eJournals Internationales Verkehrswesen 73/2

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2021-0040
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2021
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Die Angebotsattraktivität des SPNV in Deutschland

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Daniel Herfurth
Die Verkehrswende lenkt den Blick auf ökologisch vorteilhafte Verkehrsmittel wie den öffentlichen Verkehr (ÖV). Wenn die Klimaziele erreicht werden sollen, führt neben dem Vermeiden von Verkehr und dem Verbessern von Antriebstechniken kaum ein Weg vorbei an einer Verschiebung des Modal Split: weg vom motorisierten Individualverkehr und hin zum ÖV. Soll dies auf freiwilliger Basis erfolgen, müssen die Angebote des ÖV so attraktiv sein, dass sie zum Umstieg animieren. Diese Studie zeigt am Beispiel des Schienenpersonennahverkehrs (SPNV) die Angebotsattraktivität in den 28 Aufgabenträgergebieten in Deutschland. Dabei wird deutlich, dass erhebliche Unterschiede im Leistungsniveau bestehen, für die bisher gängige Erklärungsmuster nur zum Teil herangezogen werden können.
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Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 65 Wissenschaft MOBILITÄT Die Angebotsattraktivität des SPNV in Deutschland Ein quantitativer Vergleich der 28 großen SPNV-Aufgabenträger Öffentliche Daseinsfürsorge, Öffentlicher Verkehr, Verkehrswende, Quantitative Leistungsmessung Die Verkehrswende lenkt den Blick auf ökologisch vorteilhafte Verkehrsmittel wie den öffentlichen Verkehr (ÖV). Wenn die Klimaziele erreicht werden sollen, führt neben dem Vermeiden von Verkehr und dem Verbessern von Antriebstechniken kaum ein Weg vorbei an einer Verschiebung des Modal Split: weg vom motorisierten Individualverkehr und hin zum ÖV. Soll dies auf freiwilliger Basis erfolgen, müssen die Angebote des ÖV so attraktiv sein, dass sie zum Umstieg animieren. Diese Studie zeigt am Beispiel des Schienenpersonennahverkehrs (SPNV) die Angebotsattraktivität in den 28 Aufgabenträgergebieten in Deutschland. Dabei wird deutlich, dass erhebliche Unterschiede im Leistungsniveau bestehen, für die bisher gängige Erklärungsmuster nur zum Teil herangezogen werden können. Daniel Herfurth D ie Analyse der Attraktivität des SPNV trifft in Deutschland auf mindestens zwei Probleme: Es fehlt eine verbindliche Definition dafür, was attraktiven SPNV ausmacht [1], und es fehlen Daten. Bisherige Studien fokussieren sich allzu gerne nur auf städtische Ballungsräume [2] oder vermischen sämtliche Arten des ÖV zu einem vermeintlichen Gesamtbild [3]. Was bisher im SPNV ausgespart wurde, ist eine Analyse, die den SPNV flächendeckend und zugleich entlang seiner Verantwortungsstrukturen erfasst. Nur eine flächendeckende Analyse kann die grundgesetzliche Forderung nach gleichwertigen Lebensverhältnissen ehrlich überprüfen. Gleichermaßen kann nur eine Analyse entlang von Verantwortungsgrenzen auf den politischen Handlungsimpuls hoffen, den die Verkehrswende benötigt: Nur wer zuständig ist, muss sich angesprochen fühlen und kann sich nicht hinter einem Gesamtsystem verstecken. So fortschrittlich der Gedanke der nahtlosen Beförderungskette und der „Mobility as a Service“ [4] aus Nutzerperspektive auch sein mag - rechtlich ist der öffentliche Verkehr ein fragmentiertes System mit klar getrennten Zuständigkeiten. Daher führt diese Kurzvorstellung sämtliche Studienergebnisse zum SPNV stets auf die verantwortlichen Stellen zurück - die Aufgabenträger (AT) des SPNV. Abb. 1: Territoriale Gliederung der Aufgabenträger Eigene Darstellung. Kartengrundlage: © GeoBasis-DE / BKG 2020. Erläuterungen zu den Abkürzungen in der Langfassung dieses Artikels. NVBW BEG VRS VBB-BE VBB-BR RH VRR NVR NWL LNVG RVB NASA TMIL NAH.SH VMV ZSPNV Süd SPNV Nord ZPS VMS VVO ZVNL ZVON HVV SKUMS RMV VRN NVV ZVV Bild 1: Territoriale Gliederung der Aufgabenträger PEER REVIEW - BEGUTACHTET Eingereicht: 27.01.2021 Endfassung: 06.04.2021 Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 66 MOBILITÄT Wissenschaft Die Aufgabenträger des SPNV Im Nachgang zur Bahnreform von 1994 wurde mit der Regionalisierung 1996 die Verantwortung für den SPNV von der Bundesebene auf die Länderebene übertragen. Die Länder regelten in ihren ÖPNV-Gesetzen im eigenen Ermessen, die Aufgabe entweder zentral auf Landesebene anzusiedeln oder auf kommunale Ebene zu delegieren. So bestehen heute - nach einigen Veränderun- Querschnitt AV-1a AV-2a AV-3 AV-4a AV-5a AV-6 Netzdi chte Netzfrequenz 2018 2018 2018 2018 2018 2018 [Anzahl / 1.000 km²] [m / km²] [% d. Fläche] [0-30 Punkte] Bundesebene 17,54 88,15 1,74 1,57 72,70 AT-Ebene 29,50 130,75 2,14 1,92 89,03 9,54 Minimum 7,00 55,00 0,50 0,82 19,60 1,00 Maximum 149,00 660,00 11,26 5,99 100,00 23,00 21 12 23 7 5 23 AT ohne Stadtstaaten 21,92 102,12 1,52 1,62 87,71 9,36 Minimum 7,00 55,00 0,50 0,82 19,60 1,00 Maximum 41,00 308,00 3,42 3,36 100,00 23,00 6 6 7 4 5 23 Anmerkungen 1) Mittelwert für Deutschl and aus den Rohdaten, ohne Berücksi chtigung von AT-Abgrenzungen. 2) Glei chgewi chtiges Mittel aus den 28 AT. 3) Verhältni s von Maximum zu Minimum. Gerundet auf ganze Zahlen. Deskriptive Statistik zur Angebotsattraktivität Stationsdi chte Stationsfr. Verbundabd. Transpa'score [Halte / h und Ri.] [Züge / h und Ri.] Mittelwert 1) Mittelwert 2) Faktor 3) Mittelwert 4) Faktor 3) Bild 2: Deskriptive Statistik zur Angebotsattraktivität Abb. 3: Relative Vergleiche zwischen den AT Durchschnittlicher Wert Tarife Wert leicht negativer als der Durchschnitt Wert stark negativer als der Durchschnitt Wert leicht positiver als der Durchschnitt Wert stark positiver als der Durchschnitt Monatskarten Jahreskarten Einzelfahrkarten Zuschussbedarf Transparenz Legende Alle Indikatoren: Einzelwerte der AT bis einschließlich +/ - 10 % um den Mittelwert aller AT gelten als durchschnittlich. Definition der Abweichungen: Eigene Darstellung. Kartengrundlage: © GeoBasis-DE / BKG 2020 Bild 3: Relative Vergleiche zwischen den AT Abweichung … Tarif Zuschussbedarf Transparenz … leicht positiver < 90 bis 70 % < 90 bis 80 % > 110 bis 150 % … stark positiver < 70 % < 80 % > 150 % … leicht negativer > 110 bis 130 % > 110 bis 120 % < 90 bis 50 % … stark negativer > 130 % > 120 % < 50 % Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 67 Wissenschaft MOBILITÄT gen in der Zwischenzeit - 28 AT des SPNV [5]. Details zur Genese, den institutionellen Unterschieden und den-Veränderungen der AT im Zeitverlauf finden sich in der Langfassung zu diesem Artikel (zu finden unter: www.iv-dok.de/ 2021/ 21012741). Diese 28 AT bilden den Anknüpfungspunkt der Untersuchungen in dieser Studie. Bild 1 zeigt die Karte mit den gebräuchlichen Kurznamen der AT und deren territorialen Zuschnitt. Indikatorenauswahl auf Basis von Nutzerpräferenzen Die Auswahl der Indikatoren der Angebotsattraktivität erfolgt auf Basis von Studien zu Nutzerpräferenzen. Jene Studien fördern trotz unterschiedlicher Methodik und Entstehungsjahre sehr ähnliche Ergebnisse zutage: An erster Stelle steht zumeist der Tarif, gefolgt von Aspekten der Zugänglichkeit und der Verfügbarkeit. Aspekte des Komforts stehen zumeist erst weiter unten [6, 7, 8, 9]. Daraus lässt sich ein System von acht Indikatoren bilden, das die Ansprüche der Stakeholder „Nutzer“ und „Steuerzahler“ berücksichtigt. Die Indikatoren lauten: Stationsdichte und -frequenz, Netzdichte und -frequenz, Verbundabdeckung, Transparenz, Tarif und Zuschussbedarf. Die genaue Operationalisierung der Indikatoren kann der ausführlichen Fassung zu diesem Beitrag entnommen werden. Alle Indikatoren werden im Querschnitt für das Jahr 2018 erhoben. Für vier Indikatoren stehen zusätzlich Daten für einen Trend von 1996 bzw. 1998 gegenüber 2018 zur Verfügung. Leistungsunterschiede von bis zu Faktor 23 Die deskriptive Empirie (Bild 2) zeigt deutlich: Die Angebotsattraktivität des SPNV unterscheidet sich anhand dieser acht Indikatoren mitunter erheblich. Das wird besonders gut sichtbar, wenn man für jeden Indikator jeweils die minimale und die maximale Ausprägung miteinander vergleicht. Stets liegt mindestens Faktor 2 zwischen Minimum und Maximum, zum Beispiel beim Zuschussbedarf (AV-8 in Bild 2): Er reicht von 6,49 EUR pro Zugkilometer bis 12,03 EUR pro Zugkilometer. Lässt man die Stadtstaaten, die stets auch AT des SPNV sind, außen vor, reduziert sich der Unterschied zwischen Minimum und Maximum bei manchen Indikatoren, jedoch nicht überall. Mindestens Faktor 2 bleibt auch dann als Unterschied bestehen, im Extremfall sogar Faktor 23 (AV-6 in Bild-2). Relativer Vergleich und politische Benchmarks Die Tabelle in Bild 2 zeigt Mittelwerte, Minima und Maxima für alle Indikatoren als Synopse. Mit der fehlenden Definition für einen attraktiven SPNV wird in dieser Studie nun auf zwei Arten umgegangen: Zum einen können relative Vergleiche zwischen den 28 AT vorgenommen werden. Zum anderen können politische Forderungen, die Mindeststandards postulieren (etwa „überall Stundentakt“), als Benchmarks herangezogen und mit dem Ist-Zustand abgeglichen werden. Bild 3 nimmt sich Indikatoren vor, für die besonders der relative Vergleich zwischen den AT interessant ist. So zeigt Bild 3 für den Tarif, den Zuschussbedarf und die Transparenz auf, wie die AT relativ zum Mittelwert des jeweiligen Indikators abschneiden. Dabei wird deutlich, dass einzelne AT die Mittelwerte um mehr als 50 % überbzw. unterschreiten. Die Farblegende in Bild 3 wurde dabei so intuitiv wie möglich gehalten: Grüne Farbtöne stehen stets für positive Ergebnisse, also einen günstigen Tarif, einen niedrigen Zuschussbedarf oder eine hohe Transparenz. Gelbe und rote Farbtöne stehen entsprechend für negative Ergebnisse, also einen teuren Tarif, einen hohen Zuschussbedarf oder eine niedrige Transparenz - stets mit zwei Abstufungen relativ zum Durchschnitt aller AT. Die Definition von „leichter“ und „starker“ Abweichung vom Durchschnitt wurde anhand der empirischen Werteverteilung mit Rücksicht auf empirische Cluster vorgenommen. Daher unterscheiden sich die Grenzwerte leicht von Indikator zu Indikator. Holistische Betrachtung nicht sinnvoll Es fällt auf, dass allein für diese drei Indikatoren kein einziger der 28 AT stets in derselben „Liga“ spielt, also über alle drei Indikatoren stets durchschnittliche, unter- oder überdurchschnittliche Resultate erzielt. Dies gibt Trend AV-7 AV-8 AV-1b AV-2b AV-4b AV-5b Tarif für 17 km Zuschuss Netzdi chte Netzfrequenz 2018 2018 1998 - 2018 1996 - 2018 1996 - 2018 1998 - 2018 [Einzelfahrkarte in €] [Monatskarte in €] [Jahreskarte in €] [+ / - Anteil] [+ / - Anteil] [+ / - Anteil] [%-Punkte] 9,04 0,01 -0,07 0,40 36,20 5) 4,39 101,30 991,02 9,23 0,01 -0,05 0,39 66,21 2,70 63,40 627,70 6,49 -0,22 -0,32 0,19 19,60 5,90 145,10 1507,20 12,03 0,14 0,13 0,73 100,00 2 2 2 2 4 5 4,56 103,36 1011,87 9,36 0,01 -0,06 0,40 66,21 2,70 63,40 627,70 6,49 -0,22 -0,32 0,20 19,60 5,90 145,10 1507,20 12,03 0,14 0,13 0,73 100,00 2 2 2 2 4 5 4) Glei chgewi chtiges Mittel aus 25 AT (ohne AT der Stadtstaaten). 5) Werte in dieser Spalte nur mit jenen AT, die 1998 noch nicht über 100 % Verbundabdeckung verfügten (n=16). Stationsdi chte Verbundabd. [€ / zkm] AV = abhängige Variable (in diesem Artikel: Variablen der Angebotsattraktivität) Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 68 MOBILITÄT Wissenschaft einen ersten Hinweis darauf, dass eine umfassende Bewertung der Performanz kaum möglich ist. Es sollte folglich vom Versuch Abstand genommen werden, einen holistisch „besten“ AT zu ermitteln. Stattdessen sind die Ergebnisse für jeden Indikator der Angebotsattraktivität einzeln zu betrachten. Politische Benchmarks: Umsetzung zeigt Licht und Schatten Gerade beim Tarif - dem wichtigsten Kriterium aus Nutzerperspektive - lohnt auch ein Abgleich mit der politischen Forderung des „365 Euro Tickets“. Dahinter steht die Idee, eine Jahreskarte anzubieten, die nicht mehr als 365 Euro - entsprechend 1 EUR am Tag - kosten soll [10, 11]. Bezieht man dieses Anliegen einmal auf die durchschnittliche Pendelstrecke, so sieht man, dass diese Forderung nirgends umgesetzt ist: Der günstigste Tarif liegt bei 627,70 EUR für eine Jahreskarte 1, 2 . Im Mittel (der AT) kostet sie 991,02 EUR - also 2,72 EUR pro Tag statt 1 EUR pro Tag. Für weitere Indikatoren der Angebotsattraktivität ist ebenfalls ein absoluter Vergleich mit politischen Forderungen möglich. So gibt es Forderungen nach „mindestens Stundentakt auf allen Strecken“ [12], nach nahtloser Mobilität [13, 14, 15] und nach ganz grundsätzlich „mehr Angebot“ [14, 16]. Übersetzt man diese Forderungen in die zur Verfügung stehende Batterie an Indikatoren, so kann die Stundentakt-Forderung mittels des Indikators „Stationsfrequenz“, die Nahtlose-Mobilität-Forderung mittels des Indikators „Verbundabdeckung“ und die Mehr-Angebot-Forderung mittels einer Kombination aus den Indikatoren „Netzdichte“ und „Netzfrequenz“, jeweils im Trendschnitt, mit dem Status Quo abgeglichen werden. Bild 4 visualisiert die Ergebnisse für jene drei Forderungen. Die Forderung nach einem flächendeckenden Stundentakt als Mindestangebot erfüllen bereits 22 der 28 Aufgabenträger (gelbe und grüne Gebiete in Bild 4 oben links). Acht AT bieten sogar mindestens einen Halbstundentakt im Durchschnitt über all ihre Strecken (grüne Gebiete). Die verbleibenden sechs AT bieten dagegen im Durchschnitt nur einen Zweistundentakt an ihren Stationen (rote Gebiete). Bei der Forderung nach nahtloser Mobilität, die hier über die Existenz von Verkehrsverbünden operationalisiert wurde, ergibt sich empirisch ein sehr heterogenes Bild: Während im Status Quo 23 AT-Gebiete zu jeweils 100 % von Verbünden bedeckt sind (alle Gebiete mit Grüntönen in Bild 4 oben rechts), folgen die restlichen fünf AT mit weitem Abstand, nämlich zwischen 19,6 und 49,6 % Flächenabdeckung (Gebiete mit Rottönen in Bild- 4 oben rechts). Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Startbedingungen sehr verschieden waren: Die Abb. 4: Absolute Vergleiche mit politischen Forderungen Sachstand zur Taktfrequenz Eigene Darstellung. Kartengrundlage: © GeoBasis-DE / BKG 2020 Sachstand zu „Mehr Angebot“ Legende zu „Mehr Angebot“ Sachstand zur nahtlosen Mobilität ND > 1 % gewachsen, NF ≥ 40 % gewachsen ND > 1 % gewachsen, NF < 40 % gewachsen ND > 1 % geschrumpft, NF ≥ 40 % gewachsen ND > 1 % geschrumpft, NF < 40 % gewachsen ND - 1 % bis + 1 %, NF ≥ 40 % gewachsen ND - 1 % bis + 1 %, NF < 40 % gewachsen ND = Netzdichte, NF = Netzfrequenz Bedienung mind. 2x pro Stunde Bedienung mind. 1x pro Stunde Bedienung geringer als 1x pro Stunde Legende zur Taktfrequenz 100 % seit mind. 1998 Von >0 % in 1998 auf <100 % in 2018 Von >0 % in 1998 auf <100 % in 2018 Von >0 % in 1998 auf <100 % in 2018 Von >0 % in 1998 auf <100 % in 2018 Legende zur nahtlosen Mobilität Operationalisiert über Verbundabdeckung: Hinweis: Der Schwellenwert zum Wachstum der Netzfrequenz bei 40 % wurde abgeleitet aus dem empirischen Mittelwert des Wachstums der Netzfrequenz in ganz Deutschland. Dieser liegt bei 40 %. Die Karte zeigt damit hinsichtlich der Netzfrequenz unter- und überdurchschnittliches Wachstum. Bild 4: Absolute Vergleiche mit politischen Forderungen Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 69 Wissenschaft MOBILITÄT Farbintensitäten innerhalb der rot und grün gefärbten Gebiete reflektieren das, indem sie den bereits vorhandenen Anteil an Verbundabdeckung im Jahr 1998 angeben. Besonders positiv sind dementsprechend aus heutiger Sicht zwar alle grün gefärbten Gebiete. Was die Entwicklung betrifft, haben sich aber die sechs grün-gelblich gefärbten Gebiete besonders positiv hervorgetan. Sie konnten ihre Verbundabdeckung von 1998 bis 2018 von 0 auf 100-% steigern. Positive Ergebnisse zur Forderung nach „mehr Angebot“ teils trügerisch Die pauschale Forderung nach „mehr Angebot“ bedarf einer Konkretisierung: Ist unter „mehr Angebot“ eine Ausweitung des Netzes und der Stationen zu verstehen, oder eine Erhöhung der Frequenzen auf bestehenden Netzen und an bestehenden Stationen? Empirisch haben die Netzfrequenzen seit der Regionalisierung in ausnahmslos allen AT-Gebieten zugenommen - und zwar zwischen 19 und 73 % (AV-4b in Bild 2). Zieht man nur die Netzfrequenz heran, war die Regionalisierung überall eine reine Erfolgsgeschichte, wenn auch in unterschiedlicher Intensität. Ideal aus Nutzersicht wäre jedoch eine Kombination aus beidem: Eine zunehmende Netzfrequenz sollte einhergehen mit einer zunehmenden oder wenigstens gleichbleibenden Netzdichte. Vereinfacht ausgedrückt wäre eine Kombination aus mehr Abfahrten an einer mindestens konstant bleibenden Zahl von Stationen zu begrüßen. Die Tabelle (AV-2b in Bild 2) zeigt bereits, dass dem nicht so war: Die Netzdichten haben sich seit 1996 zwischen -32 und +13 % verändert. Es zeigt sich dabei in etwa eine Dreiteilung Deutschlands, erkennbar am roten, grünen und grauen Gebiet in Bild 4, untere Karte: In vielen AT-Gebieten im Osten hat die Netzdichte abgenommen (in Rottönen eingefärbt). Im Norden und Westen ist eine Zunahme der Netzdichte zu beobachten (in Grüntönen eingefärbt). Im Süden schließlich sind etwa konstante Netzdichten zu beobachten (in Grautönen eingefärbt). Dem gegenüber steht die Veränderung bei der Netzfrequenz: In allen drei Bereichen lässt sich anhand der Farbintensität der Grad der Zunahme der Netzfrequenz ablesen: Dunkle Rot-, Grün- und Grautöne stehen für eine überdurchschnittliche Zunahme der Netzfrequenz, helle Rot- Grün- und Grautöne für eine unterdurchschnittliche Zunahme der Netzfrequenz. Bild 4, untere Karte, führt die Entwicklung der Netzfrequenz mit derjenigen der Netzdichte zusammen. Besonders positiv hervorzuheben sind also dunkelgrüne Gebiete, in denen die Netzdichte und zugleich die Netzfrequenz überdurchschnittlich gesteigert wurden. Besonders negativ fallen dagegen die hellroten Gebiete auf, in denen die Netzdichte abnahm und zudem noch die Netzfrequenz nur unterdurchschnittlich anstieg. Sozio-geografische Rahmenbedingungen als Erklärungsansätze Die großen Unterschiede zwischen den AT hinsichtlich einiger Indikatoren der Angebotsattraktivität werfen die Frage nach einer Erklärung auf. Während in der Ergebnisdarstellung (s. o.) darauf geachtet wurde, die Leistungsdaten stets als Realphänomene darzustellen (etwa „Halte pro Station“) und nicht mit sozio-geografischen Rahmenbedingungen zu vermischen (etwa „Halte pro Einwohner“), spielen jene sozio-geografischen Rahmenbedingungen nun in der Ursachenforschung eine große Rolle. Bisherige Studien gehen oft davon aus, dass etwaige Unterschiede in der Leistung der AT fast vollständig auf die Unterschiede in der Sozio-Geografie zurückzuführen seien [17, 18]. Korreliert man die Indikatoren der Angebotsattraktivität mit gängigen Indikatoren zu verkehrlich relevanten sozio-geografischen Rahmenbedingungen [19, 20], so ergibt sich ein uneinheitliches Bild: Die stark ingenieurisch geprägten Indikatoren der Angebotsattraktivität - nämlich Stationsdichte und -frequenz, sowie Netzdichte und -frequenz - weisen tatsächlich starke Zusammenhänge mit sozio-geografischen Indikatoren, wie etwa der Besiedlungsdichte, auf (r zwischen 0,81 und 0,95). Allerdings verbleiben auch für jene vier Indikatoren in einer Ausreißeranalyse noch zahlreiche Paarvergleiche mit nicht über die Sozio-Geografie erklärbaren Leistungsunterschieden. Für alle übrigen Indikatoren der Angebotsattraktivität ist der Zusammenhang jedoch bereits auf Korrelationsebene deutlich schwächer (r zwischen 0,23 und 0,49). Die Ergebnisse im Einzelnen sind in der Langfassung zu finden. Abb. 5: Empirische Variablenbeziehungen Stat'dichte Stat'frequ. Sozio-geografische Indikatoren Pkw-Dichte Netzdichte BIP pro Kopf = Korrelation auf hohem Signifikanzniveau (ρ ≤ 0,01). = Indikatoren der Angebotsattraktivität ohne signifikante Korrelationen Hinweis: Sozio-geografische Indikatoren (SGI), Pkw-Dichte und BIP pro Kopf stehen mit den von der jeweiligen Klammer erfassten Indikatoren der Angebotsattraktivität einzeln in signifikantem Zusammenhang. Aufschlüsselung der SGI im Einzelnen in der Langfassung. Angebotsattraktivität Transparenz Tarif Netzfrequ. Verbund Zuschuss Bild 5: Empirische Variablenbeziehungen Internationales Verkehrswesen (73) 2 | 2021 70 MOBILITÄT Wissenschaft Nimmt man weitere verkehrlich relevante Kontrollvariablen hinzu, etwa die PKW-Dichte oder das BIP pro Kopf, so ergeben sich auch hier nur vereinzelt hohe Korrelationen mit den Indikatoren der Angebotsattraktivität. Gleicht man wiederum die PKW-Dichte und das BIP pro Kopf mit den sozio-geografischen Rahmenbedingungen ab, so drängt sich der Eindruck auf, dass in Teilen eine Mediationsbeziehung zwischen sozio-geografischen Indikatoren, PKW-Dichte und Indikatoren der Angebotsattraktivität besteht. Bild-5 gibt einen Überblick über den vermuteten mediierten Zusammenhang. Zu beachten ist dabei, dass der Zusammenhang bisher nur auf Basis von Korrelationen abgeleitet wurde. Eine Aussage zur Kausalität ist darin noch nicht enthalten, wobei angenommen werden darf, dass die Sozio-Geografie - wenigstens in der kurzen Frist - den Indikatoren der Angebotsattraktivität, wie auch den zusätzlichen Kontrollvariablen (PKW-Dichte und BIP pro Kopf ), zeitlich und kausal vorgelagert ist. Fazit Die Leistungsunterschiede zwischen den AT-Gebieten sind groß. Zwischen Minimum und Maximum an Angebotsattraktivität liegt je nach betrachtetem Indikator mindestens Faktor 2, maximal Faktor 23. Die bisher gängigen Erklärungen dafür tragen nur zum Teil: Die soziogeografischen Rahmenbedingungen liefern ein hohes Erklärungspotenzial für die vier eher ingenieurisch geprägten Größen (s. o.), jedoch nur ein geringes Erklärungspotenzial für die sonstigen Indikatoren der Angebotsattraktivität. Weitere Kontrollvariablen bieten nur vereinzelt zusätzliche Erklärungsansätze und deuten auf einen Mediationszusammenhang hin. Die Aufgabenträger des SPNV sind die politisch Verantwortlichen für den SPNV. Sollen Leistungsunterschiede im Sinne gleichwertiger Lebensverhältnisse im ganzen Land abgebaut werden, sind sie die zuständigen Adressaten, die sich nicht hinter einem Gesamtsystem verstecken können. In Anbetracht der Klimaziele im Verkehrssektor ist es mehr denn je erforderlich, verantwortliche Stellen klar zu benennen und die ihnen zurechenbare Leistung herauszuarbeiten. In Ermangelung verbindlicher Standards für ÖPNV und SPNV ist der relative Vergleich zwischen den zuständigen Stellen im föderalen Wettbewerb momentan die einzige Möglichkeit, um zielgerichtet im Sinne gleichwertiger Lebensverhältnisse nachsteuern zu können. Mit Blick auf eine klimafreundliche Verkehrswende wäre eine Konvergenz in Richtung des jeweils höchsten Niveaus an Angebotsattraktivität natürlich am erfreulichsten. Davon ist der SPNV in Deutschland noch weit entfernt. ■ Langfassung des Beitrags: www.iv-dok.de/ 2021/ 21012741 1 Auf welche Nutzungsmöglichkeit sich die Forderung genau bezieht (das Gebiet eines Verbundes, eines Bundeslandes, eines SPNV-AT - oder eben nur auf eine durchschnittliche Pendelstrecke), bleibt in den politischen Programmen leider meistens unklar. 2 Verbünde und andere Tarifkooperationen unterhalb der AT-Ebene bieten 365-Euro-Tickets in Einzelfällen an. Der Bezugspunkt hier sind aber nur solche Pendelstrecken, die so „ungünstig“ liegen, dass sie stets den AT-weit gültigen Tarif erforderlich machen. Etwaige andere Tarife, die nicht AT-weit angewendet werden können, bleiben unberücksichtigt. LITERATUR [1] ARL Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft (2020): Raumordnung: Anwalt für gleichwertige Lebensverhältnisse und regionale Entwicklung. Eine Positionsbestimmung. ARL-Positionspapier 115. Hannover: ARL [2] Civity Management Consultants (2017): ÖPNV-Report 2017. Hamburg und Berlin: Civity Management Consultants [3] BBSR Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (2018): Verkehrsbild Deutschland. Angebotsqualitäten und Erreichbarkeiten im öffentlichen Verkehr. Bonn: BBSR [4] Hietanen, S. (2014): Mobility as a Service. The new transport model? 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