eJournals Internationales Verkehrswesen 73/3

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2021-0047
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2021
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Resilienz im Eisenbahnwesen

91
2021
Philipp Schneider
Birgit Milius
Die Eisenbahn ist in Deutschland als kritische Infrastruktur definiert. Als solche muss sie ein hohes Maß an Resilienz aufweisen. Doch was bedeutet das genau, was umfasst der Begriff „Resilienz“? Der Beitrag zeigt Hintergründe zum Begriff sowie Definitionsansätze und -elemente verschiedener Wissenschaftsdisziplinen auf, bevor die für das System Eisenbahn relevanten Aspekte herausgearbeitet werden. Dabei wird auch diskutiert, inwieweit die Eisenbahn von jeher ein System mit hohem Resilienzniveau ist.
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Internationales Verkehrswesen (73) 3 | 2021 19 Wissenschaft INFRASTRUKTUR Eine Betrachtung der verschiedenen Dimensionen des Resilienzbegriffs verdeutlicht den großen Einsatzbereich des Konzepts. Hierzu zählen unter anderem: •• Zeitlicher Horizont: kurz-, mittel- oder langfristig [14] •• Phasen des Resilienzzyklus (vgl. Bild 1) •• Domäne: technisch, sozial, organisatorisch, ökonomisch, physisch, psychologisch [5, 13] •• Handlungsraum: statisch (Fähigkeit eines Systems zur Vorhaltung einer bestimmten Kapazität) oder dynamisch (Regenerationsfähigkeit eines Systems) [14] •• Realisierende Instanz: Anwender von Prozessen/ Regelwerken, Management oder abstrakt ein funktionales Systemlevel [2] •• Einflussebenen: physikalische Einwirkung, Beeinflussung der Servicequalität, psychologischer Einfluss [14] bez. allgemeiner Umwelt, Individuum, Gesellschaft, Organisation [8] Eine Studie war auf Grundlage der Analyse verschiedener Resilienzdefinitionen in der Lage, deren verwendete Attribute 45 verschiedenen Klassen zuzuordnen, wobei das Attribut „Schnelligkeit [der Wiederherstellung einer Funktionalität]“ am häufigsten verwendet wurde [15]. Für die vorliegende Arbeit wurden die oben zitierten Metaanalysen aus der Literatur näher betrachtet und um eine eigene Analyse von 28 Definitionen aus schwerpunktmäßig ingenieurswissenschaftlichen Arbeiten ergänzt. Diese Auswahl ist nicht erschöpfend oder repräsentativ, bietet aber einen guten Überblick über existierende Ansätze. Auf dieser Basis kann für die Definition des Resilienzbegriffs konstatiert werden, dass •• in Abgrenzung zu Begriffen wie Robustheit und Resistenz eine Reaktion auf ein Ereignis stattfindet, bspw. in Form einer eingeschränkten Kapazität [6] - wobei meist nicht explizit auf den Ursprung (extern/ intern) des Ereignisses eingegangen wird, •• Systeme sich temporär an äußere Einflüsse „anpassen“ und anschließend wieder „erholen“, was aber nicht immer die Rückkehr zum Ausgangszustand impliziert [13]; häufig wird auch die Schnelligkeit/ Effizienz dieser Anpassung betont, •• häufig die präventiven, jedoch fast immer reaktive Phasen (und meistens beide) adressiert werden; eine Dominanz präventiver Phasen, wie in [3] festgestellt, kann nicht bestätigt werden (vgl. Bild 1), •• bezüglich der Art externer Einflüsse meist von disturbances und disruptions die Rede ist und es darüber hinaus eine Vielzahl weiterer - fast immer negativ konnotierter - Umschreibungen gibt, •• Resilienz meist als bestehende Qualität (ability) benannt wird, selten nur als Prozess, •• gerade im technischen Bereich der Begriff der Zuverlässigkeit von zentraler Bedeutung ist [13], •• Definitionen häufig mit dem allgemeinen Ziel aufgesetzt werden, einen Umgang mit der zunehmenden technischen und sozialen Komplexität zu finden [2]. Resilienzdefinitionen mit explizitem Infrastrukturbezug betonen häufig die Relevanz von Attributen wie der Antizipation, Absorption, Adaption und Erholung von solchen Einflüssen, wie auch die Aufrechterhaltung eines Mindestkapazitätsniveaus [9]. Es gelingt nicht immer, kurze und prägnante Definitionen aufzustellen. Oft sind umfassende Erläuterungen nötig, die mitunter von der eigentlichen Definition gar nicht klar abgrenzbar sind. Auch werden im definiens (siehe unten) Begriffe benutzt, die selbst nicht trennscharf definiert sind. Gut sichtbar wird dies an der oben erwähnten Vielzahl externer Einflüsse. Bild 1: Trefferzahl mit Suchbegriff „Resilience“ bei Google-Ngram- Suche. Es ist zu berücksichtigen, dass gerade ältere Arbeiten nicht umfassend erfasst sind. Eigene Darstellung Bild 2: Resilienzzyklen Quellen von links nach rechts: [16, 17, 18] Internationales Verkehrswesen (73) 3 | 2021 20 INFRASTRUKTUR Wissenschaft Auch in der Normung findet sich eine Definition des Resilienzbegriffs, und zwar in der DIN EN 22300 als „Fähigkeit, Veränderungen in der Umgebung aufzunehmen und sich an diese anzupassen“. Dies soll - nebst einer Vielzahl weiterer, verwandter Begriffe wie Robustheit und Störung - als Arbeitsgrundlage für andere Normen zur Sicherheit dienen. [19] Seit den 2000er Jahren, verbunden insbesondere mit den Autoren Hollnagel und Woods, gibt es den Begriff des Resilience engineering. Hier geht es um den Umgang mit menschlichen und organisatorischen Aspekten in der Sicherheitsarchitektur technischer Systeme [20]. Wie häufig bei neuen Konzepten zu beobachten, gab und gibt es auch eine Diskussion darüber, inwieweit das überhaupt neu und nötig ist [2]. Die Vielzahl von Veröffentlichungen zum Thema deutet darauf hin, dass viele Forscher dies bejahen. Auch hier existieren aber begriffliche Unschärfen und Abgrenzungsprobleme [21]. Resilienz im Eisenbahnbereich Die Relevanz des Resilienzkonzeptes für die kritische Infrastruktur „Eisenbahn“ wird in diesem Abschnitt allgemein und anhand verschiedener Beispiele diskutiert. Beispiele für Resilienzaspekte früher und heute Es kann argumentiert werden, dass die Grundidee der Resilienz - wenn auch nicht notwendigerweise unter diesem Begriff und eher auf Komponentenebene bzw. in Teilgebieten denn als Systemgedanke - bereits lange im Eisenbahnwesen verankert ist. Historisch waren es vor A B C D Nr. Bereich Beschreibung Review 1 Eisenbahnsicherungstechnik Sicherheitskritische Systeme sind in der Regel fail-safe ausgelegt; das bedeutet, dass bei Eintreten einer Fehlfunktion ein sicherer Zustand eingenommen wird. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Gleisstromkreis zur Freimeldung von Gleisen. Fehlfunktionen führen hier stets zu einer Besetztmeldung (sicherer Zustand). Der Betrieb wird dadurch gehemmt, kann aber mit geringerer Kapazität fortgeführt werden. Die Ausfallsicherheit sicherungstechnischer Systeme ist zwar ein elementares Wesensmerkmal der Eisenbahn und macht sie zu einem der sichersten Verkehrsträger. Es geht hier aber eher um die funktionale Sicherheit und weniger um eine flexible Anpassung an widrige äußere Umstände. In diesem Sinne handelt es sich um kein Merkmal hoher Resilienz. 2 Eisenbahnbetrieb Im Regelbetrieb sorgen technische Systeme für einen sicheren, heute mitunter auch teilautomatisierten Betriebsablauf. Oft stehen dahinter in den Regelwerken mehrere Rückfallebenen, die auch unter erschwerten Bedingungen die Fortsetzung des Betriebes ermöglichen sollen: So kann ein „Halt“ zeigendes Signal möglicherweise mit einem Ersatzsignalbegriff passiert werden; ist auch dies nicht möglich, gibt es die Möglichkeit eines schriftlichen Befehls durch den Fahrdienstleiter. Manche Regelwerke kennen darüber hinaus auch das eigenverantwortliche Passieren durch den Triebfahrzeugführer. Diese Rückfallebenen sorgen für ein geringeres Sicherheitsniveau und eine Leistungsfähigkeit, die zwar sinkt, aber ein Mindestniveau sicherstellt. Das Vorhandensein ggf. mehrerer Rückfallebenen ermöglicht im Schienenverkehr eine schnelle Anpassung an externe Ereignisse. Da diese im Regelwerk vorgezeichnet sind, kann man aus organisatorischer Sicht auch von einer intrinsischen Reaktion des Systems sprechen. Ein weiteres Beispiel hierfür ist, dass selbst ein Totalausfall eines Stellwerks mit der Konsequenz stromloser und nicht mehr ansteuerbarer Signalanlagen einen behelfsmäßigen Betrieb (mit sog. Fahrstraßenkarten) nicht unmöglich macht [24]. Es handelt sich hier um ein Beispiel für ein hohes Maß an Resilienz. 3 Fahrplankonstruktion Fahrpläne werden seit jeher mit Zeitzuschlägen zur Mitigation betrieblicher Unregelmäßigkeiten und mit Pufferzeiten zum Abfangen von Verspätungsübertragungen geplant. Auf diesem Wege können externe Störeinflüsse abgefedert werden. Der Begriff Timetable Resilience existiert im Englischen sogar schon, wird aber auf die Möglichkeit der Reduzierung von Sekundärverspätungen durch ausschließlich dispositive Maßnahmen bezogen [25]. Auch ohne diese Einengung ist gerade der Einsatz von Pufferzeiten und Fahrzeitzuschlägen ein hervorragendes Beispiel für Resilienz im Eisenbahnwesen. 4 Netzstruktur Einen erheblichen Einfluss auf die Leistungsfähigkeit eines spurgeführten Verkehrssystems hat die Netz- und Linienplanung. Die Bündelung von Verkehren z. B. auf Stammstrecken ist einerseits ökonomisch sinnvoll, andererseits entstehen so Infrastrukturen mit besonders hoher Kritikalität, deren Ausfall große Auswirkungen hat. Umgekehrt verhält es sich, wenn jede Linie eines Netzes auf einer eigenen Infrastruktur verkehrt. Die Netzstruktur ist oft auch das Resultat der Topographie eines Gebietes. [14] Im Fernverkehr ergibt sich die Netzstruktur in der Regel durch die Topographie, Siedlungs- und Wirtschaftsstruktur eines Landes, während sie im urbanen Verkehr oft zu einem größeren Anteil das Ergebnis produktionstechnischer Überlegungen ist. Worin auch immer der Ursprung liegt: Die Netzstruktur hat bei allen Netzwerkindustrien einen sehr hohen Einfluss auf die Anzahl kritischer Knoten und Kanten und damit auf die Resilienz des Systems. 5 Rechtliche Eingriffsmöglichkeiten für staatliche Krisen Fast alle Staaten kennen geschriebene oder ungeschriebene Regelungen für den Notstand, die ein Eingreifen des Staates in privatwirtschaftliche Bereiche ermöglichen. In Deutschland können Eisenbahnen beispielsweise mittels des Verkehrssicherstellungsgesetzes bestimmte Aufgaben aufgezwungen werden, um die Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems zu erhalten. [26] Das Vorhandensein von Regelungen für den Notstand (also besonders drastische externe Ereignisse mit mannigfaltigen konkreten Auswirkungen) kann aus organisatorischer Sicht für schnellere Reaktionen des Systems sorgen, wenngleich der konkrete Wert in der Praxis durch die Seltenheit und Unbestimmtheit des Szenarios unklar ist. Auch handelt es sich nur allerweitesten Sinne um ein intrinsisches Vermögen, weswegen es sich hier eher um kein gutes Beispiel für ein hohes Resilienzniveau handelt. 6 Unfalluntersuchung (Beinahe-)Unfälle haben schon immer zur Weiterentwicklung von Eisenbahnbetrieb und -technik beigetragen. Unabhängige Unfalluntersuchungsstellen haben diese Form organisationalen Lernens institutionalisiert. Organisationales Lernen dürfte mitverantwortlich sein für das in der Vergangenheit stetig gewachsene Sicherheitsniveau im Eisenbahnsektor. Im Sinne der vorgeschlagenen Definition fügt es sich dann als Beispiel für ein hohes Maß an Resilienz ein, sofern Resilienz als Prozess aufgefasst wird. Das Lernen aus Unfällen kann per se nur für das nächste Ereignis dieser Art hilfreich sein, nicht für das aktuell betrachtete. Tabelle 1: Beispiele für Resilienz im Bahnbereich Internationales Verkehrswesen (73) 3 | 2021 21 Wissenschaft INFRASTRUKTUR allem Einflussnahmen vonseiten des Militärs, wie z. B. der Bau zusätzlicher Verbindungskurven und Umgehungsstrecken, die offensichtlich der Erhöhung der Resilienz dienten. Diese Einflüsse gingen in der jüngeren Vergangenheit jedoch stark zurück [22], könnten eventuell durch Bemühungen auf europäischer Ebene partiell wieder aufleben [23]. Andere Beispiele, die im Rahmen eines Brainstormings mit Bahnexperten gesammelt wurden, zeigt Tabelle 1 in den Spalten A bis C; auf Spalte D wird später Bezug genommen. Man könnte diese Liste sicher noch fortführen, z. B. in Form der unabhängigen Bahnstromnetze, der unterbrechungsfreien Stromversorgung kritischer Anlagen, redundanten Daten- und Versorgungsleitungen, der Ausrüstung zweigleisiger Strecken mit Gleiswechselbetrieb, der (künftigen) Struktur von Betriebssteuerzentralen und ihren Schnittstellen, Crash-Normen in der Fahrzeugtechnik, regelmäßigen gesundheitlichen Kontrollen und fachlichen Trainings oder auch dem ausdifferenzierten betrieblich-technischen Regelwerk, das den Anwendern schnelles regelbasiertes Handeln ermöglicht und so für-Handlungssicherheit auch unter widrigen Bedingungen sorgt. Diese Beispiele können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Resilienzkonzept im Eisenbahnwesen bisher kaum ganzheitlich betrachtet worden ist. Häufig anzutreffen ist hingegen die implizite Berücksichtigung von Resilienzaspekten durch Vorgaben zur Sicherstellung eines sicheren Bahnbetriebs, d. h. die Fokussierung auf die RAMS(S)-Elemente Zuverlässigkeit, Verfügbarkeit, Instandhaltbarkeit und Sicherheit im Safety-Sinne; IT-Security steht ebenfalls häufig im Fokus [27]. Für das Bahnsystem als kritische Infrastruktur im faktischen wie legalen Sinne erscheint jedoch eine ganzheitliche Resilienzbetrachtung angemessen. Erfordernis eines höheren Stellenwerts in der Zukunft Funktion und Daseinsberechtigung der Eisenbahn ist die Beförderung von Passagieren und der Transport von Gütern, wobei die Bedeutung für den Alltag vieler Menschen und die enge Verzahnung mit industriellen Prozessen zu betonen ist. Auch als Medium zur Krisenreaktion (Ausfälle anderer kritischer Infrastrukturen sowie Bedrohungen der inneren und äußeren Sicherheit) spielt die Eisenbahn eine wichtige Rolle [23]. Ein (Teil-)Ausfall kann schwerwiegende negative Auswirkungen haben: für Eisenbahnunternehmen bzw. den Staat als Finanzier (Einnahmeverluste, Kosten zur Wiederherstellung des Status quo sowie schwer quantifizierbare Betriebserschwerniskosten), für die Nutzer des Eisenbahnsystems (Verspätungen und Zugausfälle) und für die Gesellschaft inkl. ihrer verschiedenen Wirtschaftszweige in Form von Wohlfahrtsverlusten [14]. Dieser weitreichenden Bedeutung wurde schon früher durch Notstandsgesetze Rechnung getragen [26]. In der jüngeren Vergangenheit erfolgte eine grundlegende Definition u. a. in der EU-Richtlinie 2008/ 114/ EG. Danach ist eine „‚kritische Infrastruktur‘ die in einem Mitgliedstaat gelegene Anlage […], die von wesentlicher Bedeutung für die Aufrechterhaltung wichtiger gesellschaftlicher Funktionen [ist] und deren Störung oder Zerstörung erhebliche Auswirkungen auf einen Mitgliedstaat hätte“. Der Schienenverkehr wird hierbei explizit aufgeführt. Kritische Infrastrukturen sehen sich verschiedenen Gefährdungen gegenüber, die in Tabelle 2 dargestellt werden. Diese unterscheiden sich grundlegend, nicht nur in den dargestellten Kategorien, sondern auch bspw. in ihrer zeitlichen Vorhersagbarkeit. Große, d. h. bestimmte Unternehmens-/ Produktionskenngrößen übersteigende, Eisenbahninfrastrukturunternehmen (EIU) und Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) werden in Deutschland auf Basis des Gesetzes über das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSIG) sowie einer ergänzenden Verordnung (BSI-KritisV) den Kritischen Infrastrukturen zugeordnet. Für diese EIU, EVU und ggf. auch assoziierte Dritte gelten besondere, im BSIG formulierte Anforderungen. Definitionen in der Wissenschaft „In jeder wissenschaftlichen Arbeit ist darzulegen, von welchen Begriffsinhalten und Prämissen ausgegangen wird.“ [29] Gute Definitionen in natürlicher Sprache (in Abgrenzung zu logischen Definitionen) sind das Ergebnis menschlichen Einfallsreichtums [30], folgen aber einer bestimmten Struktur und Terminologie, da sie stets aus definiendum (dem zu definierenden Term), definiens (dem definierenden, erläuternden Term) und copula (der Art der Verbindung zwischen beiden) bestehen [30]. Eine Definition ist weder wahr noch falsch, sondern zweckmäßig oder nicht zweckmäßig [29], weswegen die Definition eines Begriffs fallweise unterschiedlich sein kann, ohne dass dies per se ein Problem darstellt. Viele vermeintliche Widersprüche in der Literatur resultieren aus unterschiedlichen Definitionen und Prämissen [29]. Ein gemeinsames Verständnis von Begrifflichkeiten und Konzepten ist ein wichtiger Schritt zur wissenschaftlichen Erschließung eines Sachgebietes - idealerweise setzen sich die passenden Definitionen als fachlicher Konsens durch [12]. Etablieren sich Begriffe in mehreren Disziplinen parallel, können Bedeutungen mehr und mehr auseinanderdriften. Aber auch innerhalb einer Disziplin kann es sein, dass sich keine einheitliche, akzeptierte Definition herausbildet. Ist dies der Fall, entstehen regelmäßig neue Definitionen - trotz des Grundsatzes, dass das Verfassen neuer Definitionen die Ausnahme bilden sollte [29]. Ist im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit die Definition eines Begriffs nötig, sollte diese mit Fachtermini unterlegt sein und einheitlich verwendet werden [31]. Zugleich erleichtern Kürze, Einfachheit und Klar- Endogene Ereignisse Exogene Ereignisse Unbeabsichtigt (Fehler) Unfälle (z. B. Zusammenstöße oder Entgleisungen), resultierend aus technischen Ausfällen oder betrieblichen Fehlhandlungen Naturgefahren, Unfälle an Bahnübergängen, Ausfälle abhängiger Infrastrukturen Beabsichtigt (Angriffe) Streiks, Sabotage Terrorismus, Kriminalität, IT-Angriffe Tabelle 2: Ansatz zur Unterscheidung von Gefährdungen für das Bahnsystem nach-[28] Internationales Verkehrswesen (73) 3 | 2021 22 INFRASTRUKTUR Wissenschaft heit das Leseverständnis, auf Redundanzen und Zirkelschlüsse ist zu verzichten. Eine möglichst globale Definition, die widerspruchsfrei auf alle denkbaren Fälle anwendbar ist, müsste zwangsläufig sehr allgemein sein und kann fachspezifische Besonderheiten nicht berücksichtigen. Eine zu enge Definition ist wiederum ebenfalls nicht sinnvoll, weil die Fixierung aller Parameter für einen bestimmten Anwendungsfall jeglichen Allgemeingültigkeitsanspruch zunichtemacht. Überlegungen zu einer Resilienzdefinition im-Eisenbahnwesen Die vorgenannte Entwicklung lässt sich auch am Begriff der Resilienz - allgemein, im Ingenieurwesen und im Eisenbahn-/ Verkehrswesen - nachvollziehen. Dabei sind die verwendeten Definitionen wohl für ihr jeweiliges wissenschaftliches Anliegen geeignet, haben mitunter aber nur geringe Schnittmengen. In [9] wird kritisiert, dass die Vielzahl unterschiedlicher Definitionen ein gemeinsames Verständnis des Begriffs verhindert, wobei dort auch eine Konvergenz zu einem gemeinsamen Verständnis erkannt wird, da sich verschiedene Kernelemente wie Absorptions-, Erholungs- und Anpassungsfähigkeit regelmäßig wiederholten. Im Abschnitt „Resilienzdefinitionen“ wurden anhand verschiedener Definitionen häufig anzutreffende Bestandteile herausgearbeitet. Dies soll im Folgenden mit den Feststellungen aus dem Abschnitt „Resilienz im Eisenbahnbereich“ verknüpft werden. Es wird an dieser Stelle darauf verzichtet, eine weitere neue Definition vorzuschlagen, um die oben beschriebene Inflation nicht noch zu verschärfen. Vielmehr wird als Basis der weiteren Betrachtung auf die Definitionen von Hollnagel [20, 32] zurückgegriffen, die häufig zitiert werden und ein relativ großes Maß an Akzeptanz erfahren. Der Autor selbst hat die Definitionen in seinen zahlreichen Publikationen weiterentwickelt. Resilienz ist demnach die „intrinsic ability of a system to adjust its functioning prior to, during, or following changes and disturbances, so that it can sustain required operations under both expected and unexpected conditions” [32]. Diese Definition ist aufgrund ihres generischen Ansatzes geeignet, sowohl auf die Bahninfrastruktur, als auch auf das Gesamtsystem angewendet zu werden. Spezifizierungen können dann in Bezug auf das konkrete Untersuchungsobjekt oder Bedrohungsszenario vorgenommen werden. Zur Eingrenzung der gegebenen Definition des Resilienzbegriffs für das Eisenbahnwesen sowie für mögliche neue Ansätze werden darüber hinaus folgende Vorschläge gemacht: •• Abgrenzung gegenüber Safety: Resilienz hat Außenwirkung. Auch unter widrigen Umständen soll die Funktionalität gewährleistet und die Ausgangsbasis möglichst schnell wiedergewonnen werden. Die Resilienzanalyse eines Systems sollte zur Abgrenzung davon ausgehen, dass es in sich sicher funktional arbeitet. Technische Fehler (1. Quadrant in Tabelle 2) sind daher nicht Betrachtungsgegenstand, sofern nicht ein Ausfall anderer Infrastrukturen (z. B. der- Energieversorgung) auf das Eisenbahnsystem einwirkt. •• Abgrenzung der Betrachtungsebene: Die Betrachtung einzelner Komponenten oder technischer Teilsysteme ist durch den RAMS-Prozess nach DIN EN 50126 grundlegend normiert. Dies kann für die Betrachtung der Funktionalität eines Gesamtsystems - ggf. in bestimmten geographischen Grenzen - nicht ohne weiteres gesagt werden. Daher sollte bei Resilienzanalysen eine hohe Betrachtungsebene eingenommen werden. •• Zeitliche Abgrenzung: Resilienzbetrachtungen behandeln oft langfristig wirksame Bedrohungen wie den Klimawandel. Die konkreten Einflüsse treten aber oft sehr kurzfristig und unvermittelt auf, teilweise praktisch ohne Vorwarnzeit (z. B. bei Erdbeben und Terroranschlägen). Eine Definition sollte daher keine zeitliche Eingrenzung vornehmen. •• Räumliche/ Organisatorische Abgrenzung: Basierend auf dem Ziel der Analyse ist es notwendig, das betrachtete System organisatorisch (z. B. Fernverkehr oder Nahverkehr) und/ oder räumlich (z. B. Teilnetz oder Bahnhof ) abzugrenzen. •• Abgrenzung des Handlungsraums: Weitgehend etabliert hat sich die Darstellung von Phasen eines Resilienzzyklus‘ wie in Bild 2. Ähnliche Prozessdarstellungen finden sich auch in verwandten, teils normierten Bereichen wie dem Risikomanagement. Eine Resilienzdefinition im Eisenbahnwesen sollte dabei in Übereinstimmung mit den vorangegangenen Überlegungen auf die strategischen Phasen wie Preparedness oder Mitigation fokussieren und sich vom operativen Krisenmanagement abgrenzen. In der Anwendung dürfte es gleichwohl häufig zu Überschneidungen kommen. •• Antrieb/ Motivation: Ein Eisenbahnsystem verfügt über ein gewisses Resilienzniveau oder nicht - in jedem Fall ist ein technisches, organisatorisches o. ä. Vermögen zur Reaktion auf externe Ereignisse implizit vorhanden. Reaktionen, die nach Ereigniseintritt von Grund auf initiiert werden müssen, leisten keinen Beitrag zur Resilienz des Systems. •• Gefährdungsart: Diskutabel ist eine weitere Eingrenzung der relevanten Gefährdungen. Da soziale (menschengemache) Gefährdungen (3. und 4. Quadrant in Tabelle 2) komplett anderen Mustern folgen als bspw. Naturgefahren - und dementsprechend auch andere Maßnahmen zur Steigerung der Resilienz nötig sind - kann argumentiert werden, hier unterschiedliche Resilienzdefinitionen zu benutzen. •• Auf anderen Gebieten erscheint eine zu starke definitorische Verengung nicht zielführend. So kann eine Resilienzbetrachtung im Eisenbahnwesen verschiedene Untersuchungsziele haben, z. B. die Analyse sozialer oder ökonomischer Auswirkungen eines externen Einflusses, die wiederum mit verschiedenen Parametern (Reisezeiten, Kapazität usw.) gemessen werden können. Basierend auf die vorangegangenen Überlegungen zur Resilienz im Eisenbahnwesen lassen sich die Beispiele 1 bis 6 in Tabelle 1 dahingehend einordnen, ob sie überhaupt für die (Teil-)Resilienz des Bahnsystems stehen. Die Ergebnisse dieses Reviews können Spalte D ebenda entnommen werden. Internationales Verkehrswesen (73) 3 | 2021 23 Wissenschaft INFRASTRUKTUR Fazit Beim Resilienzkonzept geht es um den holistischen Versuch, Systeme dergestalt zu entwerfen und zu betreiben, dass der Einfluss von Störungen minimiert wird. Die Resilienz als Zielbild hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen, weil die Erfahrung zunehmend zeigt, dass ein vollständiger Schutz bzw. eine absolute Sicherheit vor Gefährdungen und Beeinträchtigungen von Systemen nicht möglich ist. Eine hohe Resilienz als Systemeigenschaft ist daher besonders für kritische Infrastrukturen wie die Eisenbahn notwendig. Um in Zukunft die Diskussion zum Thema Resilienz zu vereinfachen, wurden in diesem Beitrag die eingeführte Resilienzdefinition von Hollnagel zur weiteren Verwendung vorgeschlagen und zudem Möglichkeiten aufgezeigt, sie bedarfsweise um wesentliche Aspekte des Eisenbahnwesens zu erweitern. 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