Internationales Verkehrswesen
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expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2021-0034
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Staufrei in die Berge
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Korbinian Leitner
Erst ein „Friedensgipfel“ konnte die Lage wieder beruhigen, nachdem der Konflikt um den Ausflugsverkehr der Münchner Bevölkerung ins Voralpenland eskaliert ist. Der Landkreis Miesbach verbot die Einreise zu touristischen Tagesausflügen und brachte die Münchner gegen sich auf. Im Lockdown suchen die Stadtbewohner die nahe gelegene Erholung, nur die Zielorte ersticken im Verkehr. Statt Umsätze in Handel und Gastronomie zu erzielen, bleiben verstopfte Landstraßen, Luft- und Lärmbelastung. Digitale Lösungen haben das Potenzial, den Verkehr von der Quelle bis zum Ziel staufrei zu steuern.
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Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 44 Staufrei in die Berge Corona und die Folgen für den Ausflugsverkehr am Beispiel der Stadt München Ausflugsverkehr, Infrastruktur, Parkraumbewirtschaftung, Stau, Verkehrssteuerung, Voralpenland Erst ein „Friedensgipfel“ konnte die Lage wieder beruhigen, nachdem der Konflikt um den Ausflugsverkehr der Münchner Bevölkerung ins Voralpenland eskaliert ist. Der Landkreis Miesbach verbot die Einreise zu touristischen Tagesausflügen und brachte die Münchner gegen sich auf. Im Lockdown suchen die Stadtbewohner die nahe gelegene Erholung, nur die Zielorte ersticken im Verkehr. Statt Umsätze in Handel und Gastronomie zu erzielen, bleiben verstopfte Landstraßen, Luft- und Lärmbelastung. Digitale Lösungen haben das Potenzial, den Verkehr von der Quelle bis zum Ziel staufrei zu steuern. Korbinian Leitner N ichts geht mehr: Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie beschränken die Reisemöglichkeiten nahezu vollständig und verordnen den Bürgerinnen und Bürgern eine Art „Heimat-Arrest“. Alle sind Zuhause und verbringen ihre Zeit hier, den Urlaub, die Wochenenden und die Sonn- und Feiertage. So fahren die Stadtbewohner in die Naherholungsgebiete der ländlichen Umgebung. Die Münchnerinnen und Münchner zieht es in das Alpenvorland. Mit seinen Bergen und Seen ist es zu jeder Jahreszeit prädestiniert für einen Ausflug in die Natur. Für die Voralpenregion ist dieser Ausflugstourismus keine Überraschung. Bereits mit Beginn des Eisenbahnzeitalters wurden die Naherholungsgebiete Zug um Zug mit Direktverbindungen in die bayerische Landeshauptstadt erschlossen. Der Ort Schliersee beispielsweise verfügt seit 1869 über einen Bahnanschluss, Tegernsee wurde 1912 angebunden. Die Straßenverbindungen kamen sukzessive über die Jahrzehnte hinzu. Kurz gesagt, die Zielorte der Ausflügler sind seit Beginn der Sommerfrische touristisch geprägt, haben gelernt, mit ihren Gästen umzugehen und leben überdies zum großen Teil vom Tourismus. Aber Corona verändert scheinbar alles und bringt einen Konflikt zum Ausbruch, der noch nie so heftig ausgetragen worden ist wie jetzt. Ausflugsverkehr An schönen Tagen machen sich viele Münchnerinnen und Münchner auf den Weg in die Voralpenregion und bringen den Verkehr zum Erliegen. Beispiel Luftkurort Walchensee im Landkreis Bad Tölz- Wolfratshausen. In etwa 6.000 Autos fahren bis zu 20.000 Menschen in einen Ort, der selbst nur 350 Einwohner zählt [1]. Auf den Zufahrtsstraßen kommt es zu kilometerlangen Staus und die Parkplätze im Ort und Foto: Dürnsteiner / pixabay MOBILITÄT Freizeitverkehr Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 45 Freizeitverkehr MOBILITÄT auch der umliegenden Gemeinden sind voll belegt. Wer keinen Platz mehr findet, der zwängt sich an den Straßenrand und versperrt nicht selten eine Zufahrt. All das zum Ärger der Bevölkerung, die sich neben der Luft- und Lärmbelastung um ihre eigene Mobilität gebracht sieht. In anderen Orten am Voralpenrand ist die Situation ähnlich. Die Ausflügler entscheiden sich in Corona- Zeiten für das Automobil und meiden Bus und Bahn. Da hilft es auch nicht, dass die Ausflugsregionen bestens mit Nahverkehrszügen erschlossen sind, deren Frequenz und Taktung zum Fahrplanwechsel just im Dezember 2020 nochmals verdichtet worden ist [2]. Problemstellung Die Situation ist volkswirtschaftlich schnell erklärt: Die Nachfrage übersteigt das Angebot und es kommt zur Übernutzung der Infrastrukturkapazitäten. Für den fließenden Verkehr bedeutet dies Stau, d. h. es wollen mehr Fahrer eine Straße zur selben Zeit nutzen als es die Kapazitäten hergeben. Für den ruhenden Verkehr bedeutet es Vollauslastung der Parkplätze und in der Folge „wildes Parken“, d. h. ein Teil der Fahrer weicht - oft straßenrechtswidrig - auf hierfür nicht vorgesehene Flächen aus. Wir haben es also mit einem Infrastrukturproblem zu tun. Lösung Es gibt zwei Möglichkeiten, die Probleme in den Griff zu bekommen: Die Infrastruktur kann ausgebaut und das Angebot der Nachfrage angepasst werden oder man passt umgekehrt die Nachfrage dem Angebot an und steuert die Nutzung der Infrastruktur. Ausbau der Infrastruktur Straßen und Parkplätze könnten grundsätzlich erweitert werden. In den Zielgebieten der Voralpen stößt man hier allerdings schnell auf bauliche Grenzen und Vorbehalte. Nicht nur dass mancherorts tatsächlich kein Platz mehr für Erweiterungen vorhanden ist, es widerspricht auch dem Geschäftsmodell, unberührte Flächen für eine Erweiterung der Infrastruktur zu versiegeln. Schließlich ist es der Naturgenuss selbst, der die Ausflügler zum Ausflug motiviert. Am Beispiel des Ortes Spitzingsee im Landkreis Miesbach zeigt sich auch, dass die vorhandenen Anlagen vor Jahrzehnten mit wenig Rücksicht und Feingefühl für die Belange des Landschaftsschutzes errichtet worden sind. Der größte Teil des Ortes ist mit Parkflächen versiegelt, ebenerdig und eingeschossig, und sogar hochwertige Flächen unmittelbar am Seeufer werden aktuell völlig unter Wert als Abstellort verwendet. Ich schlage deshalb vor, die Hanglagen geschickt für mehrgeschossige Parkhäuser zu nutzen, die entsprechend „unsichtbar“ in die Topographie eingefügt werden können. Damit würde die versiegelte Grundfläche effektiver genutzt, attraktive Lagen könnten renaturiert oder einer höherwertigen touristischen Nutzung zugeführt werden und das Erscheinungsbild des Ortes Spitzingsee würde deutlich gewinnen. Steuerung der Nutzung Ein zweiter Lösungsansatz ist die Bewirtschaftung von Parkraum. Viele Kommunen bepreisen ihre öffentlichen Stellplätze und erheben eine Nutzungsgebühr. Auch die Orte in der Voralpenregion tun dies und verlangen Parkgebühren. So stellt sich allein die Frage, ob es darüber hinaus einer überörtlichen Steuerung der Nachfrage bedarf und ob die Parkgebühren ihrer Höhe nach richtig gesetzt sind, um eine lenkende Wirkung zu entfalten. Parkplatzbepreisung Solange mehr Autofahrer einen Stellplatz suchen als Parkplätze vorhanden sind, ist der Preis zu niedrig. Die Möglichkeiten einer Bewirtschaftung scheinen nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten nicht ausgeschöpft zu sein. Ich schlage daher vor, die Preise zu erhöhen und ggf. zeitlich zu differenzieren. Das Parkticket an Sonn- und Feiertagen würde demnach teurer sein als an Werktagen, da auch die Lenkungswirkung aufgrund höherer Nachfrage größer sein muss. So kann mit dem Instrument des Preises ein Nachfrageüberhang vermieden werden. Schnell könnte der Eindruck entstehen, die Kommunen würden damit einfach nur Kasse machen wollen. Um dem entgegen zu wirken, bieten sich Gegenleistungen für die Parkkunden an. So ließe sich zum Beispiel mithilfe der Gebühreneinnahmen ein attraktives Parkangebot finanzieren, etwa in Form von Sanitäranlagen und Versorgungsmöglichkeiten wie Kioske. Oft genug empfängt einen eine wenig einladende und mangelbehaftete Infrastruktur. Parkplatzreservierung Darüber hinaus kommt man an einer überörtlichen Steuerung nicht umhin, möchte man den Ausflugsverkehr großräumig in den Griff bekommen. Die Ausflügler benötigen bereits zum Zeitpunkt und am Ort ihrer (Ausflugs-)Entscheidung - Zuhause bzw. in der Unterkunft - die Information über freie Parkplätze. So genügt es also nicht, den Fahrer erst auf dem Weg oder im Zielort über voll besetzte Parkanlagen zu informieren. Die Kommunen (als Betreiber der Parkplätze) müssen diese Information früher platzieren. Ein Vorschlag: Sämtliche Parkplatzkapazitäten im voralpinen Naherholungsgebiet von München online buchbar machen. Auf diese Weise kann der Ausflugsverkehr bereits an der Quelle gesteuert und in Gebiete gelenkt werden, in denen noch freie Kapazitäten zur Verfügung stehen. Parkanlagen an Flughäfen beispielsweise werden auf diese Weise bewirtschaftet. Die Gemeinden könnten einen Dienstleister mit dieser Aufgabe betrauen. Im Großraum München gibt es dazu bereits ein Musterbeispiel: Die Park&Ride GmbH München managt seit 1992 rund 40 Stellplatzanlagen im Stadtgebiet und der näheren Umgebung. Alternativ dazu ist ein kommunaler Zweckverband oder eine neu zu gründende Betreibergesellschaft denkbar, um die zweckgebundene, interkommunale Zusammenarbeit zu organisieren und die Buchungsplattform für Parkplätze in den Ausflugsgebieten bereitzustellen und zu betreiben. Politische Umsetzung Wie wenig sich die kommunalen Mandatsträger in der Sache zu helfen wissen, zeigen deren Reaktionen, über die in der Lokalpresse in aller Ausführlichkeit berichtet wird. „Es brennt wirklich“, schreibt etwa der Miesbacher Landrat Olaf von Loewis an den bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Markus Söder, und die örtlichen Bürgermeister rufen in den Zeitungen dazu auf, doch bitte Zuhause zu bleiben. Eine Allgemeinverfügung verbietet schließlich touristische Tagesausflüge in den Landkreis Miesbach. So wird die Atmosphäre zwischen Stadt und Land nach Kräften vergiftet, bis schließlich ein „Friedensgipfel“ Mitte Januar 2021 die Kommunalpolitiker wieder an einen Tisch bringt [3]. Die Allgemeinverfügung wird aufgehoben und die Diskussion versachlicht. Erste Lösungsansätze machen die Runde. ■ LITERATUR [1] Vecchiato, A. (2020): Ärger mit dem „Overtourism“. In: Süddeutsche Zeitung (online) vom 27. Dezember 2020, www.sueddeutsche. de (Abruf: 24.2.2021) {2] Sechs neue Lint-Züge angekommen - BRB verdichtet den Takt. In: Miesbacher Merkur (online) vom 10. Dezember 2020, www.merkur. de (Abruf: 26.2.2021) {3] Effern, H.; Köpf, M. (2021): Mein Berg, mein See, mein Auto. In : Süddeutsche Zeitung (online) vom 15. Januar 2021, www.sueddeutsche. de (Abruf: 26.2.2021) Korbinian Leitner, Dr. Referatsleiter Verkehr, IHK für München und Oberbayern, München leitner@muenchen.ihk.de
