eJournals Internationales Verkehrswesen 73/3

Internationales Verkehrswesen
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expert verlag Tübingen
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„Digitalisierung hat Verkehrsunternehmen ein Stück weit gerettet“

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Martin Timmann
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Internationales Verkehrswesen (73) 3 | 2021 98 TECHNOLOGIE Digitalisierung „Digitalisierung hat Verkehrsunternehmen ein Stück weit gerettet“ Foto: HanseCom Martin Timmann ist Geschäftsführer von Hanse- Com. Im Redaktionsinterview spricht er über die Vorzüge digitaler Services in Zeiten der Pandemie und erläutert, warum die Digitalisierung gekommen ist, um zu bleiben. Die Coronakrise hat der allgemeinen Digitalisierung einen enormen Schub verliehen. Hat diese Entwicklung auch den öffentlichen Nahverkehr erfasst? Definitiv ja. Insbesondere beim mobilen Ticketing und bei Abo- Self-Services erleben wir einen regelrechten Boom. Einige Verkehrsunternehmen haben hier bereits geplante Projekte beschleunigt, viele andere sind aus ihrem digitalen Dornröschenschlaf erwacht und haben Projekte gestartet. Lassen sich für diese Entwicklung nachvollziehbare Gründe ausmachen, wo doch die ÖV-Nutzung pandemiebedingt zurückgegangen ist? Im Kontext der Pandemie bedeutet Digitalisierung vor allem kontaktfreie und damit ansteckungsfreie Services. Wenn sich Fahrgäste ihre Tickets mit ihrem Smartphone kaufen können, vermeiden sie den persönlichen Kontakt mit Busfahrern und müssen auch keine Automaten anfassen; und wenn sie online Abos abschließen und ihre Kundendaten selbst verwalten können, müssen sie kein Service-Center aufsuchen. Digitalisierung hat vielen Verkehrsunternehmen enorm dabei geholfen, ihre Services pandemiegerecht bereitzustellen, und sie damit in der Krise ein Stück weit gerettet. Nicht zuletzt konnten Verkehrsunternehmen durch die Digitalisierung eigene Aufwände reduzieren und ihre Prozesse optimieren. Angesichts der neuen Herausforderungen und zusätzlichen Aufgaben durch Corona war das eine hochwillkommene Erleichterung. Nicht alle ÖV-Kunden sind wirklich Smartphone-affin, aber die gewohnten Service-Center können derzeit oft nicht oder nur eingeschränkt besucht werden. Was lässt sich für diese Menschen tun? Auch Menschen, die nicht Smartphone-affin sind, machen in der Regel Online-Banking oder kaufen im Internet ein. Für sie kann der ÖPNV sein Angebot auch über Webshops ausspielen. Entscheidend ist dabei aber eine einfache und intuitive Benutzerführung. Systeme wie Abo Online von HanseCom unterstützen die Kunden kontextsensitiv. Je nach Auswahl erhalten Nutzer nur die Eingabefelder angezeigt, die auch zu ihrer Auswahl passen. Im Gegensatz zu den Papierformularen der Service-Center denkt die Software für die Nutzer mit. Verkehrsunternehmen haben aber auch die Möglichkeit, ÖPNV-Fahrscheine als „Print@Home-Tickets“ anzubieten, die sich zuhause ausdrucken lassen - genauso, wie es die Menschen von Kino- oder Konzertkarten kennen. Einzelfahrscheine sind ja nicht die einzige Form, ein Ticket zu kaufen. Die Erfahrung zeigt, dass digitale Systeme auch angreifbar sein können. Wie lassen sich speziell Abos fälschungssicher integrieren? Hundertprozentig sichere Tickets gibt es grundsätzlich nicht. Auch Papiertickets oder Chipkarten können gefälscht werden. Bei digitalen Tickets lassen sich aber zahlreiche Sicherheitsvorkehrungen treffen, die eine Fälschung so gut wie unmöglich machen. Dazu zählen optische Sicherheitsfeatures wie ein Countdown, blinkende Logos, durch den Bildschirm flitzende Busse und Bahnen, ein im Rahmen bewegliches Ticket oder individuelle Kontrollgrafiken. Hinzu kommen technisch prüfbare Sicherheitsfeatures wie ein Sicherheitsbarcode oder die automatische Markierung abgelaufener Tickets als ungültig. Im speziellen Fall von Abos laufen die Tickets monatlich ab und werden vom System entsprechend der gültigen Laufzeit für den Folgemonat automatisch neu generiert. Internationales Verkehrswesen (73) 3 | 2021 99 Digitalisierung TECHNOLOGIE Infrastruktur und Einrichtung digitaler Services gibt es nicht umsonst. Welche Vorteile sehen Sie trotzdem für die Verkehrsunternehmen? Eine ganze Reihe. So profitieren Verkehrsunternehmen etwa in ihren internen Abläufen ganz erheblich von digitalen Services. Durch Abo-Self-Services etwa können sie ihre Prozesse optimieren und die Mitarbeiter in den Service-Centern von Routinetätigkeiten entlasten. Das gibt den Mitarbeitern vor Ort die Möglichkeit, sich verstärkt auf ihre Kernaufgaben zu konzentrieren, nämlich die Kundenberatung. Daneben gibt es weitere handfeste Vorteile. So entfällt beim mobilen Ticketing etwa das teure Cash-Handling durch den Fahrkartenverkauf in Bus und Bahn und an Automaten. Und es kommt nicht zu Verzögerungen im Betriebsablauf wegen eines Ticketverkaufs durch die Fahrer. Wartungs- und Reparaturservices an Fahrkartenautomaten werden hinfällig. Und was die erforderlichen Investitionen angeht: Der Markt bietet hier ausgesprochen faire Betriebsmodelle. Die überregionale Ticketing-Plattform HandyTicket Deutschland etwa basiert auf einem Pay-per-Use-Ansatz. Einführung und Onboarding sind kostenfrei. Betrieb, Hosting, Wartung, Weiterentwicklung und Pflege werden über das provisionsbasierte Preismodell finanziert. Verkehrsunternehmen müssen nur so viel bezahlen, wie in ihren Regionen auch tatsächlich gefahren wird. Zwar nicht flächendeckend auf dem Land, doch an praktisch allen wichtigen Haltestellen stehen Fahrkartenautomaten - daran haben sich auch ältere Kunden zwischenzeitlich gewöhnt. Sehen Sie den fest installierten Automaten mittelfristig als „Auslaufmodell“? Ich gehe davon aus, dass die Anzahl der Automaten in Zukunft drastisch reduziert wird. Sie sind teuer in der Anschaffung, in der Wartung und im Betrieb. Zudem entstehen den Verkehrsunternehmen durch Vandalismus hohe Kosten. Die Digitalisierung schreitet immer weiter voran und mit ihren Smartphones haben die Fahrgäste technische Devices immer dabei, die weit mehr können als ein Fahrkartenautomat. Zumindest langfristig wird das die Automaten obsolet machen. Einige Verkehrsunternehmen sind diesen Schritt aber heute schon gegangen und haben sie komplett abgeschafft. Womöglich wären diese Installationen auch nach der „heißen Phase“ der Pandemie sinnvoll, sofern sie sich einfach genug bedienen lassen - also möglichst ein Ticketkauf mit einem Klick. Was kann da aus Ihrer Sicht noch kommen? Digitale Services sind definitiv auch für die Zeit nach der Pandemie sinnvoll. Zum einen haben viele Fahrgäste während der Krise die Erfahrung gemacht, dass sie mit mobilem Ticketing und Abo-Self- Services schnell und einfach an ihr Ziel kommen. Sie werden sich nach der Pandemie sicher nicht wieder Fahrscheine beim Busfahrer kaufen, Automaten bedienen oder sich im Service-Center in die Warteschlange stellen. Darüber hinaus erwarten heute immer mehr Fahrgäste ganz generell digitale Services, weil sie es aus anderen Lebensbereichen längst gewöhnt sind, ihren Alltag digital zu organisieren. Durch Digitalisierung können Verkehrsunternehmen diese steigenden Erwartungen erfüllen und sich als moderne und zukunftsfähige Mobilitätsanbieter präsentieren. Welche Voraussetzungen müssen dafür gegeben sein? Eine ganz entscheidende Rolle spielen dabei Mobilitätsplattformen, also digitale Lösungen, die unterschiedliche Mobilitätsservices über einen zentralen Zugang - in der Regel eine Mobilitäts- App - miteinander verknüpfen. Mobiles Ticketing, wie zum Beispiel mit der individuell ausbaubaren Ticketing-Plattform HandyTicket Deutschland, bietet dafür die ideale Basis. Verkehrsunternehmen können damit zunächst ihre eigenen Verkehrsmittel anbieten und das Angebot dann Schritt für Schritt um neue Mobilitätsformen wie Leihfahrräder, Elektro-Scooter oder Carsharing sowie ergänzende Services wie Parktickets, Strom tanken oder Freizeittickets erweitern. Fahrgäste haben dann die Möglichkeit, alle diese Angebote individuell miteinander zu kombinieren und in einem Rutsch zu buchen und zu bezahlen. Indem Verkehrsunternehmen alle diese Service aus einer Hand anbieten, wandeln sie sich zum kunden- und serviceorientierten Dienstleister; vom Anbieter von Bus- und Bahnverkehr zum Orchestrator der neuen Mobilität. Damit können sie verhindern, dass sie von den vielen neuen Mobilitätsplayern zum bloßen Anbieter von Infrastruktur degradiert werden und stattdessen die Mobilität der Zukunft in ihrer Region aktiv mitgestalten. ■ Foto: iStock.com/ AaronAmat; 123rf.com/ Leung Cho Pan (HG) Trialog Publishers Verlagsgesellschaft | Schliffkopfstraße 22 | D-72270 Baiersbronn Tel.: +49 7449 91386.36 | Fax: +49 7449 91386.37 | office@trialog.de | www.trialog-publishers.de Redaktionsleitung: Tel.: +49 7449 91386.44 eberhard.buhl@trialog.de redaktion@internationales-verkehrswesen.de