eJournals Internationales Verkehrswesen 73/4

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2021-0074
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2021
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Siedlungsentwicklung neu denken!

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Sebastian Clausen
Malte Gartzke
In der Stadtregion Hamburg werden Teile der Siedlungsentwicklung unabhängig vom bestehenden Angebot durch den öffentlichen Verkehr (ÖV) entwickelt. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie zeigen jetzt schon einen Trend zur weiteren Suburbanisierung auf, der allen Prämissen für eine nachhaltige und resiliente Entwicklung einer Stadtregion entgegenstehen. Die hochschulübergreifende Masterthesis hat einen neuen Ansatz für die integrierte Betrachtungsweise von Siedlung und ÖV entwickelt, aus denen Leitplanken für eine ÖV-orientierte Siedlungsentwicklung abgeleitet werden können.
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Internationales Verkehrswesen (73) 4 | 2021 23 Stadtplanung INFRASTRUKTUR Siedlungsentwicklung neu-denken! Welchen Beitrag leistet die ÖV-orientierte Siedlungs entwicklung für zukunftsfähige Infrastrukturen? Siedlungsentwicklung, Öffentlicher Verkehr, Stadtregion, Transit-oriented development, Benchmarking In der Stadtregion Hamburg werden Teile der Siedlungsentwicklung unabhängig vom bestehenden Angebot durch den öffentlichen Verkehr (ÖV) entwickelt. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie zeigen jetzt schon einen Trend zur weiteren Suburbanisierung auf, der allen Prämissen für eine nachhaltige und resiliente Entwicklung einer Stadtregion entgegenstehen. Die hochschulübergreifende Masterthesis hat einen neuen Ansatz für die integrierte Betrachtungsweise von Siedlung und ÖV entwickelt, aus denen Leitplanken für eine ÖV-orientierte Siedlungsentwicklung abgeleitet werden können. Sebastian Clausen, Malte Gartzke D ie urbanen Ballungszentren stehen heute oftmals vor dem Verkehrskollaps. Zunehmende Flächenknappheit und Umweltbelastungen, drohende Fahrverbote, steigende Mobilitätsbedürfnisse, fortschreitende Zersiedelung, demografische Veränderungen und vermehrte Pendlerströme sind nur einige der zahlreichen Problematiken [1]. Der öffentliche Verkehr (ÖV) ist neben Fahrradfahren und Zufußgehen hinsichtlich der CO 2 -Produktion und des Flächenverbrauchs das nachhaltigste Fortbewegungsmittel. Inwieweit eine nachhaltige und klimaschonende Mobilität innerhalb einer Stadtregion möglich ist, hängt maßgeblich mit der Siedlungsstruktur sowie den vorhandenen Verknüpfungen mit dem ÖV zusammen. Diese Faktoren tragen maßgeblich dazu bei, welche Wege mit welchem Verkehrsmittel zurückgelegt werden und wie nachhaltig die Mobilität ausgestaltet werden kann. Auf Ursachenforschung Hamburg und sein Umland werden seit vielen Jahren durch ein anhaltend hohes Bevölkerungswachstum geprägt. Der daraus resultierende Beschluss des Hamburger Senats, über 15 Jahre hinweg jedes Jahr mindestens 10.000 Wohnungen auf Hamburger Stadtgebiet zu bauen, stellt Politik, Planer und Stadtgesellschaft vor große Herausforderungen [2]. Die gleichzeitig geforderte Mobilitätswende nimmt die schienengebundenen Verkehrsträger als Rückgrat des ÖPNV in den Fokus, wobei diese heute nicht ausreichend mit den Raumentwicklungen aufeinander abgestimmt werden. Bereits heute wohnen nur 38 % der Hamburger Einwohnenden weniger als 600 m entfernt von einem Bahnhof, der von einer U-Bahn, S- Bahn oder einem Regionalbzw. Fernverkehrszug bedient wird [3]. Somit hat weit über die Hälfte der Bevölkerung keinen adäquaten Zugang zu einem leistungsfähigen, schienengebundenen ÖV. Dieser Anteil ist im Hamburger Umland noch deutlich höher. Die nur losen und selten regulativen Vereinbarungen innerhalb der Metropolregion Hamburg mit ihren 5,3 Mio. Einwohnenden haben bisher kaum länderübergreifende Kooperationen hervorgebracht. In der Bild 1: Untersuchungsgebiet Stadtregion Hamburg Eigene Darstellung auf Grundlage BVM 2020 und BKG 2018 Internationales Verkehrswesen (73) 4 | 2021 24 INFRASTRUKTUR Stadtplanung Stadtregion Hamburg werden Teile der Siedlungsentwicklung unabhängig vom bestehenden Angebot durch den schienengebundenen öffentlichen Verkehr (ÖV) vollzogen. Die OECD fordert in ihrem aktuellen Bericht zur Metropolregion Hamburg, dass die Kompetenzen der Raumplanung in einen regionalen Planungsverband übertragen werden müssten, und begründet diese Empfehlung damit, dass „eine integrierte Wohnungsbau- und Verkehrsplanung sicherzustellen und eine nachhaltigere, ÖPNV orientierte Entwicklung zu fördern“ ist [4]. Integrierte Entwicklung von Siedlung und öffentlichem Verkehr als neues Paradigma Die Entwicklung von Siedlungsraum und Mobilität und deren Infrastrukturen müssen zukünftig wieder verstärkt zusammengedacht werden und ggf. unter Einrichtung wirkungsvoller Instrumente auch über die heutigen administrativen Grenzen hinweg Anwendung finden. Im Rahmen einer hochschulübergreifenden Masterthesis an HCU Hamburg und ETH Zürich ist ein neuer Ansatz für die integrierte Betrachtungsweise von Siedlung und öffentlichem Verkehr am Beispiel der Stadtregion Hamburg (Bild 1) entwickelt worden. Um dorthin zu gelangen, ist es notwendig, im gewählten Betrachtungsraum den Zustand in Hinblick auf eine ÖV-orientierte Siedlungsentwicklung zu erfassen. Insbesondere bei größeren Gebieten bedarf es einer entsprechenden Systematik. Modellhafte Betrachtung der Stadtregion in drei Schritten - Modell zur ÖV-Qualität Das Schweizer Modell der ÖV-Güteklassen bewertet Standorte hinsichtlich ihrer Erschließung mit dem Öffentlichen Verkehr. Mit dem Modell werden somit gut erschlossene Gebiete als potenzielle Entwicklungsschwerpunkte herausgefiltert, die auch Aufschluss über eine mögliche Verkehrserschließung zukünftiger Bauprojekte liefern. Ein wesentlicher Hintergrund für diesen Ansatz ist der sparsame Umgang mit der Ressource Boden und die Ausnutzung der vorhandenen Infrastruktur, so dass die ÖV- Güteklassen auch ein wichtiger Indikator für die Raumplanung in der Schweiz sind. Bei der Klassifizierung erfolgt eine Orientierung am Schweizer ÖV-Güteklassenmodell, da dieses nicht Mindestanforderungen als Maßstab verwendet, sondern hohe Anforderungen an die Qualität formuliert [5] (Bild 2). Notwendige Datengrundlage für die Erstellung des ÖV-Güteklassenmodells sind dabei die Fahrplandaten des öffentlichen Verkehrs. Für die Stadtregion Hamburg kann auf den sogenannten gtfs-Datensatz des Hamburger Verkehrsverbunds (HVV) zurückgegriffen werden. Dadurch liegen von Tages- und Uhrzeit abhängige Informationen sowohl zur Art des angebotenen Verkehrsmittels als auch dessen Abfahrtszeiten an den jeweiligen Haltestellen vor [6] (Bild-3). Aus der Verkehrsmittelgruppe der jeweiligen Haltestelle und der ermittelten durchschnittlichen Taktung ergibt sich somit in einem ersten Schritt die Haltestellenkategorie. Diese wird anhand der römischen Ziffern I bis V beschrieben. Dabei gilt: Je kleiner die Zahl der Haltestellenkategorie, desto höherwertig bzw. dichter sind Verkehrsmittel und Takt. Folglich ist die höchste Einstufung die Haltestellenkategorie I, die niedrigste die Haltestellenkategorie V. Wird eine Haltestelle nur von einer Buslinie bedient, die durchschnittlich seltener als alle 60 min fährt, wird dieser Haltestelle keine Kategorie mehr zugewiesen. Im Weiteren werden die Haltestellenkategorien mit Einzugsbereichen ergänzt. Die Radien der Haltestelleneinzugsbereiche nehmen Bezug auf das ÖV-Güteklassenmodell der Schweiz. Dies erscheint deshalb sinnvoll, da diese Distanzen fußläufig zu bewältigen sind und die damit definierten direkten Haltestellenumfelder mit geringem Aufwand erreicht werden können [7]. Es ergeben sich insgesamt fünf ÖV-Güteklassen zur Bewertung der Erschließungsqualität mit dem öffentlichen Verkehr. Dies ergeben sehr gute (A), gute (B), mittelmäßige (C), geringe (D) und marginale (keine) Erschließungsqualitäten (Bild 4). Das ÖV-Güteklassenmodell ermöglicht eine abstrahierte Aussage zum Angebot des ÖV und dessen Wirkung auf den direkten räumlichen Einzugsbereich. Die Güteklassen eines Haltestellenumfeldes ermöglichen in erster Linie Rückschlüsse auf die Art des Verkehrsmittels sowie den durchschnittli- Bild 2: Drei Kriterien für die Bewertung der ÖV-Qualität Eigene Darstellung Bild 3: Definition und Kategorisierung der ÖV-Güteklassifizierung ARE und eigene Darstellung in Anlehnung an [5, S. 6ff] Internationales Verkehrswesen (73) 4 | 2021 25 Stadtplanung INFRASTRUKTUR chen Takt in einem gewählten Betrachtungszeitraum. Hinsichtlich des Takts kann gesagt werden, je größer die Unterschiede in der Taktung sind, desto stärker fällt die Abweichung gegenüber dem Durchschnittswert aus. Haltestellen, die bspw. nur morgens und abends in einem dichten Takt bedient, tagsüber jedoch nur selten angefahren werden, können im ÖV-Güteklassenmodell nur geringere Güteklassen erreichen. Ebenso können flexible Bedienformen, die insbesondere in dünn besiedelten Gebieten eine wichtige Funktion im ÖV erfüllen, nur sehr eingeschränkt berücksichtigt werden. Je nach Nutzerbedürfnis können eine im Tagesverlauf variierende Taktung oder flexible Bedienformen die Ansprüche bedarfsgerecht erfüllen. In Bezug auf die Taktung zeigen sich die Grenzen des Modells gegenüber der Realität. Durch die Definition der Haltestelleneinzugsbereiche über die Luftliniendistanz bietet sich einerseits die Möglichkeit, das Haltestellenumfeld gleichmäßig in den Fokus zu nehmen. Andererseits vernachlässigt diese Art der Betrachtung das tatsächliche Wegenetz, die Topografie. Diese Aspekte werden im zweiten Modell mit Hilfe von Erreichbarkeiten berücksichtigen. Keine Berücksichtigung finden Aspekte wie Transportkosten, Fahrzeug- oder Streckenkapazitäten, der Zugang zu Infrastrukturen, welcher Rückschlüsse zur Netzqualität ermöglicht, Sauberkeit, Komfort und weitere weiche Faktoren. Modell zur Zugangsqualität Die Zugangsqualität baut auf den Erreichbarkeiten auf, beschränkt sich jedoch nicht auf eine rein deskriptive Position, sondern nimmt auch eine Wertung anhand aus der Wissenschaft abgeleiteter Grenzwerte vor. Der Begriff Zugangsqualität beschreibt insofern, ebenso wie die Erreichbarkeit, den Aufwand, von einem Ort im Raum zu bestimmten Infrastrukturen (und Dienstleistungen) zu gelangen. Der Unterschied besteht darin, dass der Aufwand nicht mit dem Zeitbedarf ausgedrückt, sondern in Qualitäten übertragen wird. Ist der Aufwand niedrig, wird also wenig Zeit benötigt, so ist die Zugangsqualität hoch. Wird umgekehrt viel Aufwand benötigt, somit auch viel Zeit, ist die Zugangsqualität niedrig (Bild 5). Im Allgemeinen besteht die Möglichkeit, die Bewertung der Zugangsqualität getrennt nach den Verkehrsmitteln MIV (Motorisierter Individualverkehr), ÖV, Rad- und Fußverkehr vorzunehmen. Da der Fokus an dieser Stelle auf der ÖV-orientierten Siedlungsentwicklung liegt, wird die Zugangsqualität mit dem MIV zunächst nicht berücksichtigt. Ziel ist es, die Zugangsqualität zu Fuß, mit dem Rad oder dem ÖV in Ab- Bild 4: ÖV-Güteklassifizierung für das ÖV-Bestandsnetz mit Fokus auf die Stadtregion Hamburg Eigene Darstellung auf Grundlage BKG 2018 Bild 5: Zentrale Indikatoren für die Zugänglichkeit zu Infrastrukturen Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (73) 4 | 2021 26 INFRASTRUKTUR Stadtplanung hängigkeit der räumlichen Lage zu beurteilen. In eine separate Auswertung fließen die Zugangsqualitäten mittels MIV ein, um dort Vergleiche zwischen der Erschließungswirkung und den Zugangsqualitäten von Umweltverbund und MIV vornehmen zu können. Trotz einer differenzierten Betrachtung der Zugangsqualitäten wird durch die Lage der Schienenachsen im Raum bereits stark determiniert, in welchen Bereichen Qualitäten und ggf. spätere Potenziale liegen können. Die Klassifizierung der Zugangsqualitäten erfolgt in drei Modellstufen. Grundsätzlich wird die Klassifizierung der Zugangsqualitäten anhand der Fahrzeiten der einzelnen Verkehrsmittel zu der jeweils betrachteten Einrichtung oder Dienstleistung vorgenommen. Als Grundlage werden die im Rahmen der Erreichbarkeitsanalysen der Metropolregion Hamburg erhobenen Daten zu Infrastrukturen, dem Wegenetz und den Reisezeiten weiterverwendet [8]. Die Ermittlung der Fahrzeiten beruht nicht auf den reellen Start- und Zielpunkten im Raum, sondern auf den vereinfachten Rasterdaten (100 × 100 m und 500 × 500 m). Durchgeführte Bewertungen beziehen sich somit stets auf eine Rasterzelle, da sie den räumlichen Bezug definiert. Eine Bewertung der Fahrzeiten erfolgt in erster Linie für den Umweltverbund, also gemeinsam für die Verkehrsmittel Fuß, Rad und ÖV. Die erreichten Fahrzeiten werden auf einer Bewertungsskala eingeordnet, welche anhand durchschnittlicher Fahrzeiten aufgebaut ist. Die Bewertungsskala ist auf den jeweiligen Einrichtungs- oder Dienstleistungstyp abgestimmt und wird für eine leichtere Verständlichkeit in die Schulnoten 1 bis 6 übersetzt. Die Anpassung der Bewertungsskalen resultiert daraus, dass beispielsweise für die Zugangsqualität zu einem Supermarkt andere Fahrtzeiten in Kauf genommen werden als für die Zugangsqualität zu einem Oberzentrum. Eine in Summe durchschnittliche Fahrtzeit führt zu einer Bewertung mit der Note 3. An diesem Maßstab orientiert sich der Aufbau der jeweiligen Notenskala. Zunächst werden alle Zugangsqualitäten ausgehend von einer Rasterzelle zu den jeweiligen Einrichtungen und Dienstleistungen einzeln bewertet. Abschließend wird hieraus eine Gesamtbewertung für die Rasterzelle erstellt (Bild 6). Anhand der Auswertung von Reisezeiten können in diesem Modell das reale Straßen- und Wegenetz, das Schienennetz sowie die Topografie berücksichtigt werden. Umgekehrt kann das aber auch bedeuten, dass Defizite im Wegenetz nicht als solche erkennbar sind, sondern zunächst ggf. zu längeren Reisezeiten und einer schlechteren Bewertung führen. Hier deutet sich die Möglichkeit zur ergänzenden Betrachtung mittels der Luftliniendistanz aus dem ÖV-Güteklassenmodell an. Darüber hinaus bezieht das Modell keinerlei Aspekte wie straßenräumliche Qualität oder Nutzerfreundlichkeit von Infrastruktur mit ein, die jedoch oft entscheidend sind, ob Wege zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt werden. Ferner kann die Auswertung der Reisezeiten dafür genutzt werden, die Zugangsqualitäten nach unterschiedlichen Verkehrsmitteln getrennt zu beurteilen. Die Zusammenfassung der Qualitäten in einer Gesamtnote macht räumliche Unterschiede sichtbar. Das abstrahierte Ergebnis lässt jedoch eine Aussage zur exakten Lage einer Infrastruktur nur begrenzt zu, weshalb nicht abschließend bestimmt werden kann, welche Infrastruktur mit ihrer benoteten Zugänglichkeit für einen positiven oder negativen Ausschlag sorgt. Vor allem für Bereiche mit geringen Qualitäten ließe sich somit der Bedarf für eine tiefergehende Überprüfung der infrastrukturellen Ausstattung formulieren (Bild 7). Überlagerung von ÖV- und Zugangsqualität - das Benchmarking Das Benchmarking kombiniert ÖV- und Zugangsqualitäten miteinander, wodurch diese erstmalig räumlich miteinander in Bezug gesetzt werden. Die Verschneidung der beiden Modelle macht in abstrahierter Form eine integrierte Betrachtungsweise von öffentlichem Verkehr und Zugang zu Infrastrukturpunkten möglich. Bei der Verschneidung beider Modelle sei zunächst auf einige Aspekte der Datenverarbeitung hingewiesen. Das ausgewertete ÖV-Güteklassenmodell besteht aus im Raum verteilten Kreisen (Polygonen), hingegen das Modell für Zugänglichkeiten zu Infrastrukturen aus einem flächendeckenden Raster. Als Zielausgabe wird das Rasternetz des Modells für die Zugangsqualität verwendet, da es eine kleinräumige Differenzierung zulässt. Aus den vier unterschiedlichen ÖV- Güteklassen (AD) und den vier Zugangsqualitäten (1 bis 4) ergeben sich 16 verschiede- Bild 6: Schema zur Einordnung der unterschiedlichen Kennziffern zur Zugänglichkeit von Infrastrukturen für die Indikatoren Haltestelle, Bahnhof, Fernbahn, Supermarkt, Mittelzentrum und Oberzentrum Eigene Darstellung auf Grundlage FGSV 2010, S. 8 und BMVI 2018 Tabelle W9, S. 25 Internationales Verkehrswesen (73) 4 | 2021 27 Stadtplanung INFRASTRUKTUR ne Kombinationsmöglichkeiten - A1 bis D4- -, in denen aus beiden Modellen entsprechende Bewertungskriterien erfüllt sind. Anhand der wesentlichen Unterschiede findet eine Bündelung der 16 Kombinationen statt, um eine bessere Handhabung zu ermöglichen. Sie lassen sich inhaltlich in vier Qualitätsstufen zusammenfassen, die jeweils in sich abgestuft sind (Bild 8). Ein wesentlicher Aspekt des Benchmarkings ist die Bewertung von Qualitäten anhand einheitlicher Kriterien in der gesamten Stadtregion. Dies ermöglicht objektive Vergleiche, vernachlässigt aber die Heterogenität des betrachteten Gebiets. Abhilfe könnte dadurch geschaffen werden, den Untersuchungsraum in mehrere, in sich möglichst homogene Gebietstypen zu unterteilen. Des Weiteren kann die auf jeweils eine Haltestelle bezogene Betrachtungsweise des ÖV-Güteklassenmodells in einen besseren räumlichen Kontext übertragen werden. Dies gelingt durch die Verknüpfung mit den Zugangsqualitäten. Potenziale in der Stadtregion Hamburg Der Abgleich des Benchmarkings mit der Einwohnerdichte liefert Potenzialflächen und damit wesentliche Erkenntnisse für eine ÖV-orientierte Siedlungsentwicklung. Es können sowohl Potenzialflächen für die Siedlungsentwicklung als auch für den Ausbau des ÖV-Angebots identifiziert werden. Zudem ist es möglich, die Wirkung von geplanten Maßnahmen des ÖV für die Schaffung von Siedlungspotenzialen zu beurteilen. Dieses erfolgt mit Hilfe der Einwohnerdichte im Hektarraster (100 × 100 m). Daraus lassen sich drei wesentliche Botschaften ableiten (Bilder 9 bis 11): Rote und grüne Gebiete Siedlung ergänzen oder erweitern, da hier der öffentliche Verkehr bereits in hoher Qualität vorhanden ist. Gelbe Gebiete Öffentlichen Verkehr ergänzen oder ausbauen, weil in diesen Bereichen hohe Einwohnerdichten bestehen und die Qualität des öffentlichen Verkehrs meist gering ausfällt oder der ÖV gänzlich fehlt. Blaue Gebiete Siedlungsentwicklung nur noch in Verbindung mit dem Ausbau des ÖV stattfinden lassen. Dies sind die sogenannten „rezeptpflichtigen Bereiche“, die einerseits erst in die Entwicklung kommen sollten, wenn die ‚“roten und grünen“ Potenzialgebiete nahezu ausgeschöpft sind. Andererseits müssen diese Standorte hinsichtlich der verkehrlichen Anbindung und Mobilität besonders programmiert werden, um eine weitere Siedlungsentwicklung zu ermöglichen. Handlungsempfehlungen für die ÖV-orientierte Stadtregion Aus der vorliegenden Arbeit können somit die folgenden, grundsätzlichen Leitplanken für eine nachhaltige, integrierte Siedlungsentwicklung abgeleitet werden. Ab diesem Zeitpunkt wird somit die bisher nahezu ausschließlich analytische und modellhafte Betrachtungsweise verlassen. Siedlung am bestehenden ÖV-Netz weiterentwickeln Zur Einhaltung der Klima- und Flächensparziele sollte die vorhandene Infrastruktur besser ausgenutzt werden. Die Analyse zeigt große Potenziale für die Siedlungsentwicklung am bestehenden ÖV-Netz - insbesondere im Bereich vieler Haltestellenumfelder - auf. Öffentlichen Verkehr zuerst entwickeln Weiterer Grundsatz einer nachhaltigen, ÖV-orientierten Siedlungsentwicklung ist die Herstellung eines angemessenen ÖV- Angebots vor Bezug von Siedlungsflächen. Hierbei sollte ein schienengebundenes Angebot insbesondere bei Entwicklungen mit hoher Einwohner- oder Arbeitsplatzdichte vorgesehen werden. Nachträgliche Ausstattung mit ÖV-Angeboten Die Potenzialabschätzung legt auch dar, welche Siedlungsflächen trotz hoher Einwohnerdichte einen unzureichenden ÖV- Anschluss aufweisen. Diese Gebiete sind bei Bild 7: Klassifizierte Zugangsqualität zu Infrastrukturen mit den drei Indikatoren Haltestelle, Bahnhof und Fernbahn Eigene Darstellung auf Grundlage BKG 2018 Internationales Verkehrswesen (73) 4 | 2021 28 INFRASTRUKTUR Stadtplanung Bild 8: Verschneidung der Güteklassenmodelle zum integrierten Benchmarking von ÖV- und Zugangsqualität Eigene Darstellung Bild 9: Anwendung der Potenzialabschätzung für Siedlungsentwicklung und öffentlichen Verkehr mit Ableitung der drei wesentlichen Handlungsempfehlungen Eigene Darstellung Bild 10: Flächen mit hohem Potenzial aufgrund des sehr guten oder guten Benchmarkings und der geringen Einwohnerdichte in der Stadtregion Hamburg Eigene Darstellung auf Grundlage BKG 2018 Bild 11: Flächen mit hohem Potenzial aufgrund des sehr guten oder guten Benchmarkings und der hohen Einwohnerdichte in der Stadtregion Hamburg Eigene Darstellung auf Grundlage BKG 2018 Internationales Verkehrswesen (73) 4 | 2021 29 Stadtplanung INFRASTRUKTUR den Ausbaumaßnahmen des ÖV zu berücksichtigen, um nachträglich ein besseres ÖV-Angebot zu schaffen und Kfz-Fahrten zu verringern. Die konkrete Umsetzung der Handlungsempfehlungen macht zudem immer weitere Detailbetrachtungen nötig. Welche Nutzungen, wie viele neue Wohneinheiten oder neue Arbeitsplätze realisiert werden können, lässt sich somit nicht pauschal beziffern. Nichtsdestotrotz bilden die Potenzialabschätzungen wichtige Grundlagen, um in weiteren Schritten Einsparpotenziale hinsichtlich des CO 2 -Ausstoßes, des Flächenverbrauchs und der Verkehrsverlagerung vom KFZ auf den Umweltverbund vornehmen zu können. Perspektiven und Übertragbarkeit des Ansatzes Das im Rahmen unserer Abschlussarbeit entstandene Benchmarking lässt sich im Allgemeinen auf andere Gebiete übertragen. Sinnvoll ist die Anwendung insbesondere auf räumliche Zusammenhänge, in denen der ÖV mindestens ein Grundgerüst darstellt. Vor allem Stadt- und Metropolregionen oder einzelne Korridore eines metropolitanen Raums bieten sich für die Übertragung an. Anwender und Nutzer des Benchmarkings sind in erster Linie öffentliche Verwaltungen und politische Entscheidungsträger von Städten und Kommunen, in deren Aufgaben- und Verantwortungsbereich die Steuerung der Siedlungsentwicklung, aber auch die Finanzierung und der Betrieb des öffentlichen Verkehrs liegen. Darüber hinaus können auch Metropolregionen, Regionalverbände und Planungsregionen potenzielle Anwender sein. Mit der integrierten Betrachtungsweise von Siedlung und ÖV können auch räumliche Entwicklungsziele abgeleitet und formuliert werden. Daher kommen auch Landes- oder Bundesministerien als mögliche Nutzer in Frage. Hierüber kann eine Steuerungswirkung in Abhängigkeit einer formellen oder informellen Verankerung der Ziele für die gesamte Stadtregion erreicht werden. Die Bevölkerung in unseren urbanen Zentren will überwiegend die Mobilitätswende. Deren Gelingen ist aber wesentlich von der Umsetzung im direkten Umland einer Stadt abhängig. Diese kann u. a. nur dann erfolgreich sein, wenn der ÖV das wesentliche Rückgrat der Siedlungsentwicklung darstellt. Das Benchmarking und die Potenzialabschätzung können Leitlinien für die Steuerung der künftigen Entwicklung einer Stadtregion bilden. Eine strategische, übergeordnete Steuerung von Siedlungsentwicklung und öffentlichem Verkehr ist für die oben genannte Zielerreichung unabdingbar. Dies macht auch eine Kopplung bestehender oder neuer Förderprogramme an Maßnahmen der integrierten Siedlungsentwicklung erforderlich. So könnte in einem ersten Schritt Einfluss auf die Siedlungstätigkeit in einer Stadtregion genommen werden. Der erarbeitete Ansatz liefert somit wesentliche Erkenntnisse für eine ÖV-orientierte Siedlungsentwicklung und bietet ein Instrument an, das als Grundlage von Entscheidungen im räumlichen Kontext herangezogen werden kann. ■ QUELLEN [1] Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BIB) (2020): Binnenwanderung in Deutschland. www.bib. bund.de/ DE/ Aktuelles/ 2020/ 2020-11-10-Geographische-Rundschau-Binnenwanderungen-in-Deutschland.html (Aufruf am 17.07.21) [2] Freie und Hansestadt Hamburg (FHH) (2021): Bündnis für das Wohnen. www.hamburg.de/ bsw/ buendnisfuer-das-wohnen/ (Aufruf am 17.07.21) [3] Greenpeace e.V. (2017): Städteranking zur nachhaltigen Mobilität. www.greenpeace.de/ sites/ www.greenpeace.de/ files/ publications/ 20170322_greenpeace_mobilitaetsranking_staedte.pdf (Aufruf am 28.06.21) [4] OECD (2019): OECD-Berichte zur Regionalentwicklung: Metropolregion Hamburg, Deutschland. OECD, Paris. http s : / / re a d .o e c d-ilib ra ry.o rg/ u r b a n-r u ra l-a n d-re gi o n a ld eve l o p m e nt/ o e c d-b e ri c hte-z u rregionalentwicklungmetropolregion-hamburg-deutschland_6843d6f0-de#page9 (Aufruf am 24.05.21) [5] Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) (2020) (Hrsg.): ÖV-Güteklassen Berechnungsmethodik ARE. Grundlagenbericht für die Beurteilung der Agglomerationsprogramme Verkehr und Siedlung. URL: www. are.admin.ch/ dam/ are/ de/ dokumente/ verkehr/ oev-gueteklassen-berechnungsmethodikare.pdf.download.pdf/ oev-gueteklassen-berechnungsmethodikare.pdf (Aufruf am 11.07.21) [6] Hamburger Verkehrsverbund (HVV) (2020): gtfs-Datensatz. http: / / transparenz.hamburg.de/ (Aufruf am 25.02.20) [7] Kießling, N. (2016): Nachhaltige ÖV-orientierte Siedlungsentwicklung an Stadtbahntrassen. In: Arbeitspapiere zur Regionalentwicklung. Elektronische Schriftenreihe des Lehrstuhls Regionalentwicklung und Raumordnung, Band 18.Technische Universität Kaiserslautern, Kaiserslautern [8] Metropolregion Hamburg (MRH) (2017) (Hrsg.): Leitprojekt regionale Erreichbarkeitsanalysen. Abschlussbericht und Erreichbarkeitsatlas. MRH, Hamburg Sebastian Clausen, B.Eng. Masterstudiengang Stadtplanung, HafenCity Universität Hamburg; Mitarbeiter ARGUS studio/ ARGUS Stadt und Verkehr, Hamburg sebastian.clausen@urbanexplorer.info Malte Gartzke, B.Sc. Masterstudiengang Stadtplanung, HafenCity Universität Hamburg; Mitarbeiter Landesbetrieb Straßen, Brücken und Gewässer (LSBG), Hamburg malte.gartzke@hcu-hamburg.de Software für die Mobilität von morgen E-Mobilität Personaldisposition, Depot- und Lademanagement für E-Busse aus einer Hand www.psitranscom.de Internationales Verkehrswesen 2021-11-10 102 x139mm unten rechts PSI Transcom.indd 1 Internationales Verkehrswesen 2021-11-10 102 x139mm unten rechts PSI Transcom.indd 1 13.09.2021 15: 39: 35 13.09.2021 15: 39: 35