Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2021-0060
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Kundenwert - die zwei Seiten einer Medaille
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Andreas Krämer
Robert Bongaerts
Tom Reinhold
In einem verschärften Wettbewerbsumfeld wird die Kenntnis der Kundenstrukturen und -anforderungen zunehmend zum strategischen Wettbewerbsvorteil. Diese Perspektive der Wertschaffung für den Kunden sollte um die zweite Perspektive der Wertschaffung für das Unternehmen ergänzt werden. Als leistungsfähiges Instrumentarium wird der Value-to-Value (V2V)-Segmentierungsansatz vorgeschlagen, der die beiden Wertperspektiven des Customer-Value-Managements (Kunden- und Unternehmensperspektive) vereinigt. Neben Logik und Operationalisierung der V2V-Segmentierung werden auf Basis dieser neuen Kunden- und Marktsicht Handlungsoptionen zur Marktbearbeitung im ÖPNV der Stadt Frankfurt am Main aufgezeigt.
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Internationales Verkehrswesen (73) 3 | 2021 80 MOBILITÄT ÖPNV Kundenwert - die zwei Seiten einer Medaille Value-to-Value-Segmentierung für die traffiQ Lokale Nahverkehrsgesellschaft Frankfurt am Main Value-to-Value-Ansatz, Segmentierung Kundenbedürfnisse, Kundenwert, Covid-19 In einem verschärften Wettbewerbsumfeld wird die Kenntnis der Kundenstrukturen und -anforderungen zunehmend zum strategischen Wettbewerbsvorteil. Diese Perspektive der Wertschaffung für den Kunden sollte um die zweite Perspektive der Wertschaffung für das Unternehmen ergänzt werden. Als leistungsfähiges Instrumentarium wird der Value-to-Value (V2V)-Segmentierungsansatz vorgeschlagen, der die beiden Wertperspektiven des Customer-Value-Managements (Kunden- und Unternehmensperspektive) vereinigt. Neben Logik und Operationalisierung der V2V-Segmentierung werden auf Basis dieser neuen Kunden- und Marktsicht Handlungsoptionen zur Marktbearbeitung im ÖPNV der Stadt Frankfurt am Main aufgezeigt. Andreas Krämer, Robert Bongaerts, Tom Reinhold I m Zuge einer intensivierten Kundenorientierung sind Konzepte zur Schaffung von Kundenzufriedenheit und Kundenbindung in den Vordergrund des unternehmerischen Handelns gerückt [1, 2]. Für den ÖPNV zeichnet beispielsweise Bruhn [3] eine Erfolgskette auf, die mit dem Erkennen und Befriedigen der Kundenbedürfnisse (basierend auf einer Analyse der Customer Touchpoints) beginnt und über eine Verbesserung von psychologischen Zielgrößen (z. B. Kundenzufriedenheit) und/ oder Verhaltenswirkungen wie Kundenbindung und Weiterempfehlung bis zu positiven ökonomischen Wirkungen (Erhöhung des Kundenwertes) führt. Die dabei genutzten (CRM-) Strategien orientieren sich vorrangig am Kriterium der Marketingeffektivität [4, 5]. Der amorphe Begriff des „Kundenwerts“ Zur Bedürfnisbefriedigung wird in den letzten Jahren der Ansatz der Customer Centricity propagiert, auch im Bereich des ÖPNV [6]. Eine einseitige Zielorientierung ohne Berücksichtigung der dafür eingesetzten Ressourcen beinhaltet jedoch das Risiko einer „Angebotsinflation“ und führt damit zu Wirtschaftlichkeitsproblemen im Sinne einer unbefriedigenden Effizienz [7]. Damit stehen zwei fundamental unterschiedliche Interpretationen von Kundenwertigkeit im Raum: Bei der ersten wird der Customer Value/ Kundenwert definiert als Wert eines Produktes aus Sicht des Kunden, bei der zweiten der Wert des Kunden aus Unternehmenssicht, z. B. der Kundendeckungsbeitrag. Fast ausschließlich werden in der Forschung nur jeweils einzelne Stränge isoliert untersucht [8], während eine Verzahnung der Aspekte „Value-to-the customer“ (Bedürfnisbefriedigung aus Kundensicht) und des „Value-of-the customer“ (Monetarisierung für den Anbieter) in der Regel fehlt. Dabei sind die Abhängigkeiten und gegenseitige Beeinflussungen offenkundig. Marketingentscheider bewerten daher zunehmend Segmentierungsansätze danach, ob sie in der Lage sind, Aktivitäten bezüglich ihres Zuwachses am Kundendeckungsbeitrag zu beurteilen [9]. Für Mobilitätsanbieter stellt sich die Frage, welche Levels an Angebotskapazität, Taktung, Komfort und Kundenzufriedenheit optimal sind. Der im Folgenden vorgestellte Value-to- Value-Segmentierungsansatz (V2V) bezieht beide Wertdimensionen ein [10]. In Zeiten knapper Budgets geht es dabei nicht nur um den Nachweis, dass eine bestimmte Aktion wirtschaftlich ist, sondern auch erfolgreicher als alternative Maßnahmen. Dies trifft auch für den ÖPNV und insbesondere in Zeiten der Pandemie zu. Implementierung des Value-to- Value-Ansatzes im Frankfurter ÖPNV Basis der nachfolgenden Betrachtungen sind Ergebnisse eines von traffiQ Lokale Nahverkehrsgesellschaft Frankfurt am Main mbH und der exeo Strategic Consulting AG durchgeführten Projektes, das auf unterschiedlichen empirischen Studien aufbaut. Gegenstand einer ersten Befragung - unmittelbar vor Ausbruch der Corona- Pandemie - war die Analyse der Mobilitätsstrukturen in Frankfurt am Main, basierend auf einer Teilnehmerrekrutierung über ein Online-Access-Panel (Feb. 2020, mobile Personen in Frankfurt, 18+ Jahre). Mittels differenzierter Gewichtung unter Einbeziehung von Sekundärdaten wurde die Repräsentativität sichergestellt. Weitere Studien während der COVID-19-Krise ermöglichen einen direkten Vergleich sowie eine Zuordnung der Corona-bedingten Mobilitätsveränderungen zu unterschiedlichen Kundensegmenten des ÖPNV [11]. Wesentliche Zielsetzungen der Studien bestanden darin, •• die Anwendbarkeit der V2V-Segmentierung für die ÖPNV-Nutzung in Frankfurt zu prüfen, •• die Nutzbarkeit der V2V-Segmentierung zur Beantwortung zentraler Fragestellung im Bereich Angebot, Tarif, Vertrieb und Kommunikation aufzuzeigen und •• Strukturveränderungen in unterschiedlichen Teilphasen der Corona-Krise basierend auf der V2V-Segmentierung beschreiben und erklären zu können. Bestimmung und Klassifizierung der Kundenbedürfnisse In einem ersten Schritt erfolgte die Bestimmung der Dimension der Kundenbedürfnis- Internationales Verkehrswesen (73) 3 | 2021 81 ÖPNV MOBILITÄT se. Das Verständnis davon, wie Kunden eine Dienstleistung oder ein Produkt beurteilen, ist entscheidend für das Erreichen eines Wettbewerbsvorteils [12, 13]. Im Zentrum steht das Bild von potenziellen Käufern, die einen Wertzuwachs erwarten (im Sinne eines Nettonutzens, d. h. Perceived Value abzüglich des gezahlten Preises) und die genau diejenige Mobilitätsalternative auswählen, die den höchsten Nettonutzen bietet [14]). Die Analyse bestehender Kundenbefragungen verdeutlichte in der ersten Projektphase, dass die Abfrage von Merkmalswichtigkeiten mittels Ratingskalen problematisch ist. So führt der fehlende Trade-off in der Abfrage dazu, dass eine Vielzahl von Merkmalen als sehr wichtig eingestuft und die Identifikation eines treibenden Faktors erschwert wird. Daher wurde in der Pilotstudie ein Konstantsummen-Ansatz verwendet, der nicht auf Merkmale ausgerichtet war, sondern auf Merkmalsveränderungen. Die Befragten wurden gebeten, 100 Punkte gemäß ihrer Relevanz auf insgesamt zehn Verbesserungen im ÖPNV zu verteilen. Als Ergebnis liegen relative Wichtigkeiten vor, die für eine Segmentierung der Studienteilnehmer nutzbar sind. Im Ranking der präsentierten Verbesserungen erreicht die Pünktlichkeit (Steigerung um 10-%-Punkte) den ersten Platz, allerdings verbunden mit einer Heterogenität der Kundenpräferenzen. In Bild 1 sind drei Kundencluster beschrieben, die sich in ihren Präferenzen deutlich unterscheiden, innerhalb der Gruppe jedoch sehr homogen sind. So spielen für die „Leistungs-Orientierten“ Pünktlichkeit, Taktung und Fahrzeit eine besonders große Rolle, während die „Sicherheits- Orientierten“ einen Fokus auf Verbesserung der Sicherheit, aber auch auf Aspekte der Fahrgastinformation legen. Bestimmung des Kundendeckungsbeitrags Um in einem zweiten Schritt die Dimension der Kundenwertigkeit aus Unternehmenssicht zu bestimmen, wurden für jeden Studienteilnehmer sowohl Einnahmen als auch Kosten für die Nutzung des ÖPNV bestimmt, um auf dieser Basis einen individuellen Deckungsbeitrag abzuschätzen. Berücksichtigt wurden hierzu auf der Einnahmenseite die Verkaufserlöse des Hauptfahrscheins je Kunde (bei Bartarif-Nutzern multipliziert mit der Häufigkeit der ÖPNV- Nutzung) sowie ggf. Zuschläge aufgrund von Ausgleichszahlungen und auf der Kostenseite das individuelle ÖPNV-Nutzungsverhalten (Anzahl Fahrten pro Monat, durchschnittliche Entfernung je Fahrt, genutztes Verkehrsmittel, variabler Kostensatz pro Entfernungskilometer). So wird für jeden Kunden ein Deckungsbeitrag bestimmt. Insgesamt ergibt sich eine erhebliche Varianz, die insbesondere durch die Zeitkarten-Segmente bestimmt ist (Bild 2). In der Abbildung werden einzelne individuelle ÖPNV-Nutzer herausgestellt. So wird beispielsweise für einen Heavy-Nutzer ein negativer Deckungsbeitrag ausgewiesen, der durch eine relativ intensive Nutzung von Bus und Bahn bei gleichzeitig relativ geringem Ertrag pro Monat bestimmt ist. Demgegenüber erreichen andere Zeitkarten-Segmente eine sehr positive Wirtschaftlichkeit, wenn hohe Einnahmen mit einer nur effektiv geringen Nutzung des ÖPNV einhergehen. Die Integration der beiden Wertdimensionen Die Value-to-Value-Matrix Auf Grundlage der empirischen Studien liegen für alle Personen Angaben zum Primärbedürfnis sowie zum Deckungsbeitrag vor. Zur Kategorisierung wird beim primären Kundenbedürfnis die vorgeschlagene Clusterung verwendet. Die Achse der Kundenwertigkeit wird ebenfalls dreigeteilt (niedrig, mittel, hoch). Führt man beide Dimensionen zusammen, ergibt sich eine V2V-Matrix einzelnen Segmenten. Mit der Vorlage der Segmentlösung ist ein erster Schritt getan. Es folgen weitere Analysestufen [15]: •• Fokussierung auf Beziehungszustand und Customer Experience [3] •• Potenzialanalyse, z. B. Abo-/ Mehrverkehrspotenziale und Ansatzpunkte zum Heben der Potenziale [16, 17] •• Festlegen von Marketingmaßnahmen •• Controlling und Feedback: Nach Umsetzung der Maßnahmen ist zu bestimmen, welche Veränderungen sich im Einzelnen ergeben haben. Bild 3 zeigt für den ÖPNV in Frankfurt neben der Segmentgröße exemplarisch Kennziffern zu oben skizzierten zentralen Steuerungsgrößen im ÖPNV auf, z. B. das Optimierungspotenzial bei der Kundenzu- Bild 1: Ansatzpunkte zur Verbesserung des ÖPNV in Frankfurt nach Nutzensegmenten (% der Befragten) Quelle: exeo / traffiQ Opinion TRAIN 0% 25% 50% 75% 100% -125 -100 -75 -50 -25 0 25 50 75 100 125 Deckungsbeitrag / Monat in EUR % Anteil mobile Bevölkerung in FFM ÖPNV-Nichtnutzer (10%) DB: 0 € / Monat Ticket-Erlös: 0 € 0 Fahrten mit 0 Pkm => 0 € var. Kosten ÖPNV-Wenignutzer mit Kurzstrecke DB: 1,57 € / Monat Ticket-Erlös: 1,76 € 1 Fahrt mit 1,7 Pkm => 0,19 € var. Kosten Geringe Kundenwertigkeit Mittlere Kundenwertigkeit Hohe Kundenwertigkeit Heavy-Nutzer DB: -118 € / Monat Ticket-Erlös: 59 € (JobTicket) 63 Fahrten mit 2.356 Pkm => 177 € var. Kosten 9h Monatskarte gültig für Frankfurt & Umgebung DB: 110 € / Monat Ticket-Erlös: 136 € 57 Fahrten mit 340 Pkm => 26 € var. Kosten 35 % der Kunden 52 % der Kunden 13 % der Kunden Bild 2: Verteilung des Deckungsbeitrags (% der Befragten, kumuliert nach Höhe des Deckungsbeitrags) Quelle: exeo / traffiQ Internationales Verkehrswesen (73) 3 | 2021 82 MOBILITÄT ÖPNV friedenheit, die Möglichkeit zur Erhöhung des Mehrverkehrs (disponibles Potenzial) und damit verbunden die Hebung von Neukundenpotenzialen sowie das Aufzeigen möglicher Preisbereitschaften. Der strategische Vorteil der V2V-Segmentierung wird hier besonders deutlich. Besteht der Fokus in der Marktbearbeitung z. B. auf der Hebung von Mehrverkehrspotenzialen, so sollte beispielsweise das Segment 4 der Sicherheits-Orientierten mit geringem Deckungsbeitrag betrachtet werden, da in diesem Segment überproportionale Mehrverkehrspotenziale adressiert werden können. Veränderungen während der Corona-Pandemie Für die ÖPNV-Branche geht die Corona- Krise einher mit Einnahmenverlusten in Milliardenhöhe und massiven Kundenabwanderungen. Mehrfacher Lockdown mit Ausgangsbeschränkungen und Kontaktvermeidungen, die zeitweise gesetzlich eingeforderte Pflicht zum Angebot von Arbeiten im Homeoffice sowie die starke Ausdehnung der Kurzarbeit haben die Fahrgastzahlen massiv einbrechen lassen [18]. Dabei waren insbesondere ÖPNV-Stammkunden betroffen, die davor für eine Grundlast gesorgt haben. Da ein Großteil der Nachfrage auf Nutzer von Zeitkarten entfällt, waren die Unsicherheiten hier besonders hoch. Während Ergebnisse der Charité Research Organisation im Mai 2021 bestätigten, dass die Infektionsgefahr im ÖPNV objektiv nicht höher als im Individualverkehr ist [19], war zuvor die subjektive Wahrnehmung in der Öffentlichkeit vom ÖPNV als Spitzenreiter für ein hohes Corona-Ansteckungsrisiko geprägt [20]. Der Schaden war also längst eingetreten. Gleichzeitig stellte sich auch die Frage, wie die Verkehrsunternehmen durch gezielte Maßnahmen dem Nachfrageverlust entgegenwirken können. Dabei werden auch tarifliche Instrumentarien diskutiert (z. B. die Einführung eines Homeoffice-Tickets vgl. VVS [21]). Für Frankfurt zeigt Bild 4 die Coronabedingte Änderung der ÖPNV-Nutzungshäufigkeit in den V2V-Segmenten sowie die Top-3-Gründe dafür. Es wird deutlich, dass in allen Segmenten ca. ein Drittel bis die Hälfte der Kunden die Nutzungshäufigkeit reduziert hat („seltener“). Hervorzuheben ist, dass teilweise bis zu einem Drittel der Verbraucher in den Segmenten mit mittlerem und hohem Kundenwert auf eine ÖP- NV-Nutzung verzichtet haben. Der Wegfall der beruflich bedingten Wege ist nur im Segment der Leistungs-Orientierten mit hohem Kundenwert die Hauptursache. In den übrigen Segmenten überwiegen der Wegfall von Freizeitverkehr und die allgemeine Angst vor Ansteckung. Die veränderte Organisation der Arbeit hat als Treiber für veränderte Mobilität eine sehr unterschiedliche Bedeutung (im Segment 9 stellt sie mit 57 % Nennung den Top-Treiber dar, während sie im Segment 7 nur eine geringe Relevanz hat). Wie Statistiken von traffiQ zeigen, ist die Anzahl der Fahrgäste in Frankfurt deutlich stärker gesunken als die kassentechnischen Einnahmen - für 2020 im Vergleich zum Vorjahr beträgt der Fahrgastverlust 41 % vs. 19 % Einnahmeverlust. Die Analyse der Tarifstruktur zeigt deutliche Unterschiede: Im Gelegenheitsverkehr korrespondieren die Einnahmenmit den Fahrgastverlusten. Bei Jahreskarten und Jobtickets gab es hingegen sogar Einnahmenzuwächse; Kündigungen von Abonnements gab es zunächst nur wenige. Hier überlagern sich mehrere Effekte: Käufer von Monatskarten sind teilweise in Jobtickets gewechselt, teilweise aber auch in Einzelfahrscheine (vor allem über die digitalen Vertriebskanäle). Im 1. Halbjahr 2021 sinken die Einnahmen nochmals um ca. 14 % im Vergleich zum Vorjahreshalbjahr (u. a. aufgrund der starken „Vor-Corona“-Monate Jan./ Feb. 2020). Der Rückgang ist aber nun auch bei den Zeitkarten für Erwachsene mit 15 % erheblich; nur bei Schülern und Semestertickets bleiben die Einnahmen in Höhe des Vorjahresniveaus. Besonders auffällig ist der Rückgang bei Jahreskarten, die bar, d. h. nicht im Abonnement, gekauft werden - hier sind die Stückzahlen um 41 % gesunken. Wird das 2. Quartal 2021 mit dem 2.- Quartal 2020 verglichen, ist der Trend noch auffälliger: Einzelfahrscheine sind um 21 % gestiegen, Zeitkarten dagegen um 6 % gesunken - aber mit interessanten Verschiebungen innerhalb des Zeitkartensegments: Wochen- und Monatskarten sind um ca. 20 % gestiegen, im Abonnement und Jobticket gab es dagegen Rückgänge von 11 bis 17 %. Ausblick Neben den konkreten Ansätzen zur Marktbearbeitung unterstützt die V2V-Segmentierung bei aktuellen Strategieentscheidungen. Dies betrifft u. a. die Kundenzentrierung, die Digitalisierungg, die Bewertung Opinion TRAIN Legende Beschreibung der V2V-Segmente 1 2 3 4 5 6 7 8 9 Gering Kundennutzen Mittel Hoch 1) 5er-Skala (vollkommen zufrieden, sehr zufrieden, zufrieden, weniger zufrieden, unzufrieden). 2) Frage: „Sind Sie bereit, für die Verbesserung … [wichtigste Verbesserung ] einen höheren Preis zu bezahlen? “ 3) Frage: „Hätte die Verbesserung … [wichtigste Verbesserung ] einen Einfluss auf Ihre Zufriedenheit insgesamt mit dem ÖPNV-Angebot in Frankfurt? “ (5er-Skala) 4) Frage: „Wie oft haben Sie zusätzlich überlegt, den ÖPNV im Stadtgebiet Frankfurt zu nutzen, sich aber dagegen entschieden? “ Kundenwertigkeit (Deckungsbeitrag) Abb. 3 Komfort- Orientierte Leistungs- Orientierte Sicherheits- Orientierte 34 % 18 % 48 % 4 % 7 % Zufriedenheit aktuell 1) (Top-2-Anteil der Befragten im Segment) Cc % Cc % Cc % Cc % Preisbereitschaft 2) (Anteil der Befragten im Segment mit Preisbereitschaft für die präferierte Verbesserung) Erhöhung der Zufriedenheit 3) (Top-2-Anteil der Befragten im Segment mit erhöhter Zufriedenheit bei Umsetzung der Verbesserung steigt) 3) Potenzial Fahrten 4) (Anteil des Segments am Gesamtfahrtenpotenzial im ÖPNV im Stadtgebiet Frankfurt) Xx % 24 % 20 % 54 % 13 % 12 % 34 % 34 % 67 % 4 % 1 % 47 % 37 % 66 % 20 % 8 % 38 % 35 % 60 % 9 % 17 % 38 % 24 % 50 % 1 % 3 % 28 % 14 % 79 % 15 % 20 % 25 % 11 % 64 % 24 % 23 % 22 % 26 % 80 % 10 % 9 % Segmentgröße (%) Bild 3: Beschreibung der V2V-Segmente - Zielgruppenzugehörigkeit (% der Befragten) Quelle: exeo / traffiQ Opinion TRAIN 1 2 3 4 5 6 7 8 9 36% Quelle: exeo Strategic Consulting AG 4 Änderung der Nutzungshäufigkeit infolge der Corona-Krise und Ursachen (% der Befragten) Abb. 4 Gering Mittel Hoch Legende Komfort- Orientierte Leistungs- Orientierte Sicherheits- Orientierte 55% 28% 15% 43% 19% 52% Seltener (Eigentlich) gar nicht mehr Änderung der ÖPNV-Nutzungshäufigkeit infolge der Corona-Krise: A: 49 % B: 42 % C: 57 % A: 57 % B: 45 % C: 51 % A: 32 % B: 52 % C: 18 % A: 40 % B: 61 % C: 47 % A: 46 % B: 49 % C: 26 % A: 55 % B: 48 % C: 37 % A: 54 % B: 47 % C: 52 % A: 48 % B: 55 % C: 37 % A: 53 % B: 57 % C: 53 % Top-3-Gründe für die veränderte ÖPNV-Nutzung (Werte in % für gesamt): A: Wegfall Freizeitverkehr 49 % B: Angst vor Ansteckung 49 % C: Wegfall Berufswege (Homeoffice, Kurzarbeit etc.) 44 % Hinweis: Top-Nennung je Segment rot markiert Kundennutzen Kundenwertigkeit (Deckungsbeitrag) Reproduktion des V2V-Ansatzes in kontinuierlichen Studien (Kundenbarometer 1) ) 19% 48% 13% 53% 23% 45% 30% 35% 1) Vergleichbares Fragedesign übertragen auf die einmal jährlich durchgeführte Studie, die im Gegensatz zur ersten Studie als telefonisch durchgeführte Erhebung erfolgt, ermöglicht die Analyse aktueller Fragestellungen. Bild 4: Änderung der ÖPNV-Nutzungshäufigkeit infolge der Corona-Krise und Top-3 Ursachen Quelle: exeo / traffiQ Internationales Verkehrswesen (73) 3 | 2021 83 ÖPNV MOBILITÄT neuer Ticketangebote (z. B. 365-EUR-Tickets) und das Marketingcontrolling. Der Ansatz ist nicht speziell für den ÖPNV oder den Mobilitätsbereich entwickelt worden [22], ist aber unter Beachtung marktspezifischer Besonderheiten nutzbar [23, 24] . Die Bestimmung der Kundenwert-Dimension zeigt auf, dass nicht jeder Kunde den gleichen Wert für das Unternehmen erbringt. Eine Ausweitung der Kundenzentrierung sollte vor allem in den wertigen Kundensegmenten erfolgen, da eine Abwanderung dieser Kundensegmente automatisch ein größeres wirtschaftliches Risiko für das Unternehmen bedeutet. Im Gegenzug spielt der Kundennutzen eine wichtige Rolle zur Verbesserung der Customer Experience. Die V2V-Segmentierung liefert für den ÖPNV in Frankfurt konkrete Ansatzpunkte einer gezielten und differenzierten Marktbearbeitung. Das Segment der Sicherheits- Orientierten erwartet entsprechende Verbesserungen. Damit einhergehend können Mehrverkehrspotenziale zur Verbesserung der Kundenzufriedenheit angesprochen werden. Zur Steigerung des Deckungsbeitrags in den Segmenten mit niedrigem Deckungsbeitrag ist die Tarifierung zu überprüfen. Allerdings droht immer die Gefahr einer Kannibalisierung der höherpreisigen Angebote. In der ÖPNV-Branche werden aktuell zahlreiche Modelle als Alternative zu klassischen Abo-Produkten diskutiert. Im Wesentlichen lassen sich drei - vor allem über digitale Vertriebswege angebotene - Grundmodelle unterscheiden: 1. Tarifprodukt zu einem günstigeren Fixpreis zum Erwerb rabattierter Fahrscheine 2. Monatskarte, die nur an einigen, vom Nutzer wählbaren Tagen gilt 3. Einzelabrechnung von Fahrten mit Bestpreisgarantie durch eine monatliche Deckelung. Im RMV existiert etwa mit RMVsmart50 ein Pilotmodell, bei dem für einen monatlichen Grundpreis (10 EUR) ein Rabatt von 50 % auf die Einzelfahrt gewährt wird. Auch die Leipziger Verkehrsbetriebe bieten mit ABO Flex einen Rabatt von 55 % auf Einzelfahrten zu einer Basisgebühr von 6,90 EUR/ Monat. Der VRR testet das FlexTicket (Grundpreis 20 EUR/ Monat), mit dem an zwölf frei wählbaren Tagen vergünstigte Tageskarten erworben werden können. Beispiele für Bestpreisangebote sind BONNsmart oder ein Pilot der Wiener Linien mit fairtiQ, die beide ein elektronisches Checkin Check-out voraussetzen. Die Einführung entsprechender Modelle ist immer dann sinnvoll, wenn Kunden ohne das neue Angebot ihre bisherige Zeitkarte (ABO) nicht mehr erwerben/ kündigen und dann nur noch gelegentlich den ÖPNV mit Einzelfahrscheinen nutzen, problematisch ist dagegen, wenn ohne das neue Ticketangebot das reguläre Abo fortgeführt wird [25]. Es ist wahrscheinlich, dass zumindest einige Fahrgäste, die z. B. wegen Homeoffice den ÖPNV seltener nutzen, vom Abonnement bzw. der Jahreskarte auf Einzelfahrscheine gewechselt sind. Sowohl aus marketingwie aus verkehrspolitischer Sicht ist dabei vor allem unerfreulich, dass Kunden nun wieder Grenzkosten für die Durchführung einer einzelnen ÖPNV-Fahrt haben, was dazu führt, dass sie in Summe weniger Fahrten mit dem ÖPNV durchführen als bei einer Flatrate, bei der die einzelne zusätzliche Fahrt kostenlos ist. Für die gesamte ÖPNV-Branche bleibt spannend, wie sich die unterschiedlichen Versuche zu neuen Tarifangeboten „unterhalb“ der klassischen Monatskarte weiterentwickeln und ob sich „Homeoffice-Tarife“ als wirtschaftlich tragfähiges Angebot etablieren. Beide Aspekte des Kundenwertmanagements spielen dabei eine Rolle: Tarifprodukte sollen die Kundenbedürfnisse treffen und langfristig zu höheren Erlösen für die Verkehrsbetriebe führen. ■ LITERATUR [1] Anderson, E. W. (1996): Customer Satisfaction and Price Tolerance. 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(2020): Flex-Tarife und Abo- Angebote für Gelegenheitsnutzer im ÖPNV - eine Bestandsaufnahme und Analyse der Wirksamkeit. In: Der Nahverkehr (38. Jg.), Heft 10, S. 16-23. Robert Bongaerts, Dr. Vorstand, exeo Strategic Consulting AG, Bonn robert.bongaerts@exeo-consulting.com Tom Reinhold, Dr.-Ing. Geschäftsführer, traffiQ Lokale Nahverkehrsgesellschaft Frankfurt am Main mbH t.reinhold@traffiQ.de Andreas Krämer, Prof. Dr. Vorstandsvorsitzender, exeo Strategic Consulting AG, Bonn; Direktor, Value Research Institute (VARI), Iserlohn. andreas.kraemer@exeo-consulting.com
