eJournals Internationales Verkehrswesen 73/4

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2021-0071
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Kompetenznetz Klima Mobil

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Günter Rasch
Adrian H.  Messe
Um die Klimaschutzziele zu erreichen, muss der Verkehr in Städten und Gemeinden transformiert werden: Weniger CO2 aus dem motorisierten Individualverkehr, dafür mehr ÖPNV und mehr Platz zum Leben. Wie das gelingen kann, soll das Kompetenznetz Klima Mobil in Baden-Württemberg zeigen.
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POLITIK Kommunikation Internationales Verkehrswesen (73) 4 | 2021 14 Kompetenznetz Klima Mobil Durch Vernetzung, Beratung und Wissensaustausch zu-mehr-Klimaschutz im Verkehr Klimaschutz, Kommunen, Straßenraum, Straßenraumgestaltung, Verkehrsberuhigung Um die Klimaschutzziele zu erreichen, muss der Verkehr in Städten und Gemeinden transformiert werden: Weniger CO 2 aus dem motorisierten Individualverkehr, dafür mehr ÖPNV und mehr Platz zum Leben. Wie das gelingen kann, soll das Kompetenznetz Klima Mobil in Baden-Württemberg zeigen. Günter Rasch, Adrian Messe D er Verkehrssektor ist einer der größten Verursacher von CO 2 , das gilt nicht nur für Baden-Württemberg, sondern für ganz Deutschland und den europäischen Raum. 1 Auch wenn der kommunale Handlungsspielraum von Bund, Land und EU mitbestimmt wird, haben Kommunen bereits heute weitreichende Handlungsspielräume, wenn es um die Umsetzung von hochwirksamen Klimaschutzmaßnahmen im Verkehrssektor geht. Ihnen kommt daher eine Schlüsselrolle bei der Transformation des Mobilitätssektors zu. Das bedeutet: Klimaschutz bedarf innovativer Verkehrslösungen vor Ort. Diejenigen, die bereits heute diesen Spielraum nutzen, verringern nicht nur den motorisierten Individualverkehr und schützen das Klima, sondern steigern damit gleichzeitig die Lebens- und Aufenthaltsqualität in den Kommunen. Das schafft Akzeptanz und macht Klimaschutz im Verkehr erlebbar. Das Kompetenznetz Klima Mobil berät und unterstützt Städte, Gemeinden und Landkreise, die hochwirksamen Maßnahmen zum Klimaschutz im Verkehr umzusetzen. Gemeinsam mit Expertinnen und Experten hat sich das Kompetenznetz Klima Mobil vor zwei Jahren die Frage gestellt, welche Maßnahmen im Verkehr hochwirksam das Klima schützen. Als Ergebnis wurden 15 hochwirksame Einzelmaßnahmen definiert, die in die drei Themen Parkraumbewirtschaftung und Umwidmung von Straßenraum, Verkehrsberuhigung und Straßenraumgestaltung und die Bevorrechtigung umweltfreundlicher Verkehre zusammengefasst werden können. Ausschlaggebend bei deren Umsetzung ist, dass die jeweilige Maßnahme zu den individuellen Gegebenheiten in den Kommunen passt. Einer der Schwerpunkte des kommunalen Beratungsbedarfs liegt dabei eindeutig im Bereich Parkraummanagement und Umnutzung von Straßenraum, insbesondere beim Thema Bewohnerparken. Um eine langfristige Veränderung in der Verkehrszusammensetzung und im Mobilitätsverhalten zu erreichen, müssen solche hochwirksamen Maßnahmen umgesetzt werden, die klimaschädliches Verhalten erschweren und gleichzeitig Anreize für den Umstieg auf klimafreundliche Mobilitätslösungen setzen. Dabei fokussiert sich das Unterstützungsangebot des Kompetenznetzes auf restriktive, häufig ordnungsrechtliche Maßnahmen (Push-Maßnahmen), die in der konzeptionellen Planung sehr oft unterrepräsentiert sind (Bild 1). DIE VERWALTUNG ALS VORBILD WARUM SIND WIR UNTERWEGS? WEGEZWECKE BADEN-WÜRTTEMBERG ENTWICKLUNG VON HEUTE BIS 2050 WIE SIND WIR UNTERWEGS? MODAL SPLIT BADEN-WÜRTTEMBERG 2050 HEUTE 3,1 WEGE pro Person/ Tag 40 KM 80 MIN • Dienstreisen nur im Umweltverbund • Jobticket für Mitarbeitende • Fuhrparkmanagement (weniger Fahrzeuge, Umstellung auf E-Autos, mehr Carsharing) • gesünder • schadstoffärmer • klimaverträglicher • sicherer MIV (Motorisierter Individualverkehr) ÖV (Öffentlicher Verkehr) Fahrrad Fuß zur Arbeit im Dienst Ausbildung Einkauf Erledigungen Freizeit Begleitungen 21 17 17 10 4 6 6 8 7 15 11 35 14 29 Personenkilometer Wege MIV-Mitfahrer E-Mobilität (E-Autos, Pedelecs), Sharing (Car-, Bike-, Ridesharing), Digitalisierung („mobility as a service“, Verkehrssteuerung, universelle Apps & Tickets), autonomes Fahren, Urbanisierung, bei Jüngeren: rückläufiger Führerscheinbesitz und weg vom MIV zur Multimodalität Fixierung aufs Auto; Auto als Statussymbol, größere und schnellere Autos (SUVs), starke Autolobby, Automobilwirtschaft = Hauptwirtschaftszweig in Deutschland und BW, bei Älteren: stärkere und längere PKW-Nutzung, autogerechte Städte, Infrastrukturdefizite und Verspätungen im öffentlichen Fernverkehr Für jeden weg das optimale Verkehrsmittel (Multimodales Verkehrsverhalten) Montag … + + Dienstag Mittwoch Fahrrad ÖV Carsharing Wohnung Arbeit Verkehrsmittel geschickt kombinieren (intermodales Verkehrsverhalten) Anzahl der Wege in Prozent 19 66 16 53 Ländlicher Raum BW 26 32 11 13 18 Urbaner Raum BW Modal split 21 10 10 15 44 GEGENTRENDS ZIEL 1990 2050: -95 % VERKEHRSBEDINGTES CO 2 + = TRENDS • platzsparender • günstiger • leiser • städtebaulich attraktiver Angaben in Prozent (von 100) UMWELTVERBUND + CO-BENEFITS • Fahrgemeinschaften • Fahrradabstellanlagen und Umkleidekabinen • Mitarbeitende informieren und beraten SONDERTHEMA GÜTERVERKEHR • von der Straße auf die Schiene bzw. aufs Wasser (Binnenschifffahrt) • nachhaltige City-Logisitk (Paketlieferungen bündeln, letzte Meile mit alternativen Antrieben) • entsprechende Investitionen in Infrastruktur • intelligente IT-Lösungen SONDERTHEMA FLUGVERKEHR • stark steigend • fragwürdige Besteuerung und Preisgestaltung • mit erheblichen weiteren Umweltschäden (Lärm, Flächeninanspruchnahme) 2050 MIV / MIV-Mitfahrer ÖV Fußweg Fahrrad 2015 PUSH • Umverteilung von Straßenraum (an den Umweltverbund) • Stellplatzreduktion • restriktives Parkraummanagement • verkehrsberuhigte Zonen (Spielstraßen, Tempo-30-Zonen) • Zufahrtsbeschränkungen • Mautgebühren PULL • Ausbau ÖV + Taktverdichtung und Schnellspuren • gutes Radwegenetz, sichere Radwege + Abstellanlagen • viele Sharingangebote • sichere, freie Geh- und Schulwege MIV Vermeiden (kurze Wege, Homeoffice, …) Verlagern (auf ÖV, Rad- und Fußverkehr) Verbessern (kleinere und schadstoffärmere Autos, E-Mobilität, Angebote vernetzen, …) „ZUCKERBROT “ „PEITSCHE“ E-Mobilität + MOBILITÄT & VERKEHR Bild 1: Push Pull und Wirksamkeit Quelle: Klimaschutz- und Energieagentur Baden-Württemberg Niederschwellige Beratung, persönlich und individuell Bis jetzt sind bereits über 80 Kommunen Teil des Netzwerks (Bild-2). Im Mittelpunkt stehen die Modellkommunen des Kompetenznetzes. Es wurden nach einem Bewerbungsaufruf 15 Städte und Gemeinden aus ganz Baden-Württemberg ausgewählt, die bei der Entwicklung und Umsetzung hochwirksamer Maßnahmen in den kommenden beiden Jahren intensiv fachplanerisch und kommunikativ begleitet werden. Unter diesen befinden sich auch mehrere kleine Gemeinden mit ambitionierten Verkehrsprojekten. Die umzusetzenden Maßnahmen können kontrovers sein und in den Kommunen für einen hohen Kommunikations- und Überzeugungsbedarf sorgen. Also müssen für eine erfolgreiche Umsetzung nicht nur Planung und Umsetzung konstruktiv begleitet werden, sondern auch die Interesseneigner angehört und in die Debatte eingebunden werden. Jede dieser Modellkommunen erhält ihr maßgeschneidertes Unterstützungsangebot aus Formaten, wobei Kommunikation und Überzeugungsarbeit in den Verfahren maßgeblich ist. Wer kommunikativ von den Vorteilen ambitionierter Verkehrs- und Mobilitätsprojekte überzeugen will, muss sich mit guten Argumenten offen der Diskussion stellen. Deshalb ist das Thema Kommunikation einer der wichtigsten Bausteine des Kompetenznetzes. Dabei werden drei Kommunikationsansätze verfolgt. Erstens sollen die kommunalen Entscheidungsebenen erreicht und von den Themen überzeugt werden. Dies geschieht in den Modellkommunen vor allen durch die Zusammenarbeit mit den regionalen Projektberaterinnen und Projektberatern und den Planungskonsortien, die auch in Sachen Kommunikation an der Projektierung beteiligt sind. In den weiteren Kommunen geschieht dies vor allem über das Beratungsangebot, das wiederum schwerpunktmäßig durch die regionalen Projektberaterinnen und Projektberater umgesetzt wird. Zweitens findet eine integrative Kommunikation über das Netzwerk statt, indem Arbeitsgruppen zu den jeweiligen Handlungsfeldern und Themen gebildet wurden. Hier können sich alle Kommunen einbringen. Der Teilnehmerkreis setzt sich sowohl aus den kommunalen Spitzen als auch aus der Fachebene zusammen. Schließlich drittens: Ab Ende 2021 wird zusätzlich für- die Mitglieder des Kompetenznetzes eine eigene Kommunikationskampagne anlaufen, mit der die Kommunen befähigt werden sollen, selbst kommunikative Überzeugungsarbeit in den kommunalen Gremien und bei der Bürgerschaft zu leisten. Für die Beratung wie für die Kommunikation ist der regionale Charakter des Kompetenznetzes ebenfalls ausschlaggebend: Mit vier regionalen Projektberaterinnen und Projektberatern vor Ort werden nicht nur die Planungs- und Beratungskonsortien gesteuert, die sich konkret um die Anliegen der Modellkommunen kümmern. Sie sind darüber hinaus die Hauptansprechpersonen der Kommunen in den vier Regierungsbezirken und vernetzen die unterschiedlichen Akteure der nachhaltigen Mobilität gezielt miteinander. Neue Vorgehensweisen zur Umsetzung hochwirksamer Maßnahmen Aufgrund der großen Bandbreite an Modellkommunen - klein, mittel, groß, ländlich oder urban - und Verkehrsprojekten werden im Kompetenznetz insgesamt vielfältige Unterstützungsformate umgesetzt. Auch die Vorgehensweise zur Umsetzung ist immer auf die jeweilige Modellkommune zugeschnitten. Insgesamt ist über den gesamten Projektzeitraum die Umsetzung von über 300 Formaten geplant. Hierzu gehören beispielsweise Vor-Ort- Begehungen, Pop-up-Maßnahmen oder Bürgerdialoge. Ferner finden zahlreiche Sitzungen in den Fachausschüssen, Beratungs- KONTAKT Messe Berlin GmbH Messedamm 22 · 14055 Berlin T +49 30 3038 2376 innotrans@messe-berlin.de InternationalesVerkehrswesen_InnoTrans2022_102x297_de.indd 1 InternationalesVerkehrswesen_InnoTrans2022_102x297_de.indd 1 13.10.2021 10: 11: 35 13.10.2021 10: 11: 35 POLITIK Kommunikation Internationales Verkehrswesen (73) 4 | 2021 16 gespräche und Arbeitstreffen statt. Bereits jetzt zeichnet sich ab, wie wichtig innovative und kreative Formate sind, wenn es um das Thema Bürgerbeteiligung geht. Dies können Malwettbewerbe an Schulen oder temporäre Experimentierräume sein, die für die Menschen erlebbar sind und einen Perspektivwechsel herbeiführen können. Maßnahmen können am besten dann beschlossen werden und in die Umsetzung kommen, wenn ein positives Erleben und positive Botschaften damit vermittelt werden können. Um den Umsetzungsprozess so agil wie möglich zu gestalten, möchte das Kompetenznetz Veränderungsprozesse initiieren und gleichermaßen auf neue Veränderungen eingehen. Dies wird beispielsweise bei aufkommenden verkehrsrechtlichen Fragestellungen besonders deutlich, bei denen das Kompetenznetz zur Klärung beiträgt. Hier ist es auch ein Ziel des Kompetenznetzes, verkehrsrechtliche Hürden aufzuzeigen und somit Impulse zu Gesetzesänderungen zu geben. Die primäre Zielgruppe des Kompetenznetzes sind die Kommunen, bestehend aus der Entscheider- und Fachebene. Die Kommunen sind dabei auch die Multiplikatoren zur Erreichung ihrer Bürgerschaft. Ziel ist es, dass in den kommunalen Gremien Verständnis und Zustimmung für entsprechende fachlich richtige Maßnahmen entstehen. Wir bieten Auftaktgespräche, Informationsrunden, zahlreiche Workshops und Veranstaltungen sowie eine Kommunikationskampagne für die Mitglieder des Netzwerks. Strukturelle Herausforderungen für eine Neue Mobilität Das Thema Klimaschutz im Verkehr erfährt in Kommunen wachsende Dringlichkeit. Die Ziele zum Klimaschutz sind international, national und auf Landesebene definiert und festgelegt worden. Alle Ebenen sind angehalten, ihren Beitrag zur Erfüllung dieser Ziele zu leisten. Ordnungsrechtlich ist die Aufgabe des Staates eindeutig: Wer Ziele setzt, muss den Kommunen auch ermöglichen, diese zu erreichen. Die Herausforderung dabei ist, dass sich Verwaltungsabläufe an Subsidiarität und Föderalstruktur orientieren, nicht an den Klimaschutzzielen. Eine „Neue Mobilität“ muss also Klimaschutz und kommunalen Verkehr miteinander vereinen: Infrastruktur, ÖPNV, Klimaschutz und kommunale Projektierungen müssen künftig systemisch zusammenhängend betrachtet und kommuniziert werden. Konkret heißt das, dass praktikable und umsetzbare Projekte zum Klimaschutz im Verkehr in die Fläche getragen werden sollten. Hier setzt das Kompetenznetz an: Die Modellvorhaben der 15 Kommunen sollen Leuchttürme sein für alle Kommunen, die etwas beim Klimaschutz im Verkehr bewegen wollen. Daraus entstehen Lerneffekte. Auf Dauer sollen allgemeine Handlungsmöglichkeiten auf dem Weg zu einer Neuen Mobilität in Kommunen aufgezeigt und in die kommunalen Abläufe internalisiert werden, nicht nur in Baden-Württemberg. Darum transferieren wir unsere Erkenntnisse auch auf die Bundesebene und künftig auch auf die europäische Ebene. Wir sind davon überzeugt, dass Kommunen einer der Schlüssel sind, wenn es um eine zukunftsfähige, effiziente und klimafreundliche Mobilität geht. ■ 1 Im Jahr 2020 verursachte das Verkehrswesen in Deutschland 146 Mio. Tonnen CO 2 . Quelle: Umweltbundesamt: Nationales Treibhausgasinventar 2021, 12/ 2020; Presseinformation 07/ 2021 vom 15.03.2021 Günter Rasch Projektleiter, Kompetenznetz Klima Mobil, Stuttgart guenter.rasch@nvbw.de Adrian H. Messe Strategische Kommunikation, Kompetenznetz Klima Mobil, Stuttgart adrian.messe@nvbw.de AUF EINEN BLICK Das Kompetenznetz wurde von der Nahverkehrsgesellschaft Baden-Württemberg (NVBW) in Kooperation mit der Klimaschutz- und Energieagentur Baden-Württemberg (KEA-BW) ins Leben gerufen. Gefördert wird das Kompetenznetz Klima Mobil durch die Bundesrepublik Deutschland. Zuwendungsgeber ist das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages, im Rahmen der Nationalen Klimaschutzinitiative (NKI). Die Fördersumme beträgt 2,3 Mio. EUR. Das Verkehrsministerium Baden-Württembergs beteiligt sich mit einem ähnlichen Betrag und unterstützt das Kompetenznetz inhaltlich. Die Projektlaufzeit ist von September 2019 bis August 2022 (NKI-Förderkennzeichen: 03KF0101). Bild 2: Kommunen im-Kompetenznetz Klima Mobil Quelle: NVBW