkten (Bild 3). Aus den bisherigen Vorhersagen der großen Hersteller resultiert etwa alle 15 Jahre eine Verdoppelung der Beförderungsleistung, so dass 2020 rund acht Milliarden und 2025 zehn Milliarden Passagierkilometer zu erwarten waren (Bild 1). Dazu konnten in den letzten Jahren erhebliche Steigerungen in den jährlichen Produktionszahlen bei Airbus und Boeing verzeichnet werden, so dass im Jahr 2019 rund 1.300 Kurz- und Mittelstreckenmaschinen ausgeliefert wurden (Bild 4). Zusätzlich zeigt sich nach Herstellerangaben ein Trend zu immer größeren Sitzplatzkapazitäten je Flugzeug. So ist die Kapazität eines Airbus A320NEO mit- 180- Sitzplätzen gegenüber der A320-200 mit 140 bis 170- Plätzen um gut 6 % höher. Ähnliche Relationen bestehen für die B737MAX-Familie mit vergleichbaren Steigerungen gegenüber der 737NG-Serie. Damit steigt das Sitzplatzangebot der sich erneuernden Flotte, so dass mit weniger Flugzeugen das gleiche oder ein größeres Transportangebot erbracht werden kann. Bild 4 zeigt, dass seit 2012 die jährlichen Produktionsraten um mehr als 20 bis 30 % über dem jährlichen Wachstumsbedarf lagen und somit zusätzliche Kapazitäten, getrieben durch den Kampf der Hersteller um Marktanteile, erzeugten. Insbesondere typische Listenpreisrabatte im mittleren zweistelligen Prozentbereich lassen darauf schließen, dass ein nennenswerter Anteil an Bestellungen herstellerseitig induziert wurde und nicht unmittelbar marktgetrieben war. Airbus und Boeing hatten weitere Produktionssteigerungen auf monatlich 70 Kurz-/ Mittelstreckenflugzeuge für die nächsten Jahre angekündigt. Die hohen Produktionsraten bei Airbus und Boeing in den letzten Jahren resultierten u. a. auch aus der Notwendigkeit, in beiden Unternehmen einen ausreichenden Cashflow zu generieren, um die milliardenschweren Verbindlichkeiten aus den großen Entwicklungsprogrammen A380, A350, A400M bzw. B787, B737MAX usw. sowie den damit verbundenen Personalbestand zu finanzieren, der in diesem Ausmaß schon länger nicht mehr benötigt wurde. Eine künstliche Stimulation von Bestellungen, auch um den Wettlauf im Markt zu befeuern, findet hier eine logische Begründung. Insofern sind deutliche Hinweise auf eine Überhitzung in der Luftfahrt, verbunden mit wettbewerblich getriebenen, immer neuen Lieferrekorden, bereits vor der Corona-Pandemie gegeben. Durch die Covid-19-Pandemie ausgelöst, aber auch begründet durch die erkennbare Überhitzung, kündigte Airbus im Juni 2020 eine Kürzung der A320-Produktionsrate auf 40 Exemplare und für die A350-Familie einen Rückgang von sechs auf fünf Exemplare monatlich an. Reaktion einer Airline Mit Blick auf mögliche, den Flugzeugabsatz stimulierende politische Maßnahmen wird im Weiteren untersucht, Bild 4: Entwicklung und Perspektive der Produktionsraten der Kurzstreckenflugzeuge seit 2015, abgeleitet aus Herstellerangaben Eigene Darstellung Bild 3: Entwicklung der Bestellzahlen seit 2001 Eigene Recherche [14] Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 27 Wissenschaft POLITIK wie sich die Produktivität der Airlines in den nächsten Jahren entwickeln kann. Dazu wurden öffentlich kommunizierte Aussagen hinsichtlich möglicher künftiger Flottenzusammensetzungen der Lufthansa analysiert. Da die Lufthansa-Gruppe vergleichbare Flottenstrukturen aufweist wie British Airways und Air France, können die nachfolgenden Analysen durchaus auch auf andere Airlines ähnlicher Flottenstruktur übertragen werden. Die Flotte bestand Ende 2019 aus rund 700 Passagierflugzeugen mit einem Durchschnittsalter von knapp zwölf Jahren. Davon sind rund 540 dem Kurzstreckenbetriebssegment und ca. 160 dem Langstreckensegment zuzuordnen mit insgesamt rund 135.000 Sitzplätzen (Kurzstrecke 83.000, Langstrecke 52.000). Zu Beginn der Krise wurde von diesen Flugzeugen die Ausmusterung von sechs A380-800, sieben A340- 600, drei A340-300, fünf B747-400 sowie 21 A320-200 verkündet [16, 17, 18]. Nach Aussage der Airline vom September 2020 sollen Ende 2021 noch rund 300 der rund 700 Passagierflugzeuge am Boden stehen. In 2022 werden noch 200 Flugzeuge nicht im Betrieb sein, und ab 2023 wird die Flotte mit rund 150 Flugzeugen weniger als 2019 ihre neue Zielgröße erreichen [21, 22]. Im Zuge dieser Reduzierung werden bis Mitte des Jahrzehnts alle älteren und insbesondere vierstrahligen Jets ausgemustert. Gleichzeitig werden neue, modernere Maschinen eingeflottet (Tabelle 1) [18]. Für eine Einschätzung der weiteren Entwicklung ist zu berücksichtigen, dass die Dienstleistung „Flugreise“ anders als ein Flugzeug erst bei seiner Nutzung entsteht. Daraus folgt, dass stillgelegte Sitzplatzkapazitäten, durch nicht genutzte, am Boden stehende Flugzeuge erhebliche Fixkosten (Kapital- und Wartungskosten) verursachen. Daher ist es vital, die verfügbaren Sitzplatzkapazitäten jenseits normaler kurzfristiger saisonaler und konjunktureller Schwankungen an den Bedarf zu koppeln, was bei einem längeren Luftverkehrseinbruch eine Flottenreduktion begründet. Da eine schnelle Erholung u. a. aus vorgenannten Gesichtspunkten nicht plausibel erscheint, wurden mehrere Szenarien bis 2025 entwickelt, von denen drei unterschiedliche Ausprägungen hier dargestellt werden. Die Analyse dieser Szenarien dient in erster Linie dazu, den möglichen Lösungsraum zukünftiger Flottenentwicklung auszuleuchten und seine Sensitivitäten zu ergründen: • Luftfahrtmarkt konsolidiert mit gesteigerter Effizienz KS-LS 3 : 1 (-150 Flugzeuge): Flottenmix bleibt bei einem Verhältnis von etwa 3 : 1 von Kurzstrecke zu Langstrecke, die Flotte wird 2025 gegenüber 2019 um etwa 150 Flugzeuge reduziert sein. • Luftfahrtmarkt verschiebt sich auf die Kurzstrecke KS-LS 4 : 1 (-150 Flugzeuge): Flottenmix verschiebt sich zu einem Verhältnis von 4 : 1 von Kurzstrecke zu Langstrecke bei ebenfalls 150 Flugzeugen weniger in der Flotte unter der Annahme, dass teure interkontinentale Dienstreisen aus Kostengründen zunehmend virtuell durchgeführt werden. • Luftfahrtmarkt schrumpft stärker KS-LS 3 : 1 (-250 Flugzeuge): Flottenmix bleibt bei einem Verhältnis von etwa 3 : 1 von Kurzstrecke zu Langstrecke unter der pessimistischen Annahme, dass die Flotte bis 2025 um etwa 250 auf ca. 450 Flugzeuge geschrumpft ist. Tabelle 2 stellt unter Einbeziehung des Teilflottenalters mögliche Ausflottungen bis 2025 dar. Mit schrittweiser Wiederaufnahme des Flugbetriebes im Verlauf der kommenden Jahre und durch die sukzessive Inbetriebnahme der neubestellten Flugzeuge wächst die aktive Flotte nach einem Minimum im April 2020 wieder. Durch die Indienststellung der Neubestellungen (siehe Tabelle 1) und vermindert um die auszumusternden Flugzeuge (siehe Tabelle 2), reduziert sich die Flottengröße auf ca. 550 Maschinen in 2025 für die Szenarien KS- LS 3 : 1 (-150) und KS-LS 4 : 1 (-150) und ca. 450 Flugzeuge für das Szenario KS-LS 3 : 1 (-250) (Bilder 5 und 6). Für das Erreichen der angestrebten Flottengröße müssen neben der endgültigen Stilllegung sämtlicher A380 und A340 auch einige neuere A330-300, B747-8 sowie Embraer 190/ 195 und CRJ 900 ausgemustert werden, die 2025 zwischen zwölf und 20 Jahren alt sein wer- Langstrecke Bestellungen (Sitzplätze) - Inbetriebnahme bis 2025 A350-900 24 (293) B777-9 34 (400) B787-9 20 (280) Gesamt 78 (26232) Kurzstrecke Bestellungen (Sitzplätze) - Inbetriebnahme bis 2025 A320neo 40 (180) A321neo 29 (215) Gesamt 69 (13435) Tabelle 1: Anzahl bestellter Flugzeugmuster der LH-Gruppe bis zum Jahre 2025 im Lang- und Kurzstreckensegment (mittlere Sitzplatzanzahl pro Flugzeug bzw. aggregierte Sitzplatzanzahl in Klammern) Langstrecke KS-LS 3: 1 (-150) KS-LS 4: 1 (-150) KS-LS 3: 1 (-250) A380-800 14 (509) 14 (509) 14 (509) A340-600 19 (297) 19 (297) 19 (297) A340-300 23 (271) 23 (271) 23 (271) A330-300 1 (295) 20 (284) 20 (284) B747-400 13 (371) 13 (371) 13 (371) B747-8 10 (364) 19 (364) 19 (364) B767-300ER 6 (211) 6 (211) 6 (211) B777-200 6 (306) 6 (306) 6 (306) Gesamt LS 92 (27203) 120 (39496) 120 (39496) Kurzstrecke A319-100 36 (141) 33 (141) 63 (144) A320-200 71 (174) 48 (174) 97 (174) A321-200 42 (204) 34 (204) 40 (204) DHC-8 400 31 (76) 31 (76) 31 (76) E190 2 (104) 12 (104) 8 (101) E195 0 12 (120) 0 CRJ900 17 (90) 0 33 (90) Gesamt KS 199 (30053) 170 (24877) 272 (40105)d Gesamt LS+KS 291 290 392 Flottenalter 2025 9,5 Jahre 10,0 Jahre 8,1 Jahre Tabelle 2: Anzahl möglicher Ausflottungen bis 2025 im Lang- und Kurzstreckensegment für Flottenmix-Szenarien (mittlere Sitzplatzanzahl pro Flugzeug bzw. aggregierte Sitzplatzanzahl in Klammern) sowie das Durchschnittsalter der verbleibenden Flotte Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 28 POLITIK Wissenschaft den. Die Ausflottung älterer Flugzeuge ist dabei als eher kurzfristiges Instrument zur Steuerung der Gesamtflottenstruktur anzusehen, im Gegensatz zur langfristig zu planenden Einflottung neuer Maschinen. Durch den Flottenumbau würde auch das mittlere Flottenalter von 11,7 Jahren im Dezember 2019 bis 2025 auf etwa acht bis zehn Jahre abnehmen, so dass ein weiterer Austausch vorerst nicht sinnvoll erscheint. Bild 7 zeigt, dass in den beiden Szenarien 2025 mit einer um 150 Flugzeuge verkleinerten Flotte etwa 85 % des Sitzplatzangebotes aus Dezember 2019 wieder erreicht werden kann. Dies liegt vor allem an den höheren Sitzplatzkapazitäten der neuen A320neo/ A321neo und der B777-9 im Vergleich zu den ausgemusterten A320/ A321 und den A340 sowie den B747-400. Insbesondere im Szenario KS-LS 3 : 1 (-150) können die 78 neu in Dienst gestellten Langstreckenflugzeuge das Sitzplatzdefizit der 92 ausgeflotteten Langstreckenjets nahezu kompensieren. Im Szenario 3 : 1 (-250) werden infolge der Flottenveränderungen bis 2025 noch etwa 71 % der Sitzplatzkapazität aus 2019 erreicht. Vergleichbare Entwicklungen lassen sich auch bei anderen Airlines beobachten [19]. Folgerungen und Ausblick Aus den vorstehenden Analysen lassen sich eine Reihe von Schlussfolgerungen für die weitere Entwicklung ableiten: • Die zeitlich und räumlich ausgedehnte Überlagerung des weltweiten Einbruchs der Luftverkehrsnachfrage gekoppelt mit erheblichen staatlichen Auflagen und Einschränkungen beim Luftverkehrsangebot ist bisher einmalig und lässt aufgrund von Analogien zur Vergangenheit sowohl bei Herstellern wie auch Betreibern Produktions- und Beschäftigungseinbrüche von bis zu 40 % realistisch erscheinen. • Der Kampf um Marktanteile bei Betreibern und Herstellern sowie hohe Entwicklungskosten haben in der Vergangenheit das Bestellverhalten stimuliert. Damit wurden vor der Pandemie Überkapazitäten geschaffen. • Werden die laufenden Neubeschaffungen der Airlines trotz der Pandemie umgesetzt, erfolgt eine erhebliche Flottenverjüngung, die keine weiteren Beschaffungen rechtfertigt. • Mit den neuen Flugzeugmustern können die Airlines mit deutlich reduzierter Flottengröße aufgrund höherer Sitzplatzdichte fast die gleiche Transportleistung anbieten. • Auch der Sekundärmarkt der ausgemusterten älteren Flugzeuge untergräbt für einige Jahre die Notwendigkeit von Neubeschaffungen und Neuentwicklungen. • Die politisch stimulierte Beschaffung weiterer Neuflugzeuge über die bisherigen Bestellungen hinausgehend bedroht die wirtschaftliche Substanz der Airlines durch Leerstand und kann daher nicht empfohlen werden. Eine deutliche Konsolidierung des Herstellermarktes allein nimmt erheblichen Druck aus dem Lufttransportsystem. Für diese Entwicklung ist die Covid-19-Pandemie Auslöser, nicht aber alleinige Ursache. Die Covid-19-induzierten Rückgänge werden von längerfristigem Bestand sein und sind als Korrektiv anzusehen. Daher sollte eine Konsolidierung des Herstellermarktes und Orientierung auf neue gefragte Produkte wie Drohnen, Lufttaxis und Militärprogramme unvoreingenommen betrachtet werden, um negative Dominoeffekte vom Hersteller auf den zivilen Betreibermarkt zu vermeiden. ■ Bild 7: Entwicklung des Sitzplatzangebotes nach Ausgang aus der Pandemie für die Gesamtflotte Eigene Darstellung Bild 6: Mögliche Flottenentwicklung von 2020 bis 2025 im Szenario KS-LS 3 : 1 (-250) Eigene Darstellung Bild 5: Mögliche Flottenentwicklung von 2020 bis 2025 im Szenario KS-LS 3 : 1 (-150) Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 29 Wissenschaft POLITIK QUELLENVERZEICHNIS [1] Gollnick, V.: Entwicklung des Weltluftverkehrs, Vorlesung Lufttransportsysteme, Institut für Lufttransportsysteme, Technische Universität Hamburg, SS2020 [2] N.N.: Airbus - Global Market Forecast 2019, www.airbus.com, letzter Zugriff, 04.09.2020 [3] N.N.: Boeing - Current Market Outlook 2019, www.boeing.com, letzter Zugriff 04.09.2020 [4] N.N.: Effects of Novel Coronavirus (Covid-19) on Civil Aviation: Economic Impact Analysis, International Civil Aviation Organization, ICAO, Montreal, 14. 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