eJournals Internationales Verkehrswesen 73/3

Internationales Verkehrswesen
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expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2021-0066
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Autonomes Fahren

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Janine Delcuvé
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Internationales Verkehrswesen (73) 3 | 2021 102 FORUM Veranstaltungen Autonomes Fahren Rückblick: Online-Tagung der Forschungsstelle für Verkehrsmarktrecht und des Collegium Europaeum Jenense am 22. April 2021 D ie Digitalisierung ist neben dem Klimawandel eines der großen Themen dieser Zeit. Bei der Entwicklung autonom fahrender Fahrzeuge könnten die vom Klimaschutzgedanken getragene Energie- und Verkehrswende sowie die durch neue technische Entwicklungen vorangetriebene Digitalisierung zusammenlaufen. Gleichzeitig bieten (technische) Neuerungen stets Potentiale, bergen jedoch auch Risiken und halten Herausforderungen für alle Akteure auf verschiedenen Ebenen bereit. Um die aktuellen Entwicklungen aufzuarbeiten und interdisziplinär sowohl aus wissenschaftlicher als auch praktischer Perspektive einzuordnen, luden die Forschungsstelle für Verkehrsmarktrecht und das Collegium Europaeum Jenense an der Friedrich-Schiller- Universität Jena am 22. April 2021 zur Online-Tagung „Autonomes Fahren“ ein. Die Vielgestaltigkeit des Tagungsthemas ebenso wie seine Aktualität spiegelten sich sowohl im Tagungsprogramm als auch in dem breiten Interesse wider, auf das die Tagung stieß. So begrüßten die Veranstalter Prof. Dr. Matthias Knauff, LL.M. Eur. (Forschungsstelle für Verkehrsmarktrecht, Friedrich- Schiller-Universität Jena) und Prof. Dr. Martin Herrmann (Collegium Europaeum Jenense, Friedrich-Schiller-Universität Jena) ein ebenso interdisziplinär wie international aufgestelltes Publikum mit zahlreichen Vertretern aus Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft 1 . Dieses wurde zunächst durch Prof. Dr.- Ing. Carsten Markgraf (Hochschule Augsburg) mit dem aktuellen Stand der technischen Entwicklung in Bezug auf das autonome Fahren vertraut gemacht. Ausgehend von der Erläuterung der Funktionsweise des autonomen Fahrens in technischer Hinsicht erfolgte eine Betrachtung der diese praktisch umsetzenden, auf dem Markt verfügbaren Hard- und Software unter besonderer Betonung der unterschiedlichen technischen Ansätze verschiedener Anbieter. Abschließend wies der Referent auf die Chancen und Risiken hin, die das autonome Fahren bietet. Dass diese miteinander abgewogen werden müssten, um die im Zusammenhang mit dem autonomen Fahren auftretenden ethischen Fragen zu beantworten, führte anschließend, gleichsam an die Überlegungen seines Vorredners anknüpfend Prof. Dr. mult. Nikolaus Knoepffler (Friedrich-Schiller-Universität Jena) aus. So seien ethische Fragen stets solche einer Güterabwägung. Gleichzeitig zeigte er die Ambivalenz der mit dem autonomen Fahren verbundenen Chancen auf. Plastisch veranschaulichte der Referent das Prinzip der Güterabwägung anhand zwei zentraler ethischer Problemfragen im Kontext des autonomen Fahrens, dem Privatsphären-Problem sowie dem Trolley-Problem. Als Lösungsvorschlag für die ethischen Probleme hielt er fest, dass trotz eines Überwiegens der Chancen die Entscheidung über die Nutzung autonom fahrender Fahrzeuge von jedem Menschen individuell getroffen werden können sollte. Abermals einen Perspektivwechsel einleitend, berichtete Ministerialdirigent Andreas Krüger (Leiter der Unterabteilung DG 2, Mobilität 4.0, Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, Berlin) im Anschluss von den politischen Entwicklungen. Eine Evaluierung der 2017 eingefügten Regelungen der §§ 1b, 1c StVG habe ergeben, dass derzeit noch keine automatisierten Fahrzeuge i. S. d. § 1c StVG zugelassen und auch noch keine entsprechenden Typengenehmigungen beantragt seien. Dies verdeutliche, dass der rechtliche Rahmen den tatsächlichen technischen Entwicklungen voraus sei. Dennoch werden gemäß dem Auftrag im Koalitionsvertrag aktuell ein weitergehender Gesetzentwurf im Bundestag beraten sowie eine korrespondierende Durchführungsverordnung abgestimmt. Damit soll ein Rechtsrahmen geschaffen werden, um fahrerlose Kraftfahrzeuge (Automatisierungsgrad der Stufe 4 und 5) in festgelegten Betriebsbereichen im öffentlichen Straßenverkehr nach Durchlaufen eines dreistufigen Genehmigungsverfahrens im Regelbetrieb fahren zu lassen und somit der Schritt vom automatisierten zum autonomen Fahren gewagt werden. Die Anwendungsbereiche würden vom Gesetzgeber bewusst offengelassen. Eine technische Aufsicht überwache den Verkehr mit den autonomen Fahrzeugen insofern, als diese Kontakt aufnähmen, wenn sie eine Situation im Straßenverkehr nicht meistern könnten. Zudem werde der Einsatz von Dual-Mode-Fahrzeugen, wie z. B. Automated Valet Parking (AVP), ebenfalls geregelt, tele-operiertes Fahren hingegen nicht. Zukünftig müssten neben einer Anpassung des rechtlichen Rahmens in der nächsten Legislaturperiode, insbesondere des Straßenverkehrsrechts, das in einer Vielzahl von Regelungen den Fahrer eines Fahrzeugs adressiere und damit fahrerloses Fahren außen vor lasse, vor allem die Themen Datenaustausch und Ausbau der Infrastruktur in den Fokus rücken. Die bei der Ausgestaltung des Rechtsrahmens für das autonome Fahren zu beachtenden verfassungsrechtlichen Vorgaben in den Blick nehmend, stellte Prof. Dr. Michael Brenner (Friedrich-Schiller-Universität Jena) zunächst die Frage, ob die staatliche Schutzpflicht für das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Bürger eine Pflicht nach sich ziehe, nur noch autonome Fahrzeuge zuzulassen. Unter der Voraussetzung, dass sämtliche technische Systeme fehlerfrei funktionieren und vollumfänglich gegen Hackerangriffe von außen geschützt seien, was nach dem aktuellen Stand der Technik nicht der Fall sei, sei es dem Staat zwar nicht verwehrt, nur noch autonom fahrende Fahrzeuge zuzulassen, eine entsprechende Pflicht bestehe aber nicht. Anschließend warf der Referent die Frage auf, ob eine solche gesetzliche Regelung, nach der nur noch autonom fahrende Fahrzeuge in den Verkehr gebracht werden dürften, Grundrechte verletzen würde, und verneinte dies für den Fall, dass vorhandene Fahrzeuge von den Verkehrsteilnehmern weiter genutzt werden dürften. Schließlich beleuchtete er den Umgang mit Dilemma-Situationen, d. h. Situationen, in denen ein Unfall nicht mehr zu verhindern ist und das Fahrprogramm sich zwischen verschiedenen Schadensszenarien entscheiden muss, vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Vorgaben. In derartigen Situationen käme es stets zu Grundrechtskollisionen; die kollidierenden Grundrechte seien im Wege der praktischen Konkordanz abzuwägen. Zu berücksichtigen sei freilich, dass das Leben als vom Grundgesetz absolut geschütztes Gut einer Abwägung nicht zugänglich sei. Nichtsdestotrotz wird man nach Ansicht des Referenten nicht umhinkommen, auch für die Situation, in denen das Programm zwischen der Tötung verschiedener Personen entscheiden muss, eine Lösung finden zu müssen, denn sonst könnten Fahrzeuge der Automatisierungsstufe 5 nicht zum Einsatz kom- Internationales Verkehrswesen (73) 3 | 2021 103 Veranstaltungen FORUM Foto: Arek Socha pixabay men. Dafür schlägt er drei Lösungsmöglichkeiten vor: 1. Es erfolgt eine Programmierung des Fahrzeugs im Sinne der Reduzierung der Opferzahl jedenfalls dann, wenn mögliche Opfer in ihrem Rechtsgut Leben gleichermaßen konkret gefährdet wären (Dies bedeutet im Klartext aber eine Abwägung von Leben mit Leben, die der Referent für vertretbar hält, weil die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz nicht mit dem Straßenverkehr vergleichbar sei). 2. Die Tötung einer oder mehrerer Personen, die sich grob fahrlässig oder gar vorsätzlich regelwidrig verhalten haben, wird priorisiert. 3. Der Nutzer stimmt der Aufopferung zu, sodass sich das Fahrzeug für den Schutz anderer Menschenleben entscheidet. Den Fokus auf das einfache Recht lenkend, behandelte der folgende Vortrag von Prof. Dr. Paul Schrader (Universität Bielefeld) die haftungsrechtlichen Probleme des autonomen Fahrens. Mit der zunehmenden Automatisierung des Fahrvorgangs im Sinne einer Verschiebung der individuellen Fahrentscheidung hin zu einer typisierten Entscheidung des Herstellers bei der Programmierung des autonom fahrenden Fahrzeugs gehe die Verlagerung der Verantwortlichkeit für den Fahrvorgang vom Fahrer des Fahrzeugs auf den Hersteller einher. Der Gesetzgeber habe durch die Einführung der §§ 1b, 1c StVG im Jahr 2017 jedoch deutlich gemacht, dass er an dem bisherigen Haftungsmodell festhalten will; haften soll die Person, die das Fahrprogramm aktiviert hat. §§ 1b, 1c StVG beträfen indes lediglich eine Stufe unterhalb der Automatisierung des Fahrens. Der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und des Pflichtversicherungsgesetzes - Gesetz zum autonomen Fahren 2 , der zuvor vom Referenten A. Krüger vorgestellt wurde, könne jedoch eine neue Aufteilung der Verantwortlichkeit für Fahrvorgänge mit autonom fahrenden Fahrzeugen der Stufe 4 bewirken. Als weiterer Akteur trete die technische Aufsicht hinzu. Daran, dass die Risiken der Fahrzeugautomatisierung nicht von den Herstellern getragen werden, sondern von der Halterhaftung erfasst seien, ändere aber auch der Gesetzentwurf nichts. Dies sei misslich, weil der Hersteller eine erhebliche Kontrolle auf die Fahrzeugsteuerung ausübe. Ob die Pflichtversicherung beim Hersteller Rückgriff nehmen könne, sei davon abhängig, wie § 1f Abs. 3 StVG n.F. produkthaftungsrechtlich eingeordnet werde. Darüber hinaus seien die Auswirkungen der auf EU-Ebene geplanten KI- Verordnung 3 für das Haftungssystem noch nicht abschließend absehbar und die Integration in das überkommene deutsche Haftungssystem nicht ohne weiteres möglich. Im Anschluss zeigte Emanuele Leonetti (Verband Deutscher Verkehrsunternehmen e.V. (VDV), Köln) die Visionen, Potentiale und den Regulierungsbedarf für die öffentliche Mobilität der Zukunft aus Sicht der Verkehrsunternehmen auf. Dabei kennzeichnete er den öffentlichen Verkehr als Integrator automatisierter und vernetzter Verkehrsangebote. Dies ermögliche der bestehende Rechtsrahmen nur unzureichend. So sähen sich aktuell laufende automatisierte und autonome Test- und Pilotprojekte im ÖPNV im Rahmen von Einzelbetriebserlaubnissen nach § 21 StVZO für Fahrzeuge mit einer bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit unter 25 km/ h Herausforderungen wie der langsamen Reisegeschwindigkeit von 12 km/ h, langwierigen Genehmigungsverfahren sowie dem Erfordernis eines Operators an Bord bei bestehendem Personalmangel gegenüber. Der Referent beklagte außerdem die fehlende Möglichkeit zur On-Demand-Bedienung. Gefordert werde daher die Schaffung eines Rechtsrahmens für den fahrerlosen ÖV-Betrieb von Fahrzeugen auf einer spezifischen Linie oder in einem spezifischen Bedienungsgebiet. Insofern werde der vom Referenten A. Krüger vorgestellte aktuelle Gesetzentwurf seitens des Verbandes grundsätzlich begrüßt. Gleichzeitig würden aber die spezifischen betrieblichen und halterbezogenen Anforderungen als Herausforderung für den ÖPNV erkannt und kritisiert. Der Gesetzentwurf sei nicht spezifisch auf den ÖPNV als Anwendungsfall zugeschnitten, werde dort aufgrund der örtlichen Begrenzung des Einsatzes autonom fahrender Fahrzeuge praktisch aber zuerst zum Einsatz kommen. Befürchtet wird von Seiten des Verbandes zudem die fehlende technische Umsetzungsbereitschaft bei den Herstellern sowie eine mögliche Rechtszersplitterung der Genehmigungspraxis in Anbetracht der Zuständigkeit der Länder für die Erteilung von Betriebsbereichsgenehmigungen. ■ 1 Dokumentiert sind die Tagungsbeiträge in dem demnächst in der Schriftenreihe zum Verkehrsmarktrecht im Nomos-Verlag erscheinenden Tagungsband. 2 BT-Drs. 19/ 27439. 3 vgl. Entwurf einer Entschließung des Europäischen Parlaments mit Empfehlungen an die Kommission für eine Regelung der zivilrechtlichen Haftung beim Einsatz künstlicher Intelligenz (2020/ 2014(INL)) vom 05.10.2020 (Dok.: A9-0178/ 2020). Janine Delcuvé Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Friedrich-Schiller-Universität Jena