Internationales Verkehrswesen
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expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2021-0073
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Platz statt Kreuzung
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Julia Jarass
Antonia Nähring
Shari Merzoug
Sophia Becker
Katharina Götting
Anke Kläver
Alexander Czeh
Insbesondere in Städten ist der öffentliche Raum eine knappe Ressource, die durch unterschiedliche Nutzungen beansprucht wird. Daher stellt sich die Frage, wie der öffentliche Raum umgestaltet und
neuverteilt werden kann, um möglichst vielen Stadtbewohner:innen zugute zu kommen und aktive Mobilität zu fördern. Mit dieser Frage hat sich das DLR Institut für Verkehrsforschung im Rahmen der transdiszi-
plinären Forschungsgruppe EXPERI – Die Verkehrswende als sozial-ökologisches Realexperiment (TU Berlin, IASS, DLR) – auseinandergesetzt und ein fünfwöchiges Realexperiment in Berlin-Charlottenburg
mithilfe von partizipativen Formaten sowie qualitativen und quantitativen Methoden begleitet.
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Internationales Verkehrswesen (73) 4 | 2021 18 INFRASTRUKTUR Raumnutzung Platz statt Kreuzung Straßenraum neu denken: Mehr Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum als Treiber für die Verkehrswende Fußverkehr, Realexperiment, Verkehrswende, Transformationsprozess, Öffentlicher Raum, Aufenthaltsqualität Insbesondere in Städten ist der öffentliche Raum eine knappe Ressource, die durch unterschiedliche Nutzungen beansprucht wird. Daher stellt sich die Frage, wie der öffentliche Raum umgestaltet und neuverteilt werden kann, um möglichst vielen Stadtbewohner: innen zugute zu kommen und aktive Mobilität zu fördern. Mit dieser Frage hat sich das DLR Institut für Verkehrsforschung im Rahmen der transdisziplinären Forschungsgruppe EXPERI - Die Verkehrswende als sozial-ökologisches Realexperiment (TU Berlin, IASS, DLR) - auseinandergesetzt und ein fünfwöchiges Realexperiment in Berlin-Charlottenburg mithilfe von partizipativen Formaten sowie qualitativen und quantitativen Methoden begleitet. Julia Jarass, Antonia Nähring, Shari Merzoug, Sophia Becker, Katharina Götting, Anke Kläver, Alexander Czeh D ie Verkehrswende braucht neben einem klaren politischen Fahrplan auch ein Klima der Experimentierfreudigkeit für die Erprobung von neuen Praktiken, Organisationsformen und Aneignungsprozessen. Reallabore leisten dazu einen wichtigen Beitrag [1]. Die Verteilung und Nutzung des öffentlichen Raums spielt für die Verkehrswende eine wesentliche Rolle. Je nachdem, welche Infrastrukturen vorhanden sind und ausgebaut werden, hat dies auch einen entscheidenden Einfluss auf die künftigen Mobilitätsoptionen und damit auf das Mobilitätsverhalten. Aktuell steht der Großteil des Straßenraums dem motorisierten Individualverkehr (MIV) zur Verfügung, dies spiegelt sich jedoch nicht unbedingt im Modal Split wider (z. B. SenUVK 2018 [2], Stößenreuther 2014 [3]). Obwohl der PKW-Besitz in urbanen Räumen vergleichsweise niedrig ist, dominieren PKW an vielen Orten das innerstädtische Straßenbild. Im Sinne einer sozial-ökologischen Verkehrswende müssen die aktuelle Flächenverteilung überdacht und alternative Nutzungsmöglichkeiten für den öffentlichen Raum aufgezeigt werden. Mithilfe von Realexperimenten kann der öffentliche Raum für einen temporären Zeitraum umverteilt und umgestaltet werden. Inwiefern eine solche Umverteilung des öffentlichen Raums (partizipativ) angenommen wird und welche Effekte sich für die Mobilität ergeben, wird im Folgenden am Beispiel eines Realexperiments in Berlin-Charlottenburg beleuchtet, bei dem für fünf Wochen eine Kreuzung zu einem Stadtplatz umgestaltet wurde. Realexperimente im Rahmen der transdisziplinären Forschung Das Reallabor ist ein Format der transdisziplinären Forschung, das durch eine systemische, prozessorientierte Vorgehensweise charakterisiert ist, lokale Partnerakteure einbindet und einen spezifischen räumlichen Fokus hat. Oftmals werden innerhalb eines Reallabors mehrere einzelne Realexperimente durchgeführt. Dabei können alle drei Wissensformen der transdisziplinären Forschungsarbeit [4] generiert werden: Systemwissen über die messbaren Effekte einer experimentellen Maßnahme, z. B. in Form von Verkehrszählungen; Orientierungswissen über die erwünschten Zukünfte, z. B. in Form von partizipativ entwickelten Visionen und Ideen für eine dauerhafte Umgestaltung eines Stadtplatzes; Transformationswissen darüber, wie die einzelnen Teilprozesse der Verkehrswende konkret und im Detail umgesetzt werden können, z. B. in Form von kollaborativer Gestaltung und Wissensintegration mit den Praxisakteuren aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft vor Ort. Bei Realexperimenten sollte verschiedenen Raumdimensionen und ihren Wechselwirkungen besondere Beachtung geschenkt werden. Von Wirth und Levin-Keitel unterscheiden hierbei die materiell-physische, die handlungsbezogen-prozedurale, die regulativ-institutionalisierte und die kulturell-symbolische Raumdimension lokaler Nachhaltigkeitsexperimente [5]. Insgesamt ermöglicht das Format des Realexperiments die Erarbeitung von sozial robustem Wissen, das sowohl praktisches als auch wissenschaftliches Wissen integriert (Co-Produktion) [6]. Damit kann das Realexperiment als transformative Forschung verstanden werden [7]. Es leistet einen signifikanten Beitrag zum Erkenntnisfortschritt in Hinblick auf die Implementierung und Gestaltung der Verkehrswende. Realexperimente bieten zahlreiche Vorteile. Dazu zählt, dass Umgestaltungsideen und potenzielle Veränderungen von Technik oder Raum praktisch erfahrbar werden. Dadurch können negative Vorstellungen, Sorgen und Befürchtungen bei den Anwohner: innen und Beteiligten reduziert werden. Die Meinungen von Einwohnerschaft und politischen Akteuren oder der kommunalen Verwaltung werden sichtbar, weil sie sich auf eine erlebbare neue Situation oder Flächenkonfiguration beziehen, anstatt auf konzeptionelle und theoretisch denkbare Szenarien. So treten auch die Konstellationen, Interessen und Dynamiken der relevanten Akteure vor Ort zu Tage. Insbesondere die regulatorischen Rahmenbedingungen und deren mögliche Adaptation werden nicht mehr als selbstverständlich und unveränderlich angesehen, sondern zum Gegenstand der Debatte. Mögliche Hindernisse für eine flächendeckende Umsetzung der experimentellen Rekonfiguration des Raums werden offenbart und thematisiert. Dies ist die Grundlage für eine Erarbeitung von Lösungsstrategien zur Überwindung dieser Hindernisse im Sinne einer sozial-ökologischen Verkehrswende. Die Methode des Realexperiments birgt jedoch auch Risiken in sich. Im Gegensatz zum klassischen Labor-Experiment, in dem die Wissenschaftler: innen alle Variablen Internationales Verkehrswesen (73) 4 | 2021 19 Raumnutzung INFRASTRUKTUR kontrollieren und gezielt konfigurieren können, ist das Verhalten der beteiligten Akteure in einem Realexperiment nur sehr begrenzt steuerbar. Dies gilt ebenso für den Verlauf und die spezifische zeitlich-räumliche Ausgestaltung des Realexperiments selbst. Für die temporäre Umgestaltung eines Stadtplatzes ist sowohl das Einverständnis der zuständigen Verwaltung als auch der Wille der politischen Entscheidungsträger vor Ort notwendig. Dies erfordert intensive Kommunikation und Abstimmungsprozesse zwischen diesen Akteuren und dem Forschungsteam. In der Regel ist das Forschungsteam maßgeblich verantwortlich für die kollaborative Prozessgestaltung, auch wenn der starke Einfluss der nichtwissenschaftlichen Akteure gewünscht und im Sinne eines Co-Designs wichtiger Bestandteil des transdisziplinären Prozesses ist [8]. Diese Dynamik des Prozesses bringt es mit sich, dass Realexperimente nicht für konfirmatorische Forschungsdesigns geeignet sind, sondern ein exploratives Forschungsformat sind, das von den Wissenschaftlern große Flexibilität und kurzfristiges Reaktionsvermögen verlangt. Methodisches Vorgehen: Eine Kreuzung wird zum Stadtplatz Von Ende September bis Ende Oktober 2021 wurde die Kreuzung Horstweg/ Wundtstraße in Berlin-Charlottenburg für fünf Wochen zu einem Stadtplatz. Hierfür hat das DLR Institut für Verkehrsforschung eine Anordnung nach § 45 StVO der Straßenverkehrsbehörde erhalten. Da die Anordnung kurzfristig ausgestellt wurde, konnten Anwohner: innen erst wenige Tage vor Beginn des Realexperiments anhand einer Postwurfsendung und einem Projektplakat auf der Kreuzung informiert werden. Mit einem partizipativen Plakat wurden die Anwohner: innen aufgefordert, ihre Gestaltungsideen einzubringen (Bild 2). Die Bespielung des Stadtplatzes basierte überwiegend auf partizipativen Formaten: Durch gemeinsame Gestaltungsaktivitäten und Diskussionsrunden wurde die Nachbarschaft angeregt, eigene Ideen zu äußern und umzusetzen. Gemeinsam mit der Nachbarschaft wurden beispielsweise Baumscheiben begrünt, Platzmöbel gebaut sowie eine Musik- und Kulturveranstaltung, ein Flohmarkt und ein Abschlussfest durchgeführt. Wöchentliche Updates über Veranstaltungen wurden an den Haustüren und an zentralen Stellen im Viertel ausgehängt. Bei spontanen Treffen, offenen Versammlungen mit Kindern und Erwachsenen sowie einer Diskussionsrunde mit dem Bezirksstadtrat kam es zudem zum Meinungsaustausch über den Stadtplatz. Ein Schwarzes Brett spielte für den Meinungsaustausch eine zentrale Rolle. Zum Teil wurde hier deutlich, wie emotional die Diskussion um die Umgestaltung des öffentlichen Straßenraums geführt wurde. Die Evaluierung dieser temporären Transformation des Straßenraums wurde durch zwei quantitative Haushaltsbefragungen, eine Passanten-Befragung sowie eine Verkehrszählung durchgeführt, deren Ergebnisse im Folgenden vorgestellt werden. Verkehrszählung Vor, nach und während der temporären Umgestaltung zum Stadtplatz wurde jeweils eine halbe Stunde an jeweils drei unterschiedlichen Tagen unter der Woche zu drei unterschiedlichen Zeiten (morgens, mittags, abends) der Verkehr an der Kreuzung gezählt. In Bild 3 sind die Ergebnisse für den Fußverkehr dargestellt. Hier zeigt sich, dass die Straße während des Realexperiments die am stärksten genutzte Wegroute der Fußgänger: innen darstellt: 40 % nutzten die Bild 1: Kreuzung Horstweg/ Wundtstraße vor und während des Realexperiments Quelle: Stadtplatzinitiative (links), Bauer (rechts) Bild 2: Partizipatives Format für mögliche Gestaltungslemente (links); Graphic Recording einer Diskussionsrunde am temporären Stadtplatz (rechts) Quelle: DLR / Christoph Kunst 2020 Internationales Verkehrswesen (73) 4 | 2021 20 INFRASTRUKTUR Raumnutzung Straße (Z2) zur Fortbewegung. Außerhalb des Projektzeitraums stellte die Hauptroute der Fußgänger: innen der Weg über den Dreiecksplatz (Z1) dar (37 %). Interessant ist zudem, dass deutlich mehr Personen während des Realexperiments auch außerhalb von Aktivitäten auf dem Platz verweilt haben, was an den zusätzlichen Sitzmöglichkeiten während des Projekts gelegen haben könnte. Bei den Verkehrszählungen am Nachmittag (während des Projekts) haben 17 % der Passanten kurzzeitig auf dem Stadtplatz verweilt. Passantenbefragung Während der Aktivitäten am Stadtplatz (z. B. Flohmarkt, Diskussionsrunden) wurden 91 Passant: innen zu ihrer Meinung und Nutzung des Stadtplatzes befragt, wovon der Großteil aus der Nachbarschaft kommt (Umkreis von 1 km). Die Passantenbefragung ergab ein positives Bild vom Stadtplatz. Trotz einer PKW- Besitzquote von über 50 % sahen 85 % der Befragten das Konzept des Stadtplatzes positiv, lediglich 4 % bekundeten eine negative Meinung zum Stadtplatz. Dementsprechend sprachen sich auch 79 % der Passant: innen für die Verstetigung des Stadtplatzes aus, weitere 16 % hatten eine neutrale oder ambivalente Einstellung und 5 % stellten sich klar gegen die Verstetigung. Zusätzlich wurde auch nach dem konkreten Erleben des Stadtplatzes gefragt. Die Gründe für den Aufenthalt auf dem Stadtplatz sind heterogen: je etwa 20 % der Befragten besuchten den Stadtplatz, um an Aktivitäten und Veranstaltungen teilzunehmen oder um die Diskussion am Schwarzen Brett zu verfolgen. Jeweils 10 bis 15 % gaben als Grund den Austausch mit Nachbar: innen und Bekannten und den Aufenthalt zur Entspannung sowie zum Spielen für Kinder an. Etwa 12 % der Passant: innen gaben an, den Stadtplatz nicht gezielt aufgesucht zu haben. Unabhängig vom Aufenthaltsgrund berichtete gut ein Drittel der Passant: innen, durch den Stadtplatz mit Nachbar: innen ins Gespräch gekommen zu sein. Haushaltsbefragung Insgesamt wurden 1.763 Haushalte in den umliegenden Straßen gebeten, an der schriftlichen Haushaltsbefragung teilzunehmen. In der ersten Befragung zu Beginn des Projektes haben 204 Personen teilgenommen, bei der zweiten Welle nach dem Projekt 263 Personen (Rücklaufquote 12 % bzw. 15 %). Im Folgenden werden die Ergebnisse der zweiten Befragung vorgestellt. Meinung zum temporären Stadtplatz und zur Nutzung des öffentlichen Raums Bei der Frage nach der Meinung zum temporären Stadtplatz haben sich etwa gleich viele Personen für bzw. gegen den Stadtplatz ausgesprochen (Bild 4). Ist mindestens ein PKW im Haushalt verfügbar, fällt die Meinung zum temporären Stadtplatz weniger positiv aus, als bei den Haushalten ohne eigenen PKW. Knapp die Hälfte der Befragten mit PKW im Haushalt sehen den Stadtplatz positiv bzw. neutral. Je älter die Befragten sind, desto stärker nimmt die positive Meinung über den Stadtplatz ab. In der Altersgruppe der 18 bis 29-Jährigen bewerten mehr als zwei Drittel den Stadtplatz positiv, wohingegen in der Altersgruppe der 75-Jährigen und Älteren weniger als ein Drittel eine positive Meinung hat. Ein Vergleich mit der Altersstruktur im statisti- Bild 3: Verkehrszählung der Fußgänger: innen vor, nach und während des Realexperiments Darstellung: Nähring 2021, Daten: DLR 2020 n=252 60 34 17 13 19 53 kein Pkw mind. 1 Pkw Einstellung nach Pkw im Haushalt 42% 13% 43% 2% Einstellung zum temporären Stadtplatz positiv neutral negativ weiß nicht 68% 53% 49% 42% 34% 31% 9% 5% 16% 15% 17% 12% 18% 42% 36% 42% 47% 54% 18 bis 29 Jahre 30 bis 39 Jahre 40 bis 49 Jahre 50 bis 64 Jahre 65 bis 74 Jahre 75 Jahre und älter Einstellung nach Altersgruppen positiv neutral negativ weiß nicht n=233 n=241 42% 39% 60% 17% 18% 6% 37% 42% 34% 1-Personen-HH Paar-HH Familien Einstellung nach Haushaltstyp n=205 Bild 4: Bewertung des Stadtplatzes sowie Einstellung nach Haushaltstyp, PKW-Besitz und Altersgruppen Darstellung: Nähring 2021, Daten: DLR 2020 Bild 5: Überdachtes Schwarzes Brett zum Austausch von Meinungen, Veranstaltungsankündigungen und Anregungen (links) und Kultur-Samstag mit Musik aus dem Kiez (rechts) Quelle: Nähring/ Andermatt 2020 Internationales Verkehrswesen (73) 4 | 2021 21 Raumnutzung INFRASTRUKTUR schen Planungsraum zeigt, dass jüngere Altersgruppen in der Befragung unterrepräsentiert sind und demnach die Einstellung zum Stadtplatz zugunsten älterer Personen etwas verzerrt ist. Die Befragten sind sich (in der Theorie) relativ einig, dass Fußgänger: innen bei einer Neuaufteilung des öffentlichen Raums am meisten Platz erhalten sollten. 79 % wollten dem Fußverkehr am meisten Platz zugestehen, was sich beispielsweise mit einer Umfrage des ADAC deckt [9]. Somit liegt eine Diskrepanz bei den Einstellungen vor, inwiefern grundsätzlich der öffentliche Raum aufgeteilt werden sollte und inwiefern die Personen zur tatsächlichen Umsetzung im Fall eines Realexperiments stehen. Nutzung des Stadtplatzes und veränderte Bedeutung Während ein knappes Drittel der Befragten den Stadtplatz nicht genutzt hat, wurde von Nutzer: innen die Diskussion auf dem Schwarzen Brett sehr häufig verfolgt, in Austausch mit der Nachbarschaft getreten und häufig an Veranstaltungen auf dem Stadtplatz teilgenommen (z. B. Flohmarkt, Kultur-Samstag, offene Diskussionsrunden, siehe Bild 5). Hierdurch hat sich womöglich auch der Eindruck des Stadtplatzes verändert. Vor der Durchführung der Kreuzungsumgestaltung wurde der kleine Dreiecksplatz auf der Kreuzung in erster Linie als Transitraum verstanden. Nach der temporären Umgestaltung sehen mehr Personen die Fläche als Ort der Zusammenkunft/ Nachbarschaft und als Wohlfühlort. Bei der Frage nach Effekten des Stadtplatzes auf das Umfeld hat sich nach der Meinung der Befragten die Situation rund um den Autoverkehr - also Parkplatzsuche, die Bedingungen für den Autoverkehr sowie der Verkehr in angrenzenden Straßen - verschlechtert (Bild 6). Deutlich verbessert haben sich die Aufenthaltsqualität, die Nutzung des öffentlichen Raums, die Situation für Kinder/ Familien, die Bedingungen für den Fußverkehr, die Verkehrssicherheit und die Querung des Platzes. In Bezug auf das Thema Lärm lässt sich feststellen, dass der Verkehrslärm durch den temporären Stadtplatz abgenommen hat, während sich der Freizeitlärm erhöht hat. Alternative Parkmöglichkeiten und Mobilitätsangebote Für den Wegfall der Parkplätze während des Realexperiments wurden 20 Parkplätze auf einem etwa acht Gehminuten entfernten Supermarkt-Parkplatz zur Verfügung gestellt, wo Anwohner: innen nach vorheriger Anmeldung kostenlos und zeitlich unbegrenzt parken konnten. Allerdings ist der Parkplatz durch eine Schranke in den Nachtstunden zwischen 22: 30 und 5: 30 Uhr sowie an Sonn- und Feiertagen nicht zugänglich. In dieser Zeit konnte das Fahrzeug auf dem Parkplatz stehen bleiben, allerdings war keine Ein- und Ausfahrt möglich. Das Angebot wurde zunächst an 200 Personen verteilt, die in unmittelbarer Nähe des Stadtplatzes wohnen. Da allerdings nur neun Personen das Angebot angenommen hatten, wurde es später am Schwarzen Brett veröffentlicht. Obwohl die Hälfte der Befragten von dem Angebot des alternativen Parkplatzes auf dem Supermarktgelände wussten, hatten sich auch nach der Veröffentlichung am Schwarzen Brett insgesamt nur neun Personen für die Nutzung entschieden. Etwas mehr als ein Drittel der Befragten gab an, dass sie die Parkmöglichkeit genutzt hätten, sofern sie davon gewusst hätten. Die Gründe für die Nicht-Nutzung der alternativen Parkmöglichkeit sind insbesondere die Schließzeiten (29 %) sowie der Transport von großen und schweren Gegenständen bei acht Minuten Gehwegentfernung (24 %). Für 12 % der Befragten waren acht Gehminuten umständlich bzw. ein zu großer Zeitverlust (9 %) oder aufgrund von Mobilitätseinschränkungen zu weit (4 %) (Bild-7). Da alternative Mobilitätsangebote das Potenzial haben, die private PKW-Nutzung zu reduzieren, wurde nach der Nutzung einer Mobilitätsstation mit neuen Mobilitätsangeboten (Carsharing, E-Roller, E- Tretroller, Bikesharing und Lastenrad) und der Ersetzung von privaten PKW-Wegen durch die Angebote gefragt. 23 % der Befragten gaben an, dass sie ein Lastenrad nutzen würden, 14 % Carsharing, E-Roller und E-Tretroller je 5 %. Insgesamt würden 21 % der Befragten mit mindestens einem PKW im Haushalt einen PKW-Weg durch- ein Fahrzeug der Mobilitätsstation ersetzten. Diskussion und Fazit Das Realexperiment hat bestätigt, dass die Verkehrswende und insbesondere die Umverteilung des öffentlichen Raums ein emotional geführtes Thema ist. Die Meinung der Anwohnerschaft zur neuen Nutzung des öffentlichen Raums ist etwa zu gleichen Teilen sowohl positiv als auch negativ, wobei insbesondere ältere Menschen das Realexperiment kritisch bewerten. Hierzu ist weitere Forschung notwendig, um die Gründe für die Sichtweise älterer Menschen zu verstehen und gleichzeitig die Bedürfnisse älterer Menschen aufzuzeigen, um im Rahmen einer intergenerationalen Stadtentwicklung Räume zu schaffen, die für eine Vielfalt an Menschen nutzbar sind. Anwohner: innen haben das Gefühl, dass sich durch das Realexperiment die Bedingungen für den Autoverkehr verschlechtert haben und sich Faktoren rund um die Aufenthaltsqualität, Situation für Kinder/ Familien, die Bedingungen für den Fußverkehr, die Verkehrssicherheit und die Querung des Platzes verbessert haben. Zudem wird der Ort während des Realexperiments eher als Ort der Zusammenkunft und Nachbarschaft statt als Transitraum verstanden. Insgesamt zeigt sich, dass - wie bei anderen Umgestaltungen im öffentlichen Raum (z. B. Fußgängerzone am Lausitzer Platz) - die wegfallenden Parkplätze sowie das Thema Lärm die hauptsächlichen Sorgen der direkten Anwohnerschaft sind, die innovative Lösungen im Rahmen der Umgestaltung des öffentlichen Raums verlangen. Fragt man Passanten, fällt die Meinung zum Realexperiment sehr positiv aus. Dies unterstreicht, dass der öffentliche Raum nochmal eine andere Bedeutung einnimmt, wenn er direkt vor der eigenen Haustür ist. n=204-230 52% 8% 35% 58% 50% 55% 47% 56% 61% 31% 1% 0% 6% 44% 22% 22% 70% 40% 44% 26% 29% 39% 18% 18% 19% 20% 16% 22% 24% 8% 14% 21% 37% 14% 14% 15% 20% 16% 18% 50% 4% 13% 31% 20% 8% 17% 15% 40% 84% 73% 56% 2% 31% 35% 4% 21% 29% 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Verkehrslärm Freizeitlärm Luftqualität Aufenthaltsqualität Querung d. Platzes Verkehrssicherheit Schulwegsicherheit Nutzung d. öffentlichen Raums Bedingungen Fußverkehr Bedingungen Radverkehr Bedingungen Autoverkehr Finden eines Parkplatzes Verkehr in angrenz. Straßen Nachbarschaftliche Kontakte Situation für Mobilitätseingeschränkte Situation für Gewerbetreibende Situation für Kinder/ Familien Situation für Ältere Ästhetische Gestaltung Verbesserung Gleichbleibend Verschlechterung weiß nicht TOP 1 TOP 3 TOP 2 Bild 6: Effekte der Umgestaltung Darstellung: Jarass 2021, Daten: DLR 2020 Internationales Verkehrswesen (73) 4 | 2021 22 INFRASTRUKTUR Raumnutzung Erkenntnisse für die Forschung Neutralität der Forschung: Da das DLR Institut für Verkehrsforschung einerseits das Realexperiment konzipiert und durchgeführt hat und dieselben Wissenschaftler: innen andererseits das Realexperiment wissenschaftlich evaluiert haben, kam der Vorwurf auf, dass die Datenerhebung normativ und verzerrt wäre. Auch die Haushaltsbefragung oder andere partizipative Formate wurden zum Teil als „politisches Abstimmungsformat“ für oder gegen den Stadtplatz verstanden bzw. genutzt. Im Kontext der transdisziplinären Forschung besteht demnach die Herausforderung, zu verdeutlichen, dass die Forschung neutral und ergebnisoffen ist, auch wenn ein normativer Zielzustand gesetzt ist: Die Verkehrswende ist der „von der Politik durch das Berliner Mobilitätsgesetz vorgegebene Zielzustand [10]“, wie wir dorthin kommen, wird ergebnisoffen untersucht. Partizipativer Prozess: Fünf Wochen haben sich als eine gute Zeitspanne erwiesen, um die Umgestaltung an unterschiedlichen Tagen, zu unterschiedlichen Zeiten und bei unterschiedlichen Witterungszuständen zu testen und erlebbar zu machen. Es hat rund zwei Wochen gedauert, bis sich die Anwohner: innen aktiv ausgetauscht und in die Gestaltung selbst eingebracht haben. Um partizipative Prozesse zu ermöglichen, braucht es Zeit und personelle Ressourcen, um bei den Anwohner: innen eine „Do it yourself“-Mentalität zu entwickeln, bei der eigene Ideen entwickelt und sich auch bei organisatorischen Aufgaben, wie etwa dem Auf- und Abschließen von Mobiliar, Rausstellen der Spielekiste etc. mit eingebracht wird. Schnittstelle der Akteure: Der Prozess des Realexperiments hat auch gezeigt, dass die Co-Kreation zwischen Verwaltung, Forschung sowie Zivilgesellschaft viel Zeit und personelle Ressourcen benötigt und Unsicherheiten bezüglich der grundsätzlichen Durchführung des Realexperiments vorliegen. Hier bestehen insbesondere hinsichtlich der administrativen Genehmigung Abhängigkeiten, auf die spontan reagiert werden muss. Befragung vs. tatsächliche Nutzung: Die Ergebnisse von Befragungen und die tatsächliche Nutzung während des Realexperiments gehen auseinander. So zeigt sich bei dem Angebot von alternativen Parkmöglichkeiten, dass zwar die Hälfte der Befragten von dieser Möglichkeit wusste, jedoch nur neun Personen das Angebot genutzt haben. Etwas mehr als ein Drittel der Befragten - die nicht davon wussten - gab an, dass sie die Parkmöglichkeit genutzt hätten, sofern sie davon gewusst hätten. Diese Diskrepanz verdeutlicht, wie wichtig es ist, transformative Forschung im Kontext von Realexperimenten zu ermöglichen, um robuste und realitätsnahe Erkenntnisse zu generieren. ■ LITERATUR [1] McCrory, G.; Schäpke, N.; Holmén, J.; Holmberg, J. (2020): Sustainability-oriented labs in real-world contexts: An exploratory review. In: Journal of Cleaner Production 277 (3-4), S. 123202. DOI: 10.1016/ j. jclepro.2020.123202 [2] Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz (SenUVK) (2018): Mobilität in Städten - System repräsentativer Verkehrsbefragungen (SrV) 2018 - Mobilitätsdaten für Berlin auch bezirksweise. www.berlin.de/ sen/ uvk/ verkehr/ verkehrsdaten/ zahlen-undfakten/ mobilitaet-in-staedten-srv-2018/ [3] Stößenreuther, H. (2014): Wem gehört die Stadt? Der Flächen-Gerechtigkeits-Report. Hrsg.: Agentur für clevere Städte. www.clevere-staedte.de/ files/ tao/ img/ blog-news/ dokumente/ 2014-08-05_ Flaechen-Gerechtigkeits-Report.pdf [4] Pohl, C.; Hirsch Hadorn, G. (2007): Principles for designing transdisciplinary research. Munich: oekom verlag. http: / / deposit.d-nb.de/ cgi-bin/ dokserv? id=2870490&prov=M&dok_var=1&dok_ext=htm [5] Wirth, T. von; Levin-Keitel, M. (2020): Lokale Nachhaltigkeitsexperimente als raumwirksame Interventionen: Theoretische Grundlagen und Handlungskonzepte. In: GAIA - Ecological Perspectives for Science and Society 29 (2), S. 98-105. DOI: 10.14512/ gaia.29.2.7 [6] Rose, M.; Wanner, M.; Hilger, A. (2019): Das Reallabor als Forschungsprozess und -infrastruktur für nachhaltige Entwicklung. Unter Mitarbeit von Deffner, J.; Führ, M.; Kleinhauer, S.; Schenten, J.. Wuppertal: Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie gGmbH. Wuppertal [7] Stelzer, F.; Becker, S.; Timm, J.; Adomßent, M.; Simon, K.-H.; Schneidewind, U., et al. (2018): Ziele, Strukturen, Wirkungen transformativer Forschung. In: GAIA - Ecological Perspectives for Science and Society 27 (4), S. 405-408. DOI: 10.14512/ gaia.27.4.19 [8] Beecroft, R.; Trenks, H.; Rhodius, R.; Benighaus, C.; Parodi, O. (2018): Reallabore als Rahmen transformativer und transdisziplinärer Forschung: Ziele und Designprinzipien. Hrsg.: Defila, R.; Di Giulio, A.. Wiesbaden, Germany [9] ADAC 2020: ADAC Umfrage zum Verkehr: Reicht der Platz für alle? www.adac.de/ verkehr/ standpunkte-studien/ mobilitaets-trends/ umfrage-flaechenkonkurrenz-verkehr/ [10] Becker, S.; Sterz, A. (2021): Drei Jahre Berliner Mobilitätsgesetz. Wie der institutionelle Umbau die Berliner Verwaltung handlungsfähig für die Umsetzung macht. In: Internationales Verkehrswesen 73 (3), S. 10-16. Antonia Nähring Stud. Mitarbeiterin, Nachhaltige Mobilität und transdisziplinäre Forschungsmethoden, Institut für Berufliche Bildung und Arbeitslehre, Technische Universität Berlin antonia.naehring@dlr.de Shari Merzoug Stud. Mitarbeiterin, Mobilität und Urbane Entwicklung, Institut für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR), Berlin-Adlershof shari.merzoug@dlr.de Julia Jarass, Dr. Wiss. Mitarbeiterin, Mobilität und Urbane Entwicklung, Institut für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR), Berlin-Adlershof julia.jarass@dlr.de Katharina Götting Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS), Potsdam katharina.goetting@iass-potsdam.de Anke Kläver Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS), Potsdam anke.klaever@iass-potsdam.de Sophia Becker, Prof. Dr. Leiterin des Fachgebiets Nachhaltige Mobilität und transdisziplinäre Forschungsmethoden, Technische Universität Berlin; Forschungsgruppenleiterin am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) Potsdam sophia.becker@tu-berlin.de Alexander Czeh Wiss. Mitarbeiter, Mobilität und Urbane Entwicklung, Institut für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR), Berlin-Adlershof alexander.czeh@dlr.de n=150 n=72 n=212 51% 49% Wussten Sie von den alternativen Parkmöglichkeiten? Nein Ja 64% 36% Hätten Sie das Angebot genutzt? Nein Ja 9% 12% 24% 4% 29% 7% Ich verliere zu viel Zeit, wenn ich 8 Minuten vom Parkplatz nach Hause gehe. Ich finde es umständlich, noch 8 Minuten vom Parkplatz nach Hause zu gehen. Transport von großen/ schweren Gegenständen daher nicht möglich 8 Minuten vom Parkplatz… Mobilitätseinschränkung, daher keine 8 Minuten vom Parkplatz nach Hause zu gehen Wegen Schließzeiten der Schranke keine Nutzung möglich. Sonstiges Gründe für Nicht-Nutzung Dauert länger als 8 Gehminuten Bild 7: Alternative Parkmöglichkeiten und Gründe der Nicht-Nutzung Darstellung: Jarass 2021, Daten: DLR 2020
