eJournals Internationales Verkehrswesen 74/1

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2022-0006
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2022
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Der Baum an Landstraßen

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2022
Jean Emmanuel Bakaba
Juliane Martin
Seit 1995 werden Baumunfälle an Landstraßen bundesweit statistisch erfasst. Die Länder haben inzwischen viele Erfahrungen gesammelt und wurden nach ihren Erfahrungen, Hemmnissen und Problemen im Umgang mit diesen schweren Unfällen befragt. Die durchgeführten Gespräche zeigen, dass die Länder unterschiedlich stark betroffen sind. Die Analyse der Wirkungskontrolle von insgesamt 75 untersuchten Maßnahmen zeigt, dass die wirksamsten Maßnahmen zur Reduzierung dieser Unfälle sind: die Überwachung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, das Aufstellen von Fahrzeug-Rückhaltesystemen und das Aufstellen von Beschilderung, die die Linienführung für alle Verkehrsteilnehmende verdeutlicht.
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Internationales Verkehrswesen (74) 1 | 2022 20 INFRASTRUKTUR Wissenschaft Der Baum an Landstraßen Ein Beitrag zur Verbesserung der Verkehrssicherheit Baumunfälle, Ländererlass, Geschwindigkeitsüberwachung, Fahrzeug-Rückhaltesysteme, Geschwindigkeitsbeschränkung Seit 1995 werden Baumunfälle an Landstraßen bundesweit statistisch erfasst. Die Länder haben inzwischen viele Erfahrungen gesammelt und wurden nach ihren Erfahrungen, Hemmnissen und Problemen im Umgang mit diesen schweren Unfällen befragt. Die durchgeführten Gespräche zeigen, dass die Länder unterschiedlich stark betroffen sind. Die Analyse der Wirkungskontrolle von insgesamt 75 untersuchten Maßnahmen zeigt, dass die wirksamsten Maßnahmen zur Reduzierung dieser Unfälle sind: die Überwachung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, das Aufstellen von Fahrzeug-Rückhaltesystemen und das Aufstellen von Beschilderung, die die Linienführung für alle Verkehrsteilnehmende verdeutlicht. Jean Emmanuel Bakaba, Juliane Martin I m Jahr 2019 starben nach der amtlichen Statistik 3.046 Menschen bei Straßenverkehrsunfällen in Deutschland, davon ca. 58 % auf Landstraßen [1]. Unfälle auf Landstraßen sind durch eine besonders hohe Unfallschwere gekennzeichnet. Unfälle mit Aufprall an Bäume (Baumunfälle) werden seit 1995 explizit in der Verkehrsunfallstatistik polizeilich erfasst und in [1] dokumentiert. Seither stellen diese Unfälle mit ihren besonders schweren Verletzungsfolgen ein Problem für die Verkehrssicherheit dar. Dies zeigen die Unfallschwere und die durchschnittlichen Unfallkosten (Bild 1). Einige Bundesländer haben deswegen Programme initiiert, um Baumunfälle auf Bestandsstrecken möglichst zu vermeiden bzw. deren Folgen zu vermindern. Teilweise wurden aber auch Konzepte ausgearbeitet, die bei Neuplanungen zwischen den Belangen aus Verkehrssicherheit und kulturhistorischer Bedeutung von Alleen abwägen. Die Unfallforschung der Versicherer (UDV) hat deshalb eine Studie [2] in Kooperation mit der Technischen Universität Dresden mit dem Ziel initiiert, Sicherheitsprogramme zur Vermeidung von Baumunfällen in den einzelnen Bundesländern systematisch zu erfassen und deren Wirksamkeit zu bewerten bzw. zu evaluieren. Dabei sollten auch Probleme bei der Umsetzung solcher Programme aufgezeigt werden. Methodik Dazu wurde zunächst eine Literaturrecherche zum Baumunfallgeschehen sowie zum Stand und zur praktischen Umsetzung des Regelwerkes (z. B. ESAB [3], RPS [4], M.-Uko [5]) durchgeführt. Hierfür wurden Gespräche mit den Straßenbauverwaltungen von jedem der 13 Flächenländer geführt. Inhalt der Gespräche war die Entwicklung der Verkehrssicherheitsarbeit in Bezug auf Baumunfälle seit der Einführung der Baumunfallstatistik im Jahre 1995 sowie aktuelle und zukünftige Strategien. Aus diesen Gesprächen konnten 75 Maßnahmen aus vier Bundesländern zusammengestellt werden, deren Wirksamkeit durch Vorher/ Nachher-Untersuchungen bewertet wurden. Darüber hinaus wurde eine Potentialabschätzung zur Vermeidung von Baumunfällen anhand einer Datenbank zum Baumbestand am Straßenrand vorgenommen. Bedeutung und Folgen von Baumunfällen im Ländervergleich Ein Vergleich der Baumunfall- und Verunglücktenzahlen sowie deren zeitliche Entwicklung über die letzten 25 Jahre zeigt, dass die Bundesländer unterschiedlich stark von Baumunfällen betroffen waren und sind. Vor allem in den Bundesländern im Norden und Osten des Landes verunglückt ein hoher Anteil der auf Landstraßen Getöteten bei Baumunfällen (Bild 2). Dies hängt zum Teil an der historischen Entwicklung des Straßennetzes und des Baumbestandes sowie an der Siedlungsdichte und den sich daraus ergebenden längeren Fahrweiten. Für einige Bundesländer sind Baumunfälle UKO 108, IG Sonderausgabe Schutzplanke Baum kein Aufprall Unfallschwere [Getötete/ 1.000 U(P)] Mittlere Unfallkosten [1.000 €/ U(P)] Unfallschwere [Getötete/ 1.000 U(P)] Mittlere Unfallkosten [1.000 €/ U(P)] 2019 1995 41 57 114 107 131 215 71 106 136 18 38 64 Bild 1: Unfallschwere und mittlere Unfallkosten nach Aufprallarten für 1995 und 2019 Quelle: UDV 2021 Internationales Verkehrswesen (74) 1 | 2022 21 Wissenschaft INFRASTRUKTUR seit Jahrzehnten das Hauptthema im Landstraßenbereich. Für andere Bundesländer gehören sie einfach neben anderen Sicherheitsproblemen (z. B. Motorrad, Wild) dazu. Die unterschiedlich starke Betroffenheit der Bundesländer spiegelt sich auch im Zeitpunkt des Beginns der intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema „Baumunfälle“ wider. Ob überhaupt Programme gegen Baumunfälle eingeführt wurden, ist durch die jeweilige Betroffenheit geprägt. Doch auch zwischen jenen Bundesländern, die aktiv geworden sind, gibt es große Unterschiede in Aufbau und Inhalt derartiger Programme (Programminitiator, enthaltene Maßnahmen, Wirkungskontrollen). Von geringem Einfluss auf die in den Programmen enthaltenen Maßnahmen ist hingegen, ob die Initiatoren dieser Programme die Straßenbehörden selbst sind oder die jeweiligen Ministerien (Tabelle 1). Bei der Umsetzung der Programme stehen die Straßenbehörden verschiedensten Problemen gegenüber. Dies sind Probleme bei der Nach- und Neupflanzung von Bäumen (u. a. erschwerter Grunderwerb, geeignete Baumstandorte, Baumkrankheiten, Klimawandel), bei der Umsetzung der konkreten Maßnahmen (u. a. Standort- und Systemwahl von Fahrzeug-Rückhaltesystemen (z.B. Schutzplanken), Widerstand gegen Maßnahmen) sowie übergeordnete Aspekte (u. a. Personalkürzungen in den Behörden). Wirksamkeit von Maßnahmen gegen Baumunfälle Im Rahmen des zugrundeliegenden Forschungsprojektes wurde eine Wirkungskontrolle an 75 Maßnahmen durchgeführt. Die Betrachtungszeiträume vor und nach der Umsetzung der Maßnahmen lagen bei drei Jahren. Die Maßnahmen wurden hinsichtlich der Zielsetzungen „Baumunfälle verhindern“ und „Baumunfallfolgen mindern“ bewertet (Tabelle 2). Besonders wirksame Maßnahmen, um Baumunfälle zu verhindern, sind die Überwachung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, das Aufstellen von Fahrzeug- Rückhaltesystemen (z. B. Schutzplanken) und das Aufstellen von Beschilderung, die die Linienführung verdeutlicht. Überholverbote und Änderungen am Baumbestand sind ebenfalls sehr wirksam, allerdings nur auf Grundlage einer geringen Stichprobe. Hier besteht weiterer Forschungsbedarf. Geschwindigkeitsbeschränkungen, das Aufbringen von Fahrstreifenmarkierungen, die die Linienführung verdeutlichen sowie Maßnahmenkombinationen wurden als wirksam eingestuft. Maßnahmen der Deckensanierung und -erneuerung sind hingegen nur bedingt wirksam. Sie sollten von anderen Maßnahmen flankiert werden. Alle untersuchten Maßnahmen zeigten eine Wirksamkeit bezüglich des Ziels „Baumunfallfolgen mindern“. Unterschiedliche Fahrbahnbreiten und Baumabstände zeigten in der Untersuchung keinen Einfluss auf die Wirksamkeit der Maßnahmen. Dies zeigt, dass selbst in schmalen Straßenquerschnitten mit nah am Fahrbahnrand stehenden Bäumen wirksame Maßnahmen umsetzbar sind (z. B. Fahrzeug-Rückhaltesysteme, Geschwindigkeitsbeschränkung und ggf. deren Durchsetzung). Empfehlungen Aus den vorliegenden Ergebnissen lassen sich grundsätzliche Empfehlungen ableiten: •• Zur Verbesserung der Verkehrssicherheit in von Baumunfällen verstärkt betroffenen Streckenabschnitten sind folgende Maßnahmen zu priorisieren: 1. Geschwindigkeitsüberwachung 2. Fahrzeug-Rückhaltesysteme 3. Maßnahmen zur Verdeutlichung der Linienführung durch Beschilderung (z. B. Kurventafeln und -schilder) und Markierung (z. B. Erneuerung, Mittelmarkierung) 4. Herabsetzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit •• Überholverbot, Änderungen am Baumbestand und Kurvenbegradigungen haben sich ebenfalls als sehr wirksam gezeigt, jedoch bei einem jeweils kleinen Streckenkollektiv. •• Deckenerneuerungen zur Vermeidung von Baumunfällen sind nur bedingt wirksam. •• Eine zu späte oder gar keine Umsetzung beschlossener Maßnahmen ist zu vermeiden. Hier bedarf es klarer Vorgaben zum Vorgehen und zu verwaltungsinternen Prozessen durch Dienstanweisungen, Leitfäden oder Erlasse. •• In schmalen und sehr schmalen Querschnitten können Fahrzeug-Rückhaltesysteme auch bei kleinen Abständen eingesetzt werden (siehe auch Leitfaden für Sonderlösungen zum Baum- und Objektschutz an Landstraßen der BASt [6]). An solchen schmalen Bild 2: Auf Landstraßen Getötete im Jahr 2019 nach Bundesländern [1] Internationales Verkehrswesen (74) 1 | 2022 22 INFRASTRUKTUR Wissenschaft Querschnitten können Geschwindigkeitsbeschränkungen und deren Überwachungen kurzfristig Baumunfälle und ihre Folgen stark reduzieren. Für die Straßenbauverwaltungen der Länder wird Folgendes zusätzlich empfohlen: •• Es sollten Prioritätenlisten mit Maßnahmen vorgegeben werden, die bei Baumunfallauffälligkeiten anzuwenden sind. Dies kann durch Handlungsleitfäden oder Erlasse erfolgen. •• Auf Landesebene sollten Wirkungskontrollen zu umgesetzten Maßnahmen in den Landesprogrammen durchgeführt und ggf. angepasst werden. Ein Erfahrungsaustausch zwischen den örtlichen Unfallkommissionen zu wirksamen Maßnahmen sollte gefördert werden. •• Umzusetzende bzw. umgesetzte Maßnahmen sollten von einer verstärkten Öffentlichkeitsarbeit begleitet werden, um das Verständnis für die Maßnahme und deren Befolgungsgrad zu erhöhen. •• Die Fachplanungsabteilungen sind sowohl finanziell als auch personell ausreichend abzusichern. •• Besonders im Umgang mit den immer komplexer werdenden Fahrzeug-Rückhaltesystemen und deren Anforderungen sollten die Mitarbeiter stärker geschult werden. Dies betrifft sowohl die Rechtssicherheit ihrer Planungen als auch den Umgang mit Hindernissen im Wirkungsbereich (Sonderlösungen). •• Die obersten Straßenbauverwaltungen der Länder sollen eigene Nachrüst-Programme für Fahrzeug- Rückhaltesysteme (z. B. Schutzplanken) nach dem Vorbild des bundesweiten Programmes aufsetzen. So kann das Baumunfallgeschehen auf Landes- und Staatsstraßen langfristig verringert werden. Bisher nicht auffällige, jedoch gefährdete Streckenabschnitte können dadurch präventiv geschützt werden. •• Die hier formulierten Empfehlungen und festgestellten wirksamen Maßnahmen gegen Baumunfälle sind in den „Bausteinen für einen Erlass gegen Baumunfälle“ zusammengefasst und können als Vorlage für die verwaltungsinterne Arbeit dienen. Diese können unter www.udv.de/ baumunfaelle heruntergeladen werden. ■ QUELLEN [1] Statistisches Bundesamt (Destatis 2020): Verkehr - Verkehrsunfälle 2019, Datenblätter UJ 19 aus den Jahren 1995 und 2018, 2019, Wiesbaden. [2] Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (2021). Forschungsbericht Nr. 74: Evaluation von Maßnahmenprogrammen ausgewählter Bundesländer gegen Baumunfälle - ISBN 978-3-948917-04-3; Lippold, C.; Martin, J.; Bakaba, J.E.; Berlin. [3] Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e. V. (FGSV 2006): Empfehlungen zum Schutz vor Unfällen mit Aufprall auf Bäume (ESAB), 2006, Köln. [4] Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e. V. (FGSV 2009): Richtlinien für den passiven Schutz durch Fahrzeug-Rückhaltesysteme (RPS), 2009, Köln. [5] Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e. V. (FGSV 2012): Merkblatt zur Örtlichen Unfalluntersuchung in Unfallkommissionen (M Uko), 2012, Köln. [6] Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt 2017): Leitfaden für Sonderlösungen zum Baum- und Objektschutz an Landstraßen, 2017, Bergisch Gladbach. Jean Emmanuel Bakaba, Dr.-Ing. Referent Verkehrsinfrastruktur, Unfallforschung der-Versicherer, Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V., Berlin e.bakaba@gdv.de Juliane Martin, Dipl.-Ing. Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Technische Universität Dresden juliane.martin@tu-dresden.de Maßnahmen aus Maßnahmenprogrammen des Verkehrsministeriums aus Maßnahmenprogrammen der Straßenbauverwaltung kein Programm vorhanden 1) BB BW BY MV NI NW RP SH HE SL SN ST TH Fahrzeug-Rückhaltesysteme ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja nein ja ja Geschwindigkeitsbeschänkung ja nein nein ja ja ja ja nein ja nein nein nein ja Geschwindigkeitsüberwachung ja nein nein ja ja ja nein nein nein nein nein nein nein Bäume entfernen nein ja ja nein 2) nein ja ja nein 4) nein nein nein ja ja Baumspiegel nein 2) nein nein nein nein nein nein nein nein nein nein nein nein andere verkehrsrechtliche Maßnahmen (Markierungen, Überholverbote, Kurventafeln, etc.) ja nein nein ja nein ja ja nein nein nein ja nein nein Maßnahmen am Straßenkörper (Griffigkeit, Entwässerung, Trassierung) nein ja nein nein nein ja nein nein nein nein ja nein nein Öffentlichkeitsarbeit nein nein nein ja ja nein nein nein nein nein nein nein nein sonstige Maßnahmen nein nein nein nein ja 3) nein nein nein nein nein nein nein nein Wirkungskontrolle ja nein ja ja ja nein ja nein nein nein ja nein nein 1) angegeben sind die häufigsten Maßnahmen aus der Praxis; 2) seit Ende der 90er Jahre nicht mehr; 3) Dialog-Displays; 4) nicht an Landesstraßen 06 E v a l u a t i o n v o n L ä n d e r p r o g r a m m e n g e g e n B a u m u n f ä l l e | U n f a l l f o r s c h u n g k o m p a k t N r. 1 0 8 Einführung von Regelwerken Tabelle 1: Übersicht der Maßnahmen in Länderprogrammen Maßnahmen Baumunfälle verhindern **) Baumunfallfolgen mindern ***) kurzfristige Maßnahmen Überwachung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit +++ +++ Verdeutlichung der Linienführung durch Beschilderung +++ ++ Verdeutlichung der Linienführung durch Markierung ++ ++ Geschwindigkeitsbeschränkung ++ ++ Überholverbot *) +++ +++ Änderung am Baumbestand*) +++ +++ mittelfristige Maßnahmen Fahrzeug-Rückhaltesysteme +++ +++ Deckenerneuerung + ++ +++ sehr wirksam ++ wirksam + bedingt wirksam; *) hohe Wirkung bei geringer Stichprobe; **) bezogen auf die Unfallkosten der Baumunfälle mit schwerem Personenschaden UKa(SP, Baum); ***) bezogen auf die schwerste Unfallfolge des Betrachtungszeitraumes Tabelle 2: Übersicht zur Wirksamkeit von untersuchten Maßnahmen gegen Baumunfälle