Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2021-0050
91
2021
733
Corona und die Auswirkungen auf die Logistik
91
2021
Julian Reiser
Christian Kellner
Die Ausbreitung des Sars-CoV-2-Virus hat sich im Jahr 2020 zu einer weltweiten Pandemie entwickelt und beeinflusst seitdem alle Lebensbereiche. Im Zuge der Pandemie übernahm die Logistik eine entscheidende Rolle, da durch Grenzschließungen, Hygienemaßnahmen und Produktionsstillstände in vielen Industrien die normalen Abläufe gestört wurden. Unternehmen waren gezwungen, kurzfristig auf das Infektionsgeschehen zu reagieren, was unter anderem die Erweiterung von Lagerkapazitäten und kontaktlose innerbetriebliche Prozesse mittels Digitalisierung zur Folge hatte. Der Artikel beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie in der Logistikbranche, kurzfristigen Gegenmaßnahmen und einer möglichen langfristigen Entwicklung der Branche.
iv7330031
Internationales Verkehrswesen (73) 3 | 2021 31 Corona und die Auswirkungen auf die Logistik Eine Branche im Ausnahmezustand Corona, Logistik, Warenverkehr, Hamsterkäufe Die Ausbreitung des Sars-CoV-2-Virus hat sich im Jahr 2020 zu einer weltweiten Pandemie entwickelt und beeinflusst seitdem alle Lebensbereiche. Im Zuge der Pandemie übernahm die Logistik eine entscheidende Rolle, da durch Grenzschließungen, Hygienemaßnahmen und Produktionsstillstände in vielen Industrien die normalen Abläufe gestört wurden. Unternehmen waren gezwungen, kurzfristig auf das Infektionsgeschehen zu reagieren, was unter anderem die Erweiterung von Lagerkapazitäten und kontaktlose innerbetriebliche Prozesse mittels Digitalisierung zur Folge hatte. Der Artikel beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie in der Logistikbranche, kurzfristigen Gegenmaßnahmen und einer möglichen langfristigen Entwicklung der Branche. Julian Reiser, Christian Kellner D ie Corona-Pandemie hat sich zu Beginn des Jahres 2020 zu einer weltweiten Krise entwickelt und hat seitdem das private und wirtschaftliche Leben fest im Griff. Sonst eher selten im Rampenlicht, wurde insbesondere die Logistik im Zuge der Corona- Pandemie immer wieder zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen. Die Krise zeigte, wie wichtig der reibungslose Ablauf von Logistik- und Transportprozessen für unseren Alltag ist. Die Autoren haben sich im Zuge dieses Artikels zu den Auswirkungen der Corona- Krise auf die Logistik mit zwei Fragestellungen beschäftigt: •• Welche kurzfristigen Maßnahmen wurden getroffen, um die negativen Auswirkungen zu minimieren? •• Welche Veränderungen wird es in der Logistikbranche langfristig geben, um in zukünftigen Krisen besser reagieren zu können? Der Aufbau der Arbeit folgt dem Verlauf der Pandemie und geht noch einen Schritt zurück. Zu Beginn wird die Ausgangssituation in der Logistikbranche anhand der wichtigsten Eigenschaften beschrieben. Anschließend werden der Verlauf der Corona-Krise mithilfe eines Zeitstrahls aufgezeigt und die aus logistischer Sicht kritischen Auswirkungen dargelegt. Der Hauptteil ist in zwei Bereiche gegliedert: die kurzfristigen Maßnahmen und die langfristige Entwicklung der Branche. Bei den kurzfristigen Maßnahmen werden politische Maßnahmen und Best-Practices aus der Industrie aufgeführt. Die langfristige Entwicklung der Branche wird anhand von möglichen Veränderungen durch die Corona-Pandemie aufgezeigt. Die Arbeit be- Foto: C. Koch / pixabay Strategie LOGISTIK Internationales Verkehrswesen (73) 3 | 2021 32 LOGISTIK Strategie zieht sich auf den Straßenverkehr in Deutschland bzw. der Europäischen Union. Die logistischen Prozesse zur Verteilung des Corona-Impfstoffs werden aufgrund der Komplexität der Thematik bewusst nicht behandelt. Die Logistikbranche - Status quo Die wichtigsten Einflussfaktoren, die Logistikunternehmen unter ständigen Veränderungsdruck setzen, sind Personalmangel, Kostendruck, Nachhaltigkeitsanforderungen, Nachfrageschwankungen und Lean- Konzepte (Bild 1). Die seit Jahren zunehmende Globalisierung der Märkte trägt dazu bei, dass diese Faktoren verstärkt und gleichzeitig der Wettbewerbsdruck erhöht wird [1]. In der Logistik fehlt es in vielen zentralen Positionen an Fachkräften, wie beispielsweise Berufskraftfahrern und Mitarbeitern in der zentralen Verkehrssteuerung oder in der Intralogistik [2]. Schon 2011 sagte der BVL-Vorsitzende Prof. Raimund Klinkner, der Fachkräftemangel sei in der Logistik angekommen. Damals gaben 75 % der 129 befragten Mitgliedsunternehmen an, offene Stellen nicht adäquat besetzen zu können [3]. Nach wie vor gibt es bezüglich Qualifikationen und Anzahl der verfügbaren Mitarbeiter Probleme in der Logistikbranche [4]. „Als Vorreiter in Umwelttechnologien soll Deutschland auch in Verkehr und Logistik eine Führungsrolle übernehmen“ heißt es in einem Thesenpapier, welches die Bundesvereinigung Logistik (BVL) Anfang 2014 der Bundesregierung vorgelegt hat [5]. Auch das Verantwortungsbewusstsein in der Gesellschaft bezogen auf die Umwelt wächst stetig. Daher ist es wichtig, diesen Umschwung in der Logistik zu etablieren. Allerdings wird dieser Nachhaltigkeitswandel die Logistikbranche, aufgrund des wachsenden Verkehrs und der steigenden Nachfrage nach individuellen Produkten, vor neue Herausforderungen stellen. Ein nachhaltiges Wirtschaften ist nur dann möglich, wenn Lieferanten, Geschäftspartner, Mitarbeiter und Kunden konsequent in die gesamten Supply-Chain eingebunden werden [6]. Aufgrund der aktuellen Wichtigkeit des Nachhaltigkeitsgedankens ist es unerlässlich, diesen an dieser Stelle zu erwähnen. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird die Nachhaltigkeit jedoch nicht mehr thematisiert, da die Thematik im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie lediglich eine untergeordnete Bedeutung hat. Der kontinuierlich ansteigende Preis- und Kostendruck, der hauptsächlich durch die Globalisierung entsteht, stellt viele Unternehmen vor Probleme. Vor allem kleinere Logistikunternehmen sind durch den harten Wettbewerb nahezu voll ausgelastet und haben kaum Ressourcen für neue Innovationen [7]. Es ist zu beobachten, dass ständige Nachfrageschwankungen des Verbrauchers die gesamte Lieferkette vor Schwierigkeiten stellt. In der Literatur wird in Bezug auf die Oszillation der Nachfrage, welche die Endkunden mit zunehmendem Abstand eher verstärken, häufig der Begriff Bullwhip-Effekt angewandt. Die Folgen dieses Effektes können Produktionsschwankungen, fehlende oder überflüssige Produktionskapazitäten, erhöhter Lager- oder Sicherheitsbestand und zusätzlicher Transportaufwand sein. Um diese auftretenden Schwankungen bestmöglich in den Griff zu bekommen, ist es essenziell, dass alle Abläufe in der Supply-Chain transparent, nachvollziehbar und steuerbar sind [8]. Das Lean Management, die Planung von effizienten Unternehmensabläufen, ist im Laufe der Jahre immer weiterentwickelt worden. Vielen Arbeitgebern ist es gelungen, die Effizienz und Wirtschaftlichkeit mithilfe verschiedener Lean-Konzepte zu steigern, in der Regel mit dem Ziel, Kosten so gut es geht zu reduzieren. Dadurch wird die Arbeitsintensivität und zugleich die Belastung für Arbeitnehmer erhöht. Zusätzlich trägt die Entwicklung solcher „schlanker“ Unternehmen dazu bei, dass verschiedene Tätigkeits- oder gar gesamte Geschäftsbereiche in andere Länder ausgegliedert werden. Dabei wird die Produktion durchgängig nach dem Prinzip Just-in-time organisiert, d. h. die Nachfrage bestimmt die Produktion, um dadurch die Lagerkosten niedrig halten zu können [9]. Vorteile solcher Just-in-time-Anlieferungen können kürzere Durchlaufzeiten, geringerer Platzbedarf, eine geringere Anzahl von Lieferanten oder eine flexiblere Produktion sein. Demgegenüber stehen die Nachteile, die beispielsweise Erhöhung der Transportkosten, Abhängigkeit der Lieferanten oder Verlagerung der Bestände auf vorgeschaltete Wertschöpfungsebenen sein können [10]. Corona-Auswirkungen In Bild 2 werden ein grober Verlauf der Corona-Pandemie und verschiedene politische Maßnahmen, die Auswirkungen auf die Logistik hatten, dargestellt. Wie in vielen weiteren Branchen, kam es auch in der Logistik vermehrt zu Schwierigkeiten aufgrund der vielen Auswirkungen, welche die Corona-Krise hervorgerufen hat. Nach Eintritt der Pandemie hat das EHI Retail Institute (Bildungsinstitut) am 30.04.2020 die Auswirkungen auf die Logistik in Form einer Blitzumfrage untersucht. In dieser wurden Handelsunternehmen zu den Bereichen Beschaffungslogistik, Intralogistik und Warendistribution befragt. In der Beschaffungslogistik gaben 88 % an von zeitlich verzögerten Anlieferungen, 57 % von reduzierten Anliefermengen und 44 % von kompletten Lieferausfällen betroffen gewesen zu sein. Über 70 % meldeten veränderte Bestellmengen aus den Filialen, 57 % Verschiebungen der Kundennachfrage vom stationären zum Online-Vertrieb und Bild 1: Auswirkungen von Corona in der Logistik Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (73) 3 | 2021 33 Strategie LOGISTIK 47 % veränderter Bedarf an Lagerkapazitäten in der Intralogistik. Zudem bestätigten 50 % Auswirkungen auf die Auslastungen vorhandener Transportkapazitäten, 41 % Behinderung im grenzüberschreitenden Verkehr und 25 % Bedarf an zusätzlichen Transportkapazitäten und Fahrern in der Warendistribution. Auf Basis dieser Zahlen wird deutlich, in welchem Ausmaß Unternehmen in Handel und Logistik mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie zu kämpfen hatten [11]. Nachdem das Corona-Virus auch in Europa angekommen war, wurden verschiedene Maßnahmen der Bundesregierung zur Bekämpfung gegen den Virus eingeführt, welche sich auf die Arbeitssituation in den einzelnen Unternehmen auswirkten. Es wurden nicht nur die gemeingültigen Hygieneregeln (Abstand, Maske und Händewaschen), sondern Erweiterungen wie Vermeidung von überlappenden Schichten, Entladung der Fahrzeuge nur durch eigene Mitarbeiter, Einführung des Home-Office, keine Nutzung von Aufenthaltsräumen oder Arbeitsgruppentrennung eingeführt [12]. Darüber hinaus stellten die ständigen Regeländerungen der jeweiligen EU-Länder, sei es bei der Quarantäne- oder Testpflicht, die Unternehmen vor große Herausforderung. Je nach Infektionslage und Inzidenzwert wurden Änderungen vorgenommen. Aufgrund der stetig steigenden Mutationsfälle wurde bei Einreise aus Hochinzidenzgebieten, von mehr als 24 Stunden eine Anmeldepflicht und bei mehr als 72 Stunden eine Testpflicht eingeführt [13]. Für Berufskraftfahrer erschwerte sich aufgrund der Kontaktverbote und Ausgangssperre die Arbeitssituation. Viele Raststätten begrenzten ihre Öffnungszeiten, Toiletten waren geschlossen und Duschen wurden gesperrt [14]. In nahezu allen europäischen Ländern hat der Shutdown dazu geführt, dass Lieferketten instabil wurden und Produktionswerke aufgrund der Engpässe stillstanden [15]. Beispielsweise stand ein Produktionsband im Bremer Mercedes-Werk erstmals seit Jahrzehnten wochenlang still [16]. Es ist üblich, unter anderem auch in der Automobilbranche, dass viele Teile aus verschiedenen Ländern Just-in-time oder Just-in-sequence direkt ans Band geliefert werden. Durch die Test- und Anmeldepflichten ist es vermehrt zu längeren Wartezeiten an den Grenzen gekommen. Die eben genannten Faktoren, Wartezeiten an den Grenzen und schlanke Just-in-time-Anlieferungen, können dazu führen, dass die Produktion aufgrund von Materialengpässen eingestellt werden muss [17]. Zu Beginn der Corona-Pandemie kam es vermehrt zu Hamsterkäufen, bei denen Personen große Mengen von Waren des täglichen Bedarfs kauften [18]. Diese Zusatznachfrage brachte etablierte Abläufe in der Versorgung durcheinander und war dafür verantwortlich, dass das Transportaufkommen zu Beginn der Pandemie im Lebensmittelbereich um 20 % erhöht werden musste [19]. Des Weiteren hat sich das Kaufverhalten der Konsumenten seit Beginn der Corona-Pandemie verändert. Verbraucher führten zwar seltener Lebensmitteleinkäufe durch, dafür erhöhte sich die Menge an Produkten, die eingekauft wurde. Diese kleinen, aber entscheidenden Veränderungen des Kaufverhaltens wirkten sich auf die gesamte Lieferkette aus. Wie im oberen Abschnitt beschrieben, wird diese negative- Auswirkung auch Bullwhip-Effekt genannt [20]. Der stationäre Handel ist abhängig von politischen Entscheidungen und somit gezwungen, je nach Inzidenzwert zu reagieren. Dadurch ist die Zahl der Bestellungen im Online-Handel um mehr als 25 % gestiegen [21]. In einer Studie des Händlerbundes im Oktober 2020 wurden Unternehmen unter anderem zum Thema Retouren in der Corona-Krise befragt. Dabei gaben über die Hälfte an, dass sie aufgrund von Retouren im Online-Handel ein Minusgeschäft verzeichnen. Insgesamt zwei Drittel der Unternehmen bestätigten einen Anstieg von beschädigten Retouren [22]. In einer weiteren Studie der Universität Bamberg hat sich ergeben, dass zwar die Bestellungen im Online-Handel angestiegen sind, aber dennoch die Retourenquote um 1,9 % gegenüber dem Vorjahr gesunken ist. Das liege unter anderem daran, dass gerade ältere Kunden, die gewöhnlich vor Ort einkaufen, sich vorab besser informiert hätten [21]. Kurzfristige Maßnahmen - Reaktion auf die neue Realität Um den beschriebenen Auswirkungen der Corona-Pandemie zu begegnen, mussten Industrie und Politik kurzfristig Maßnahmen ergreifen. Eine Auswahl an Maßnahmen, die zur Bewältigung von Problemen im Zuge der Corona-Pandemie angewandt wurden, wird im Folgenden beschrieben. Die Hauptläufe von interkontinentalen Lieferketten, beispielsweise zwischen Asien und dem Rest der Welt, werden aus Kostengründen per Schiff abgewickelt. Ein Schiffstransport von China nach Deutschland dauert jedoch mehrere Wochen und sorgt für eine entsprechend höhere Bevorratung als ein wenige Stunden dauernder Flugzeugtransport. Im Fall von Lieferschwierigkeiten kommt es zeitversetzt beim Abnehmer zu einem Stock-out 1 , was kurzfristig über Flugzeugtransporte kompensiert werden kann [23]. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass dadurch erhebliche Mehrkosten entstehen, die es zu vermeiden gilt. Logistikdienstleister, wie die Elsen Holding GmbH mit Unternehmenssitz in Wittich, waren sich dieser Problematik bewusst und haben frühzeitig optimierte Leistungsangebote erstellt. Laut der Elsen Holding GmbH liegt die Lösung in der Erhöhung der Sicherheitsbestände, um die aktuelle und zukünftige ähnliche Krisen schadlos zu überstehen [23]. Aus diesem Grund wurden die bestehenden Lagerkapazitäten erweitert und bei Bedarf noch zusätzliche Flächen angemietet. Um die Sicherheitsbestände adäquat zu wählen, wurden What-if-Analysen 2 durchgeführt. Hierbei ging es um den Vergleich von unterschiedlichen Verkehrsträgern und Sicherheitsbeständen, zur Generierung der wirtschaftlich sinnvollsten Lösung. Bild 2: Zeitlicher Verlauf der Corona-Pandemie Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (73) 3 | 2021 34 LOGISTIK Strategie Neben der Problematik der abreißenden Lieferketten mussten sich Unternehmen auch auf die neuen Arbeitsbedingungen einstellen. Effektive Lösungen zur Reduktion von Mitarbeiterkontakten und zur Flexibilisierung der Produktion waren erforderlich, um auf täglich neue Bedingungen reagieren zu können. Die Robert Bosch GmbH nutzte die Situation, um das ohnehin wichtige Thema Digitalisierung voranzutreiben. Ein Schwerpunkt war dabei die Reduktion der Kontakte aufgrund der Infektionsschutzverordnung. Zu den kritischen Bereichen gehörten hier die innerbetriebliche Materialversorgung und die zugehörigen Routenzüge [24]. Die Mitarbeiter der Materialversorgung begegnen auf den Routen vielen anderen Mitarbeitern und könnten so im Falle einer Erkrankung zu einer Ausbreitung des Virus beitragen. Zur Minimierung dieser Problematik wurden bei der Robert Bosch GmbH zwei Lösungsansätze verfolgt [24]. Zum einen sorgten fahrerlose Transportsysteme für eine „maximale Minimierung“ der Kontakte bei der innerbetrieblichen Materialversorgung. Andererseits war eine intelligente Transport Management-Software im Einsatz, die Leerfahrten und somit unnötige Kontakte auf ein Minimum reduzierte. Neben der Reduktion der Kontakte war die Software auch mit dafür verantwortlich, dass am Standort Feuerbach die Schutzmasken für die eigene Belegschaft effizient produziert werden konnten. Der hohe Grad an Flexibilität der Software ermöglichte es, neue Produktionslinien einfach in die bestehenden Logistikprozesse einzuplanen und schnell auf die tagesaktuelle Personal- und Bedarfssituation zu reagieren. Auf politischer Ebene wurde in den ersten Wochen nach Ausbruch der Pandemie in Deutschland am 25.03.2020 der Gütertransport-Pakt beschlossen, der einer Zusammenarbeit des Bundesverkehrsministeriums mit fünf Logistikverbänden entsprang und die Aufrechterhaltung von Lieferketten unter den erschwerten Bedingungen erleichtern sollte [25]. Der Schwerpunkt lag darin, die Bedingungen im Straßengüterverkehr an die neue Situation anzupassen und sowohl den Fahrern angemessene Arbeitsbedingungen zu bieten als auch eine effizientere Abwicklung der Transportvorgänge zu gewährleisten. Zu den beschlossenen Maßnahmen gehörten unter anderem [25]: •• Aufhebung von Sonn- und Feiertagsfahrverboten •• Lockerung von Lenk- und Ruhezeiten für kritische Waren (Treibstoff, medizinische Produkte usw.) •• Aufrechterhaltung der Verpflegung an Rast- und Autohöfen •• Verbesserung der hygienischen Bedingungen •• Verschiebung der Hauptuntersuchung bei abgelaufenem TÜV um einige Monate Als Folge der Corona-Krise ist es sehr wahrscheinlich, dass sich langfristig die Struktur von (interkontinentalen) Lieferketten verändern wird und beispielsweise mehrere Lieferanten dem Single Sourcing vorgezogen werden. Auch kurzfristig mussten sich Unternehmen im Zuge der Corona- Krise mit ihrer Lieferantenstruktur beschäftigen. Die kritischen Elemente der Supply-Chain mussten identifiziert und bei Bedarf Beschaffungsalternativen gefunden werden. Um Lieferstrukturen langfristig zu sichern, mussten kritische Lieferanten unterstützt und auf künftige Änderungen vorbereitet werden [26]. Langfristige Entwicklung - wie verändert Corona die Lieferketten? Gesundheitsexperten haben bereits lange vor der Corona-Pandemie vor einem derartigen Ereignis gewarnt, dennoch wurde die Weltbevölkerung von der Corona-Pandemie schwer und unerwartet getroffen. Die kurzfristigen Maßnahmen waren notwendig, um die Auswirkungen auf logistische Prozesse zu minimieren. Entscheidend wird nun aber sein, welche Lehren aus der Krise gezogen und welche Vorbereitungsmaßnahmen für ähnliche Ereignisse in der Zukunft getroffen werden. Noch vor Bewältigung der Pandemie wird diese Thematik mit unterschiedlichen Schwerpunkten diskutiert. Im Zuge der Globalisierung wurde die Produktion von vielen Gütern in Billiglohnländer, insbesondere in Asien verlegt. Die Pandemie, mit den einhergehenden abreißenden Lieferketten von China in den Rest der Welt, hat gezeigt, dass die Produktion von Gütern in einem aus deutscher Sicht weit entfernten Produktionsstandort erhebliche Risiken mit sich bringt. Als Folge wird nun diskutiert, ob es sinnvoll ist, die Globalisierung teilweise umzukehren und zumindest die Produktion von bspw. medizinischen Produkten wieder nach Deutschland bzw. Europa zurückzuholen. Als import- und exportstarke Nation besitzt Deutschland einen hohen Offenheitsgrad [27] und hat in unterschiedlicher Form eine Verbindung zu unzähligen internationalen Lieferketten. Dies führt zur weltweiten Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen und zum aktuellen Wohlstandsniveau des Landes. Experten sind der Meinung, dass die Reallokation von Produktionsfaktoren zurück in die EU einen Wohlfahrtsverlust zur Folge hätte. Zudem würden die Einkommen und der Lebensstandard in den involvierten Ländern sinken [28]. Das alles müsste in Kauf genommen werden, wenn zugunsten der Sicherheit in zukünftigen Krisen wieder flächendeckend auf nationale Produktionsstandorte gesetzt werden würde. Es erscheint unter diesen Umständen aktuell sinnvoll, einen Mittelweg anzustreben. Bei kritischen Gütern, wie beispielsweise medizinischen Produkten, ist es sinnvoll, die Abhängigkeit von weltweiten Produktionsstandorten zu reduzieren und national zu produzieren [20]. In vielen Branchen und Industrien ist die outgesourcte Produktion notwendig, um die aktuell erreichte Wirtschaftlichkeit aufrechtzuerhalten. Hier ist es zwingend erforderlich, dass beispielsweise Diversifizierung und bessere Logistikstrategien dazu führen, dass die Lieferketten stabiler und resilienter in Krisensituationen werden. Die noch engere Zusammenarbeit mit den Lieferanten und die Analyse der Lieferketten über Tier-1 und Tier-2 hinweg, werden für Supply- Chain Manager unerlässlich sein [20]. Ein Beispiel für eine veränderte Logistikstrategie könnte sein, dass kleinere, aber dafür mehr Läger in unmittelbarer Nähe zum Kunden eingesetzt werden [20]. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass dies mehr Robustheit mit sich bringt und auch in zukünftigen Krisen von Vorteil sein wird. Die Erhöhung der Robustheit von Lieferketten wird zwangsläufig dazu führen, dass Trends der letzten Jahre hinterfragt werden. Insbesondere in der Automobilbranche hat sich beispielsweise die Justin-time-Anlieferung im großen Stil durchgesetzt, und Teile werden trotz Transportstrecken über mehrere Grenzen hinweg erst zum Bedarfszeitpunkt angeliefert. Diese Art der Anlieferung ist mit hohen Risiken verbunden und trägt keinesfalls zur Robustheit einer Lieferkette bei. Es ist aus diesem Grund denkbar, dass zumindest eine teilweise Abkehr der Just-in-time-Anlieferung vollzogen wird [26, 20]. Wie bereits beschrieben nutzten manche Unternehmen die Pandemie, um Digitalisierungs- und Technologiethemen voranzutreiben. Auch hier bieten sich langfristig hohe Potenziale, beispielsweise im Einsatz von 3D-Druckern [28]. Der 3D-Druck sorgt für den Wegfall von Transportvorgängen [29] und kann so in einer Pandemie dabei helfen Kontakte zu reduzieren und die Versorgung mit kritischen Bauteilen, wie z. B. Ersatzteilen zu gewährleisten. Die Unternehmen sind zum Handeln gezwungen, sollten dabei aber langfristig auch von der Politik auf nationaler und europäischer Ebene unterstützt werden. Den ersten Schritt ist Deutschland im Rahmen der EU- Internationales Verkehrswesen (73) 3 | 2021 35 Strategie LOGISTIK Ratspräsidentschaft bereits gegangen und hat am 28.09.2020 einen Entwurf für einen europäischen Pandemie- und Krisen-Notfallplan im Güterverkehr vorgelegt. Unklare und uneinheitliche Regelungen, die sich dazu teilweise noch auf täglicher Basis geändert haben, sorgten im Zuge der Corona- Pandemie für Schwierigkeiten beim grenzüberschreitenden Güter- und Warenverkehr. Ein Pandemie- und Krisen-Notfallplan soll gleichartige Probleme in zukünftigen Krisen verhindern und einheitliche, sowie klare Standards und Notfallmechanismen vorgeben. Der deutsche Entwurf nennt folgende Handlungsfelder [30]: •• Aufrechterhaltung des Güter- und Warenverkehrs durch Festlegung von Grundversorgungsnetzen •• Stärkung der Eigenverantwortung der Verkehrsministerien, einheitliche Regelungen zu Gesundheitstests und Ausnahmen von Quarantänevorgaben •• Ausnahmevorschriften zugunsten aller Verkehrsträger und sichere Versorgung mit betriebsnotwendigen Gütern und Dienstleistungen Ähnlich wie beim Gütertransport-Pakt, bei den kurzfristigen Maßnahmen, ist das übergeordnete Ziel die Aufrechterhaltung der Transportvorgänge von kritischen Gütern und der gleichzeitig größtmögliche Schutz für alle beteiligten Personen. Zudem soll der Verkehrssektor mehr Befugnisse erhalten, um in Krisen schneller und flexibler Entscheidungen zu treffen. ■ Die Autoren bedanken sich an dieser Stelle bei Herrn Prof. Dr.- Ing. Dieter Uckelmann und Frau Anke Pfeiffer von der Hochschule für Technik Stuttgart, die die Erstellung dieses Artikels unterstützend begleitet haben. 1 Stock-Out: Vollständige Erschöpfung von Beständen bspw. in einem Vorratslager für Fertigungsmaterialien 2 What-if-Analyse: Analyse der Auswirkungen von mehreren möglichen Zukunftsszenarien QUELLEN [1] Voß, P. H. (Hrsg.) (2020): Logistik - die unterschätzte Zukunftsindustrie: Strategien und Lösungen entlang der Supply Chain 4.0, 2. Aufl. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden [2] Endemann, M. (2021): Logistik in der Krise., ÖKZ, Jg. 62, Nr. 1, S. 18- 19, doi: 10.1007/ s43830-021-0005-y [3] Deutsches Verkehrsforum (2021): DVF Diskussionsveranstaltung | Strategien nach Corona: Wieviel Resilienz braucht die Logistik? www.youtube.com/ watch? v=byLpwXkPo0U (Abruf: 25. Mai 2021) [4] Pieringer, M.: Logistikmarkt: Personalmangel ist große Herausforderung. https: / / logistik-heute.de/ news/ logistikmarkt-personalmangel-ist-grosse-herausforderung-14853.html (Abruf: 29. Mai 2021) [5] Bundesvereinigung Logistik (Hrsg.) (2014): Logistik verbindet nachhaltig: Impulse | ideen | Innovationen. www.bvl.de/ misc/ filePush. php? id=22880&name=BVL14+Thesenpapier+Januar+2014.pdf. (Abruf: 26. Juni 2021) [6] Deckert, C. (2016): CSR und Logistik: Spannungsfelder Green Logistics und City-Logistik, 1. Aufl., Berlin Heidelberg: Springer; Imprint: Springer Gabler [7] Continental AG: Konkurrenz, Kostendruck, klamme Kassen: Schwierige Rahmenbedingungen für die Logistikbranche. www. continental.com/ de/ presse/ pressemitteilungen/ konkurrenz--kostendruck--klamme-kassen--schwierige-rahmenbedingungen-fuer-die-logistikbranche-12674 (Abruf: 21. Mai 2021) [8] Beer, A. (2014): Der Bullwhip-Effekt in einem komplexen Produktionsnetzwerk: Entwicklung eines realitätsadäquaten Simulationsmodells in Anlehnung an eine Realbeispiel und Quantifizierung der Wirksamkeit von Maßnahmen gegen den Bullwhip-Effekt. Zugl.: Duisburg-Essen, Univ., Diss., 2014. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH [9] Raehlmann, I. (2020): Corona! Die Krise der Verschlankung und ihre Folgen. (ger), Zeitschrift für Arbeitswissenschaft, S. 216-221, doi: 10.1007/ s41449-020-00216-9 [10] Klaus, P.; Krieger, W. (2009): GABLER LEXIKON LOGISTIK: Management logistischer Netzwerke und Flüsse, 4. Aufl., Wiesbaden: Gabler Verlag / Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, Wiesbaden [11] Kempcke, T.Lieferausfälle und Personalmangel: Auswirkungen der Corona-Pandmie auf die Handelslogistik. [Online]. Verfügbar unter: www.ehi.org/ de/ lieferausfaelle-und-personalmangel/ (Abruf: 21. Mai 2021) [12] Zock, L.: Hygienemaßnahmen für Verkehrswesen, Logistik & Industrie. www.igefa.de/ wissenscenter/ blog/ hygienemassnahmen-fuerverkehrswesen-logistik-industrie#paragraph-6001 (Abruf: 21. Mai 2021) [13] IHK Rhein-Neckar, Corona: Hinweise für Verkehrsunternehmen. www.rhein-neckar.ihk24.de/ produktmarken/ corona-ausland-inland/ hinweise-verkehrsunternehmen-corona-4737894 (Abruf: 21. Mai 2021) [14] Lother, S.: Coronavirus: Kontaktverbot bringt Lkw-Fahrer ans Limit. www.fnp.de/ deutschland/ corona-sars-cov-2-kontaktverbot-ausg a n g s s p e r re -k u r i o s -t a n k s te ll e n -a u f-ra s t s t a ette n n i c htzr-13609360.html (Abruf: 29. Mai 2021) [15] Münchener Zeitungs-Verlag GmbH & Co. KG: Lockdown in Europa: So lange gelten die Corona-Regelungen noch in Deutschlands Nachbarländern: Übersicht über aktuelle Maßnahmen. www.merkur.de/ politik/ coronavirus-europa-ausgangssperre-eu-ausgangsbeschraenkungen-lockdown-kontaktverbot-exit-frankreich-spanien-italien-oesterreich-13632383.html (Abruf: 21. Mai 2021) [16] Peters, T. (2021): Licht am Ende des Tunnels: Anlass für Hoffnung auf wirtschaftliche Erholung nach Corona - Pandemieverlauf entscheidend. www.arbeitnehmerkammer.de/ fileadmin/ user_upload/ Downloads/ Jaehrliche_Publikationen/ Bericht_zur_Lage_2021.pdf. (Abruf: 29. Mai 2021) [17] Verband der Automobilindustrie e. V.: VDA und BGL warnen vor Abriss der Lieferkette und Produktionsstopps in deutschen Automobilwerken. www.vda.de/ de/ presse/ Pressemeldungen/ 210212-VDAund-BGL-warnen-vor-Abriss-der-Lieferkette-und-Produktionsstopps-in-deutschen-Automobilwerken.html (Abruf: 29. Mai 2021) [18] Bibliographisches Institut GmbH: „Hamsterkauf, der“. www.duden. de/ rechtschreibung/ Hamsterkauf (Abruf: 29. Mai 2021) [19] Puls, T. (2020): Den Corona-Stress in der Logistik senken. Institut der deutschen Wirtschaft (IW), IW-Kurzbericht No. 41/ 2020. www.econstor.eu/ bitstream/ 10419/ 215875/ 1/ IW-Kurzbericht-2020-41.pdf. (Abruf: 21. Mai 2021) [20] Wilding, R.; Dohrmann, K.; , Wheatley, M. (2020): Post-Coronavirus Supply Chain Recovery: The Journey towards the new Normal. A-DHL perspective on the impact of the COVID-19 [21] B+S GmbH Logistik und Dienstleistungen: Wie beeinflusst Covid-19 das Retourenverhalten? : Studienergebnisse. https: / / b-slogistik.de/ wie-beeinflusst-covid-19-das-retourenverhalten/ (Abruf: 29. Mai 2021) [22] Händlerbund (Hrsg.) (2020): Logistik-Studie: Corona | Retouren | Versand | Verpackungen. www.haendlerbund.de/ de/ downloads/ logistik-studie-2020.pdf. (Abruf: 29. Mai 2021) [23] Klein, T.: Corona-Krise: Risk Mitigation aus Supply Chain Sicht. www. elsen-logistics.com/ de/ leistungen/ logistics-operations/ whitepaper-corona.html. (Abruf: 29. Mai 2021) [24] Hamann, S. (2020): Digitalisierung in Corona-Zeiten: Wie sich Fertigung und Logistik aufrechterhalten und sogar optimieren lassen [25] Mediengruppe Telematik-Markt.de, Corona: Bundesverkehrsminister Scheuer stellt Gütertransport-Pakt vor, erwartet Digitalisierungsschub. https: / / telematik-markt.de/ telematik/ corona-bundesverkehrsminister-scheuer-stellt-g %C3 %BCtertransport-pakt-vor-erwartet#.YLI4fYVxfIV (Abruf: 29. Mai 2021). [26] von der Decken, T. (2020): COVID-19: Procurement Best Practices, um dem Sturm zu trotzen. www.efficioconsulting.com/ de/ publikationen/ whitepaper/ covid-19-procurement-best-practices. (Abruf: 29. Mai 2021) [27] Kolev , G. V.; Obst, T. (2020): Die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von internationalen Lieferketten. Insitut der deutschen Wirtschaft (IW), Köln, IW-Report 16/ 2020. www.econstor.eu/ bitstre am/ 10419/ 216214/ 1/ 1696031850.pdf. (Abruf: 31. Mai 2020) [28] Felbermayr, G.; Sandkamp, A.; Mahlkow, H.; Gans, S. (2020): Lieferketten in der Zeit nach Corona: Kurzgutachten im Auftrag der Impuls-Stiftung.www.ifw-kiel.de/ fileadmin/ Dateiverwaltung/ IfW-Publications/ -ifw/ Policy_Papers/ 2021/ Lieferketten_in_der_ Zeit_nach_Corona_Endbericht.pdf. (Abruf: 31. Mai 2021) [29] Petschow, U.; Ferdinand, J. P.; Dickel, S.; Flämig, H.; Steinfeldt, M.; Worobei, A. (2014): Dezentrale Produktion, 3D-Druck und Nachhaltigkeit: Trajektorien und Potenziale innovativer Wertschöpfungsmuster zwischen Maker-Bewegung und Industrie 4.0. Berlin, Schriftreihe des IÖW 206/ 14, 2014 [30] Bundesministerium für Verkehr und Infrastruktur (Hrsg.) (2020): Eckpunkte für einen europäischen Pandemie-und Krisen-Notfallplan im Güterverkehr. www.bmvi.de/ SharedDocs/ DE/ Anlage/ K/ eckpunkte-pandemie-und-krisen-notfallplan-gueterverkehr. pdf? __blob=publicationFile. (Abruf: 30. Mai 2021) Julian Reiser Studiengang Umweltorientierte Logistik, Hochschule für Technik, Stuttgart 02reju1mul@hft-stuttgart.de Christian Kellner Studiengang Umweltorientierte Logistik, Hochschule für Technik, Stuttgart 02kech1mul@hft-stuttgart.de
