Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2021-0059
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Mobilitätsentwicklung im Münsterland
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Sabine Bertleff
Philipp-Armand Klee
Benjamin Lender
Philipp Bickendorf
Stefan Ladwig
Der Wandel gesellschaftlicher Strukturen und des individuellen Mobilitätsverhaltens erfordern ebenso wie Maßnahmen zum Klimaschutz eine Anpassung der mobilen Infrastruktur, um die Nutzung nachhaltiger Verkehrsangebote zu fördern. Die Anbindung von ländlichen Regionen an Stadtzentren ist dabei ein zentraler Ansatz des Bürgerlabors im Münsterland. Dort arbeiten Bürger*innen, Politik und Wissenschaft gemeinsam an der (Weiter-) Entwicklung und Vernetzung bedarfsgerechter Mobilitätslösungen zu einem multimodalen Verkehrssystem, das von der Bevölkerung als attraktiv wahrgenommen und genutzt wird.
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Internationales Verkehrswesen (73) 3 | 2021 76 MOBILITÄT Strategie Mobilitätsentwicklung im Münsterland Bedarfsgerechte Gestaltung der Anbindungen des ländlichen Raums im Bürgerlabor mobiles Münsterland Reallabor, Multimodale Mobilität, Nutzer*innen-zentriert, Vernetzung Der Wandel gesellschaftlicher Strukturen und des individuellen Mobilitätsverhaltens erfordern ebenso wie Maßnahmen zum Klimaschutz eine Anpassung der mobilen Infrastruktur, um die Nutzung nachhaltiger Verkehrsangebote zu fördern. Die Anbindung von ländlichen Regionen an Stadtzentren ist dabei ein zentraler Ansatz des Bürgerlabors im Münsterland. Dort arbeiten Bürger*innen, Politik und Wissenschaft gemeinsam an der (Weiter-) Entwicklung und Vernetzung bedarfsgerechter Mobilitätslösungen zu einem multimodalen Verkehrssystem, das von der Bevölkerung als attraktiv wahrgenommen und genutzt wird. Sabine Bertleff, Philipp-Armand Klee, Benjamin Lender, Philipp Bickendorf, Stefan Ladwig D er aktuelle gesellschaftliche Wandel sorgt für eine Veränderung des Mobilitätsverhaltens und der -bedarfe der Bevölkerung und ändert somit auch die individuellen Ansprüche an ein attraktives, funktionales Verkehrssystem. Diese Veränderungen stellen den Mobilitätssektor vor neue Herausforderungen [1, 2]. Mobilität im Wandel Im Sinne der sozialen Teilhabe und Daseinsvorsorge muss die steigende Anzahl älterer Verkehrsteilnehmer*innen und Veränderungen in Haushalts- und Familienstrukturen ebenso berücksichtigt werden wie die zunehmende Flexibilisierung der Berufswelt [3 bis 5]. Einen weiteren wichtigen Aspekt bildet der fortlaufende Trend der Suburbanisierung oder Stadtflucht [6], der mit einer vermehrten Abwanderung der städtischen Bevölkerung ins Stadtumland oder in ländlichere Regionen einhergeht und dementsprechend das Zurücklegen von mehr bzw. längeren Wegen erforderlich macht [7]. Dem Bedarf nach individueller Mobilität steht das Bestreben gegenüber, Treibhausgasemissionen im Verkehrssektor zu reduzieren [7], um den Klimaschutzzielen der Bundesregierung [8] und den Anforderungen des Grünen Deal der Europäischen Union [9] gerecht zu werden. In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben Verkehrsleistung der Bevölkerung und gleichzeitig motorisierter Individualverkehr (MIV) zugenommen, wobei PKW insbesondere außerhalb der Städte das Verkehrsmittel erster Wahl darstellen [10]. Dies spiegelt sich unter anderem in einer erhöhten Auslastung des Verkehrsnetzes wider. Als umweltverträgliche Alternativen zum MIV - vor allem im ländlichen Raum - werden die Verkehrsmoden E-Mobilität und ÖPNV (Öffentlicher Personennahverkehr) zentral diskutiert [7, 11, 12]. Um neben Klimaschutzzielen auch gesellschaftlichen und individuellen Mobilitätsanforderungen gerecht werden zu können, konzentriert sich eine Vielzahl an Vorhaben auf die Herausforderung, die mobile Infrastruktur entsprechend den Bedarfen der Bevölkerung anzupassen, um die Nutzung alternativer Verkehrsangebote zu fördern [4, 7, 11]. Vor dieser Herausforderung stehen auch die Stadt Münster und die Region Münsterland. Die Beschlussvorlage zum Masterplan „Mobilität Münster 2035+“ [13] weist auf deutliche Kapazitätsengpässe in dem aktuellen Verkehrssystem der Stadt Münster hin. Besonders die Pendler*innen sind in den Morgenspitzenstunden von diesen Engpässen betroffen. Dies erfordert laut Beschlussvorlage der Stadt Münster ein vernetztes System, das den Verkehr möglichst effizient zeitlich und räumlich auf die verschiedenen Verkehrsträger verteilt. Dies soll den Verkehrsfluss fördern und verkehrsbezogene Belastungen wie Lärm und CO 2 -Emissionen reduzieren [13]. Dabei sollen vor allem die Mobilitätsanforderungen und -bedarfe des umliegenden Münsterlandes und seiner Einwohner*innen berücksichtigt werden, um eine gute Anbindung an ländliche Regionen zu gewährleisten und die Nutzung anderer Verkehrsangebote attraktiver zu gestalten. Aktuell scheinen aber gerade im ländlichen Raum des Münsterlandes attraktive Alternativen zum PKW zu fehlen. Beispielsweise hat eine Mobilitätsuntersuchung des Kreises Coesfeld (2016) [14] gezeigt, dass PKW mit einem Anteil von 58 % aller Wege das meistgenutzte Verkehrsmittel an einem durchschnittlichen Werktag im Kreis Coesfeld sind und von mehr als der Hälfte der Befragten täglich genutzt werden. Der ÖPNV mit Bus und Bahn macht hingegen lediglich 6 % des Gesamtwegeaufkommens aus, wobei über 3 % auf den Ausbildungsverkehr von und zur Schule zurückzuführen ist. Nur 9 % der Befragten gaben an, den ÖPNV täglich zu nutzen, während ihn knapp 80 % nur selten oder nie in Anspruch nehmen. Laut Umfrage wird das Bus- und Bahn-Angebot mit der Durchschnittsnote 3,6 bewertet und rangiert damit abseits der übrigen Verkehrssysteme im Kreis Coesfeld mit Durchschnittsnoten zwischen 1,9 und 2,0. Hier werden von den Befragten vor allem allgemein unzureichende ÖPNV-Angebote, fehlende Direktverbindungen, zu kurze Betriebszeiten sowie zu lange Taktintervalle bemängelt [14]. Dies deutet darauf hin, dass das existierende Mobilitätsangebot des ÖPNV den Bedarfen der Fahrgäste nicht gerecht wird und entsprechend angepasst werden sollte, um sowohl Akzeptanz als auch Nutzungsintention zu fördern und so langfristig die Nutzungshäufigkeit zu steigern. Internationales Verkehrswesen (73) 3 | 2021 77 Strategie MOBILITÄT An diesem Punkt setzt das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und vom Ministerium für Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen (VM NRW) geförderte Verbundprojekt Bürgerlabor mobiles Münsterland (BüLaMo) in der Gemeinde Senden im Kreis Coesfeld an. Ziel dieses Verbundprojektes ist es, ein Mobilitätsangebot zu schaffen, dass sich zum einen an den Bedürfnissen der Bürger*innen orientiert, um ihre Daseinsvorsorge und Teilhabe am öffentlichen Leben zu sichern und zum anderen klimafreundlich und verkehrsentlastend wirkt. Entlang der oben beschriebenen Bedarfe ist eine gute Anbindung von ländlichen Regionen an die Stadtzentren von zentraler Bedeutung, um die Nutzung des ÖPNV - insbesondere im Rahmen des Pendlerverkehrs - als sinnvolle und ergänzende Alternative zum mobilen Individualverkehr anbieten zu können. Um dies zu erreichen wird die Entwicklung eines Nutzer*innen-zentrierten und digital vernetzten Verkehrssystems angestrebt, das multimodale Mobilität mithilfe neuer Verkehrsmittel und durch die Verbesserung bestehender Angebote des ÖPNV ermöglicht. Multimodale Mobilität als Lösungsansatz Als Grundlage eines solchen multimodalen Mobilitätssystems sollen folgende Lösungsvorschläge (Bild 1) im Projektverlauf entwickelt werden: •• Mobilstationen als Knotenpunkte des ÖPNV •• ein tragfähiges Expressbussystem •• nahräumige On-Demand-Dienste (ÖPNV auf Abruf ) zur Erschließung der Fläche rund um die Mobilstationen •• eine Mobilitäts-App, die eine verkehrsträgerübergreifende Buchung von multimodalen Wegeketten durch eine Singlesign-on-Lösung, ermöglicht •• eine attraktive Tarifstruktur zur zukünftigen Einbindung multipler Mobilitätsoptionen Die Umsetzung eines solchen multimodalen Mobilitätssystems im ländlichen Raum setzt ein tragfähiges Expressbussystem sowie nahräumigen ÖPNV auf Abruf voraus. Als Verbindungsfunktion dieser Systeme sollen darüber hinaus innovative Mobilstationen entwickelt werden, welche als attraktive Knotenpunkte agieren können. Mobilstationen dienen demnach der Bündelung des Mobilitätsangebotes durch die Integration des ÖPNV und des On-Demand-Verkehrs sowie individueller Transportmittel zur Kurzzeitmiete, wie E-Bikes oder E-Scooter. Zur Erhöhung der Aufenthaltsqualität sollen die Mobilitätsstationen als wetterfeste und trockene Aufenthaltsorte gestaltet werden, welche eine Plattform für Dienstleistungsanbieter bieten. Somit könnten beispielsweise Paketstationen oder Angebote des nahräumigen Agrarunternehmens eingegliedert werden. Über solch ein Serviceangebot soll sichergestellt werden, dass die Umsteigezeiten weniger als teils lästige Notwendigkeit, sondern eher als komfortsteigernd wahrgenommen werden. Einen weiteren grundlegenden Baustein eines multimodalen Mobilitätssystems bildet die digitale Vernetzung der Verkehrssysteme durch eine Mobilitäts-App. Mit dieser Mobilitäts-App soll Nutzer*innen ermöglicht werden, Wege individuell zu planen, indem die unterschiedlichen Mobilitätsoptionen entlang der Wegeketten Nutzer*innen-orientiert bereitgestellt werden. Nutzer*innen-orientiert ist hier ebenfalls im Sinne einer einheitlichen Tarifstruktur zwecks Buchung von diversen Mobilitätsoptionen zu verstehen. Solch ein vernetztes und auf die Nutzer*innen abgestimmtes Mobilitätsangebot soll es beispielsweise erlauben, ausgeliehene E-Bikes abends mit nach Hause zu nehmen und morgens wieder an der Station abzugeben. Die digitale Vernetzung der Verkehrssysteme setzt des Weiteren die Grundlage für die Integration eines nahräumigen ÖPNV auf Abruf zur Erschließung der Fläche rund um die Mobilstationen. Im Rahmen eines multimodalen Mobilitätssystems kann dieser als Zubringersystem zu den Mobilitätsstationen fungieren und durch Schnelligkeit und Flexibilität zu einer Verbesserung der Gesamtreisezeit beitragen. Während die flexiblen Angebote des ÖPNV auf Abruf und individuellen Transportmittel die Erschließung der Fläche ermöglichen, soll ein tragfähiges Expressbussystem über schnelle Achsen die Verbindung zu den Mobilstationen gewährleisten. Voraussetzung ist eine intelligente ÖPNV- Steuerung, welche in Abhängigkeit des Verkehrszustandes den Expressbus individuell beschleunigt. Mit solch einem Expressbussystem soll das Potential gehoben werden, auch schienenferne Regionen zu erschließen und nachhaltige Mobilität im ländlichen Raum zu fördern. Iteratives Vorgehen im Bürgerlabor zur Optimierung des Mobilitätsangebotes Die Umsetzung der zuvor angeführten Ziele von BüLaMo lässt sich in die in Bild 2 dargestellten vier Schritte untergliedern, die durch die Partner des Konsortiums realisiert werden. Den ersten Schritt stellt die Status Quo-Erfassung dar, in der sowohl die aktuelle Verkehrssituation der Bürger*innen als auch der momentane Zustand des Verkehrssystems ermittelt werden. Im zweiten Bild 1: Ansätze zur Anbindung des Münsterlandes Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (73) 3 | 2021 78 MOBILITÄT Strategie Schritt werden Potenziale zur Verbesserung der ÖPNV-Attraktivität ermittelt und darauf basierend, in einem dritten Schritt, Lösungsvorschläge entwickelt und in das Verkehrssystem implementiert. Den letzten Schritt stellt die Optimierung der Lösungsansätze durch kontinuierliche Erprobung im Reallabor dar. Dieses schrittweise Vorgehen findet auf drei Ebenen statt: der Bürger*innen-Ebene, der mikroskopischen Verkehrsebene (Ampeln, Spurführung, Kreuzungsaufbau) und der makroskopischen Verkehrsebene (Verbindungsstraßen zwischen Orten) [15]. Die Grundlage bildet die Erhebung des Status Quo im ersten Schritt. Auf der Ebene der Anforderungen und Bedürfnisse der potentiellen Nutzer*innen findet dies durch das Bürgerlabor statt. Dieses bildet die methodische Schnittstelle zur Einbeziehung der Bürger*innen und deren Austausch mit Politik und der Wissenschaft. Im Rahmen des Bürgerlabors können sich Freiwillige in einem Bürger*innen-Panel anmelden und an verschiedenen Befragungen teilnehmen, um mit ihrer Erfahrung das Projekt zu bereichern. Ein weiteres Werkzeug zur Erfassung des Status Quo ist die Mobilitätserhebung, im Rahmen welcher das eigene (Mobilitäts-) Verhalten durch die Bürger*innen in Mobilitätstagebüchern freiwillig dokumentiert wird. Darüber hinaus wird über eine Digitalisierung des Verkehrs und der Straßeninfrastruktur ein mikroskopisches Modell aufgebaut, anhand dessen eine Analyse des Verkehrssystems erfolgen kann. Mit diesem Verfahren sollen die Schwachstellen des Verkehrssystems identifiziert und intelligente ÖPNV-Beschleunigungsmaßnahmen zur Umsetzung eines Expressbussystems entwickelt und evaluiert werden. Auf der mikroskopischen Verkehrsebene erfolgt eine Verkehrsstromerfassung durch Drohnenbilder und stationäre Zähleinheiten auf Autobahnen und Straßen und strebt das zuvor erwähnte Abbild des mikroskopischen Verkehrs an. Bezüglich der Verkehrsströme weist die Beschlussvorlage zum Masterplan „Mobilität im Münsterland 2035+“ [13] auf die besondere Bedeutung des Pendlerverkehrs vom ländlichen in den städtischen Raum als Ursache für Kapazitätsengpässe hin. Diese Engpässe betreffen sowohl die mikroskopische Ebene als auch die makroskopische Ebene, welche die dritte und letzte Betrachtungsebene bildet. Hierbei wird makroskopisch untersucht, welche Bereiche in Senden und Münster Verkehr erzeugen bzw. anziehen und warum. In makroskopischen Verkehrsmodellen werden Bereiche als Zellen dargestellt, zwischen denen Verkehrsbedarfe über Routen wie Buslinien oder MIV bedient werden können. Neben den Verkehrsdaten und den Informationen aus dem Bürgerlabor gehen auch öffentliche Daten der Gemeinden und Daten der Verkehrsbetreiber in die Analyse ein. Ziel ist die Modellierung der Verkehrsverteilung in Abhängigkeit der Rahmenbedingungen wie Fahrplänen, Tarifen oder Parkplatzverfügbarkeit. Hiermit wird die Grundlage für die Potenzialanalyse gelegt. Aufbauend auf einem besseren Verständnis des Status Quo auf Nutzer*innen-Ebene sowie der mikroskopischen und makroskopischen Ebene wird geprüft, welche Potenziale zur Steigerung der ÖPNV-Attraktivität und damit zur Entlastung der Straßen und der Umwelt identifiziert werden können. Auf Ebene des Bürgerpanels können die Hauptwiderstände der Nutzung des ÖPNV identifiziert werden, um diese gezielt abzubauen. Auf mikroskopischer Ebene kann identifiziert werden, woher beispielsweise Zeitverzüge entlang der Strecken stammen und welche Beschleunigung möglich ist. Auf makroskopischer Ebene kann geprüft werden, welche Zunahme der ÖPNV-Nutzung durch die Änderung der Rahmenbedingungen zur erwarten ist und wo das Aufwand- Nutzen-Verhältnis einer Anpassung des Verkehrssystems entgegenkommt. Eine Änderung der Rahmenbedingungen kann zum Beispiel das Vergrößern eines P+R-Parkplatzes sein, sodass das Auto als Zubringer zum Bus genutzt werden kann, oder die Anpassung der Tarifstruktur. Die Identifikation von Maßnahmen wird auf makroskopischer Ebene durch die Anwendung der Wertstromanalyse, die sonst in der Geschäftsmodelloptimierung zum Einsatz kommt, methodisch unterstützt, um den Umfang der Potenziale zu erweitern. Die so identifizierten Potenziale in Maßnahmen zu überführen und zu detaillieren stellt den dritten Schritt dar. Ein Beispiel für eine Maßnahme auf mikroskopischer Ebene kann die Einführung von Busspuren oder die Steuerung von Ampeln in Abstimmung mit dem ÖPNV sein. Die Maßnahmen aller drei Ebenen werden systematisch zusammengeführt und deren Umsetzung durch die am Projekt beteiligten Partner auf Gemeinde- und Verkehrsbetreiber-Ebene ermöglicht. Eine bereits implementierte Maßnahme stellt die seit August 2020 fahrende Expressbuslinie X90 zur Anbindung von Münster dar. Weitere Maßnahmen, wie die Bereitstellung einer Mobilstation in Senden oder Angebote des ÖPNV auf Abruf, sind in Planung. Die implementierten Maßnahmen werden anschließend im vierten Schritt im Realverkehr erprobt. Die wissenschaftliche Begleitforschung ermöglicht mittels empirischer Längsschnittbefragungen eine kontinuierliche Erhebung der Akzeptanz dieser Maßnahmen durch die potentiellen Nutzer*innen. Die Befragungsergebnisse bilden zusammen mit den Bedarfen der Nutzer*innen und den Ergebnissen der Verkehrsanalysen die Grundlage für Modifizierungen. Diese werden wiederum erprobt, hinsichtlich ihrer Akzeptanz seitens verschiedener Nutzer*innen-Gruppen und ihrer Auswirkungen auf den Verkehrsfluss bewertet und entsprechend verbessert. Bild 2: Arbeitsprozess zur Optimierung des Mobilitätsangebotes Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (73) 3 | 2021 79 Strategie MOBILITÄT Dieser iterative Arbeitsprozess im Bürgerlabor steht beispielhaft für eine dynamische Forschung unter Einbezug der Öffentlichkeit und sorgt für ein effizientes und bedarfsorientiertes Vorgehen zur Gestaltung eines Verkehrssystems, das von den Bürger*innen als attraktiv wahrgenommen sowie häufig und gerne genutzt werden soll. Ausblick Bedingt durch den aktuell diskutierten Trend der Mietpreisentwicklungen in urbanen Räumen, verdichtete und komplexe Verkehrssituationen sowie aus Gründen der Luftqualität, zieht es immer mehr Menschen in die Einzugsgebiete großer Metropolen sowie ländliche Regionen. Eine zunehmende Wohnraumverknappung sowie die Etablierung von Home-Office in der Corona-Krise sorgen für ein Umdenken und werden als Beschleuniger dieses Trends angeführt [16]. Hieraus lässt sich ableiten, dass eine attraktive Anbindung des ländlichen Raums an städtische Zentren zunehmend an Bedeutung gewinnen wird [17]. Das Verbundprojekt BüLaMo beantwortet die Frage nach einer attraktiven Alternative zum MIV mithilfe einer Nutzer*innenzentrierten Denkweise im Rahmen eines Reallabors. Ein bedarfsgerechtes und nachhaltiges Mobilitätsangebot soll das Pendeln attraktiver und CO 2 -sparender gestalten. Bedürfnisse, die spezifisch für die demografische Struktur des Münsterlandes sind, werden durch eine regelmäßige Interaktion mit einem Bürgerpanel abgebildet. Die holistische Vorgehensweise in dem Verbundprojekt reicht von Panelbefragungen bis hin zur Realisierung der Verkehrsmaßnahmen. Dazu werden umfangreiche Objektivdaten aufgenommen, diverse Verkehrsabschnitte hinsichtlich Verkehrsangebot und -nachfrage modelliert und mithilfe von maßgeschneiderten multimodalen Verkehrslösungen miteinander verknüpft. Die Grundlage zu Verkehrs- und Mobilitätsdaten wird erweitert, strukturiert und hinsichtlich einer makroskopischen Abbildung des Münsterlandes optimiert. Ansätze der Multi- und Intermodalität werden mittels Methoden der Verkehrssimulation abgebildet und können so effizient gestaltet sowie erprobt werden [18]. Stellhebel sind dabei unter anderem dynamische Lichtsignalanlagen, welche die Beschleunigung einer schnellen Achse im Berufsverkehr zulassen. Innovative Mobilstationen vereinen als Knotenpunkt nicht nur diverse Mobilitätsdienste, sondern bilden beispielsweise auch Angebote des lokalen Einzelhandels ab. Autonom fahrende Kleinbusse etwa könnten auf Abruf den Zubringerverkehr zu diesen Mobilstationen sicherstellen [17]. Somit bietet das Projekt das Potential, das bisherige Mobilitätsangebot des Münsterlandes effizient und attraktiv durch neue Lösungen zu ergänzen. Darüber hinaus zielt die angestrebte Optimierung mittels Lösungen der Verkehrssimulationen, einer schrittweisen Einführung der Stellhebel sowie der Einholung kontinuierlichen Feedbacks durch das Bürgerpanel auf ein funktionales und akzeptiertes Verkehrssystem. Das Konzept der zielorientierten Kollaboration von Verkehrsbetrieben, öffentlichen Stellen, Forschungsinstituten sowie Unternehmen der freien Wirtschaft könnte ausgehend vom Münsterland auf weitere Modellregionen übertragen werden. ■ REFERENZEN [1] Dangschat, J. S. 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[17] Philipsen, R.; Brell, T.; Biermann, H., et al. (2020): On the Road Again - Explanatory Factors for the Users’ Willingness to Replace Private Cars by Autonomous on-Demand Shuttle Services. In: Advances in Human Aspects of Transportation, S. 173-185. [18] Gallotti, R.; Barthelemy, M. (2014): Anatomy and efficiency of urban multimodal mobility. Scientific Reports 4, Heft 1, S. 6911. www.nature.com/ articles/ srep06911 (Abruf: 20.07.2021). Philipp Bickendorf, M.Sc. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lehrstuhl für Produktionssystematik am Werkzeugmaschinenlabor (WZL), RWTH Aachen p.bickendorf@wzl.rwth-aachen.de Stefan Ladwig, Dr. phil. Forschungsbereichsleiter Verkehrspsychologie und Akzeptanz, Institut für Kraftfahrzeuge (ika), RWTH Aachen stefan.ladwig@ika.rwth-aachen.de Benjamin Lender, M.Sc. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lehrstuhl für Produktionssystematik am Werkzeugmaschinenlabor (WZL), RWTH Aachen b.lender@wzl.rwth-aachen.de Philipp-Armand Klee, M.Sc. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lehrstuhl und Institut für Straßenwesen (isac), RWTH Aachen klee@isac.rwth-aachen.de Sabine Bertleff, Dr. rer. medic. Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Forschungsbereich Verkehrspsychologie und Akzeptanz, Institut für Kraftfahrzeuge (ika), RWTH Aachen sabine.bertleff@ika.rwth-aachen.de
