Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2021-0069
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Wohin die Reise gehen soll
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Gerd Aberle
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Gerd Aberle KURZ UND KRITISCH Internationales Verkehrswesen (73) 4 | 2021 9 Wohin die Reise gehen soll I m aktuellen Jahrzehnt kumulieren sich Fundamentalentscheidungen der Politik. Die Klimakrise und deren Herausforderungen für den Mobilitätssektor sind gravierend und hinsichtlich der einzusetzenden Maßnahmen umstritten. Es geht insbesondere um die Energie- und Verkehrswende, konkretisiert in der CO 2 -Bepreisung fossiler Brennstoffe, der Positionierung des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs, insbesondere der Eisenbahn, als politisch definierte Alternative zum Straßenverkehr, um eine hohe finanziellen Förderung elektrischer Antriebe und erforderlicher Ladesäulen und die EU-weite CO 2 -PKW-Regulierung herstellerbezogener Fahrzeugflotten-Emissionen. Alle Einzelmaßnahmen verlieren bei Konsistenzprüfungen an Überzeugungskraft. Dabei wird ein entscheidendes Element weitestgehend ausgeklammert bzw. nur von Experten betont: Stehen die in wenigen Jahren zur Umsetzung der zahlreichen Maßnahmen erforderlichen großen und überproportional wachsenden Strommengen bereits Ende des Jahrzehnts zur Verfügung? Die permanent propagierte schnelle Ausweitung der Digitalisierung, die Umstrukturierung der mit fossilen Energien betriebenen industriellen Produktion auf Elektrizität und die Versorgung von 6 bis 12 Mio. Straßenfahrzeugen mit Batterien oder Wasserstoff verlangen wesentlich mehr Beachtung als bislang. Dabei stellt die Netzsicherheit eine besonders relevante Komponente dar, zumal die nutzbare Sonnen- und Windenergie zur Stromproduktion keine stabile Grundversorgung bieten kann. Und in wenigen Jahren sind Atomstrom und Kohlestrom in Deutschland Geschichte. Ob Stromimporte in Zukunft in welcher Höhe und aus welchen Produktionsquellen (Atom/ Kohle) hinreichend zur Verfügung stehen, ob Gaskraftwerke einspringen können und ob die notwendigen Investitionen in Windkraft und Stromleitungen zeitgerecht durchgeführt werden können, ist mit einem Nebelschleier verdeckt. Die Einbeziehung des Verkehrsbereichs in ein CO 2 -Emissionshandelssystem wird sowohl politisch als auch in der Wissenschaft umfänglich diskutiert. Immerhin ist dies für den Luftverkehr bereits erfolgt, allerdings nur für den EU-Bereich. Diese Partiallösung verunsichert die Branche, insbesondere jene Carrier, die sich im Fernbereich von Konkurrenten aus Drittländern mit großen Hubs ohne Emissionsbelastungen diskriminiert sehen. Die im Straßenverkehr bis 2024 deutlich ansteigende CO 2 -Abgabe erhöht den bereits sehr hohen (über 65 %) ausmachenden Steueranteil deutlich, zumal die CO 2 -Steuer durch 19 % Umsatzsteuer finanzpolitisch veredelt wird. Nun ist aber das CO 2 -Belastungssystem kein Emissionshandel, legt man eine ökonomisch-wissenschaftliche Betrachtungsweise zugrunde. Denn bei diesem Instrument geht es um eine Effizienzmethodik, die an den Vermeidungskosten von Emissionen ausgerichtet ist. Je niedriger die (marginalen) Vermeidungskosten von Emissionen sind, desto geringer ist die Zahl der vom Verursacher einzusetzenden (zu kaufenden) Emissionsrechte. Diese Vermeidungskosten zu bestimmen ist angesichts der komplexen staatlichen Eingriffe in die Straßenverkehrsabgaben mit Steuern, Kraftstoffsubventionen, Kaufsubventionen für echte oder Pseudo- E-PKW, derzeit nicht in Sicht. Auch ist nicht geprüft, ob durch eine zu hohe Zahl ausgegebener kostenloser Emissionsrechte die Umsetzungsprobleme verstärkt werden. Insofern ist es nicht uninteressant, dass in der aktuellen politischen Diskussion die Frage einer Reduzierung des zahlenmäßigen Umfanges der Rechte aufgeworfen wird. Ein weiteres und komplexes Entscheidungsfeld ist die von sämtlichen zukünftigen Politikverantwortlichen als notwendig erachtete weitere (zweite) Bahnreform. Die bereits vorliegenden Anforderungen sind je nach Interessenlage sehr unterschiedlich, zumal dabei auch bahnfremde und auch Bahnsystem-schädliche Vorschläge kursieren. Die anstehenden Aufgaben werden vor allem durch die nicht mehr zu überbietenden Erwartungen an die Leistungsfähigkeit des Schienenverkehrs zur Lösung der mit einer Verkehrswende verbundenen Aufgaben im Personen- und Güterverkehr verdeutlicht. Dass die unbedingt erforderlichen erheblichen Kapazitätsausweitungen in der Netzinfrastruktur durch kurze Planungs- und Genehmigungszeiten und ebenfalls vertretbare Bauzeiten bis 2030 umsetzbar sind, glaubt kaum jemand. Aber bis dahin soll die Bahn ihre Personen- und Güterverkehrsleistungen um 100 bzw. 50 % steigern. Und dann müssen auch die riesigen Investitionssummen bereit stehen, im Wettbewerb mit den vielen Ansprüchen an die Haushaltspolitik aus den neuen Regierungsparteien. Viele Fragen und Unklarheiten. Wo geht die Reise hin? ■ Prof. Gerd Aberle zu Themen der Verkehrsbranche
