Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2022-0017
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Neue Mobilitätskonzepte für Metro und Straßenbahn
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Günter Koch
Die Automobilisierung der Welt, allen voran in Nordamerika und Europa, nährte ab der Mitte des vergangenen Jahrhunderts die Illusion einer grenzenlosen Mobilität in den Städten. Straßenbahnen wurden vielerorts eingestellt und der Busverkehr blieb im Stau der sich schnell füllenden Straßen stecken. Weder gelang es, die Straßeninfrastruktur dem wachsenden Bedarf „hinterher“ zu bauen; noch die auf dem Reißbrett autogerechte Stadt zu schaffen.
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Internationales Verkehrswesen (74) 1 | 2022 56 MOBILITÄT Urbaner Verkehr Neue Mobilitätskonzepte für-Metro und Straßenbahn Chancen und Rollenverteilung von spurgeführten Bahnsystemen in urbanen Räumen Bus Rapid Transit, ÖPNV, Schienenverkehr, Metropolräume, Verkehrsplanung Die Automobilisierung der Welt, allen voran in Nordamerika und Europa, nährte ab der Mitte des vergangenen Jahrhunderts die Illusion einer grenzenlosen Mobilität in den Städten. Straßenbahnen wurden vielerorts eingestellt und der Busverkehr blieb im Stau der sich schnell füllenden Straßen stecken. Weder gelang es, die Straßeninfrastruktur dem wachsenden Bedarf „hinterher“ zu bauen; noch die auf dem Reißbrett autogerechte Stadt zu schaffen. Günter Koch I n Nordamerika und einigen europäischen Städten wie in Frankreich, Spanien oder Großbritannien verschwanden Straßenbahnen fast ganz. Auch im Westen Deutschlands sah es nicht viel besser aus. In vielen Städten wurden die Schienen unter die Erde verlegt, damit oben Platz für die Autos frei wurde. Die schienenfreie Innenstadt wurde zum Leitbild der Verkehrsplanung. Die Straßen wurden auch hierzulande immer voller. So stieg die PKW- Dichte in Deutschland im Zeitraum von 2012 bis 2019 um 12 % auf 569 PKW pro 1.000 Einwohner, bei einem Anstieg des Bestandes um 14 % 1 . In den Metropolen und Städten wächst die Fahrzeugdichte kontinuierlich, auch in Städten mit einem dichten ÖV-Angebot 2 . Aber auch der ÖPNV konnte in diesem Zeitraum um rund 8 % zulegen. Bei der Betrachtung überfüllter Straßen sollte die Frage erlaubt sein, wo hier elektrische Automobile, Sharing oder Taximodelle, autonom fahrende PKW oder Kleinbusse - als Bedarfsverkehre oder nicht - das Kapazitätsproblem lösen können. Politisch und medial wurde das Ziel gesetzt, weniger Straßen, weniger Umweltbelastung. Die Straßenflächen werden aber nicht nur für die Mobilität benötigt, sondern auch zur Ver- und Entsorgung von Bewohnern, Gewerbebetrieben, Verwaltungen und anderen Diensten. Weiterhin werden aus dem vorhandenen Straßenraum noch Flächen abzuzweigen sein, für eine sichere und kapazitiv ausreichende Fußgänger- und Radfahrerinfrastruktur. Auch wenn sich in manchen Metropolen oder auch nur einigen Stadtteilen davon, durch neues Arbeiten wie Homeoffice die Zahl der Wege reduzieren wird, wird der Zuzug in die großen Städte wohl weiter anhalten. Dazu kommt in vielen Ländern auch noch das ungebremste Bevölkerungswachstum, von innen wie von außen. Soweit, so gut, der Lösungsansatz kann nur sein, dass auf weniger Fläche sich mehr Menschen bewegen oder bewegt werden können. Zu Fuß zu gehen oder mit dem Rad zu fahren ist sicher ein guter Lösungsansatz für eine klimaneutrale Mobilität. Die Mobilität in Metropolräumen lässt sich dadurch kaum umfänglich lösen. Es sind unter anderem die großen Entfernungen, die zurückzulegen sind, um beispielsweise von zu Hause zum Arbeitsplatz zu kommen und das in einer akzeptablen Zeit. Die Kapazität eines Verkehrssystems ist wegen der vielen technischen und betrieblichen Faktoren nicht eindeutig abzugrenzen. In Bild 1 wird die Zahl der benötigten Fahrspuren als Richtwert aufgezeigt, bezogen auf eine Hochleistungsmetro, wie sie in vielen asiatischen Städten wie Bangkok unterwegs sind. Die Fahrspur einer Metro ersetzt dabei über 20 Spuren des motorisierten Individualverkehrs (MIV). Bussysteme sind durchaus leistungsfähig, aber sehr hohe Kapazitäten können nur mit der Metro/ U-Bahn gefahren werden. Zum Vergleich wurde auch das innovative, automatisch fahrende Transport System Bögl (TSB) aufgenommen. Schienenbahnen im urbanen Verkehr Im Folgenden sollen einige Ansätze diskutiert werden, welche Rolle Metro und Straßenbahnen im Blickwinkel neuer Mobilitätskonzepte im urbanen Verkehrsmarkt spielen können. Die Besonderheit der Schienenbahnen ist ihre Spurführung. Ihr größter Vorteil liegt darin, dass bei einer Bild 1: Benötigte Fahrspuren - Vergleich von Verkehrssystemen Fotos und Darstellungen, wenn nicht anders angegeben, vom Autor Internationales Verkehrswesen (74) 1 | 2022 57 Urbaner Verkehr MOBILITÄT Metro Zuglängen von ca. 130 m und mehr realisiert werden können, gesteuert von nur einem Fahrzeugführer bzw. (teil-)autonom fahrend. Bei Straßenbahnen ist die Zuglänge auf 75 m begrenzt, da sie am Straßenverkehr teilnehmen, doch es ist wiederum ein Vorteil, dass sie das können. Begrenzte Straßenfläche wird optimal ausgenutzt. Das Rad-Schiene-System arbeitet mit geringen Rollwiderständen, was weniger Energie und auch weniger Verschleiß mit sich bringt als zum Beispiel der Betrieb von Bussystemen. Straßenbahnen haben den Vorteil, dass sie immer sichtbar sind. Sie sind Bestandteil der Stadtgestaltung. So besteht die Chance, dass Käufer, Mieter und Immobilienentwickler wie auch Gewerbetreibende bereits den Öffentlichen Verkehr vor Augen haben, bevor sie beispielsweise ihre Entscheidungen für Investitionen oder eine Standortwahl treffen (Bild 2). Die Stadtbahn ist die moderne Variante der Straßenbahn, sie hat überwiegend einen eigenen Bahnkörper. In vielen Städten fährt sie auch unterirdisch, von einer Metro/ U- Bahn kaum zu unterscheiden. Eines der ältesten und gleichzeitig auch modernsten Stadtbahnsysteme hat Frankfurt am Main (Bild 3). Metros - in Deutschland und Österreich als U-Bahn bezeichnet - ermöglichen es, mit hoher Geschwindigkeit und hoher Kapazität Personen zu transportieren. Je größer ein Transportmittel ist, desto weniger fällt der Aufwand für Steuerung und Personal ins Gewicht. Tunnelstrecken oder Aufständerungen geben darunter oder darüber den Raum, den eine Stadt zum Atmen benötigt. Die richtige Wahl der Infrastruktur ist auch eine Frage der Baukultur. In Asien, Australien und dem Mittleren Osten sind aufgeständerte Strecken eine gute Trassenoption (Bild 4). Die Eingriffe in den Straßenverkehr sind gering, die Bauzeit lässt sich mit einer industrialisierten Fertigung deutlich reduzieren. Auch ist die notwendige Ingenieurtechnik lokal meist vorhanden. Alternative Systeme Neben dem klassischen Bahnsystem Stahlrad auf Stahlschiene gibt es auch andere Systeme, die im Massenverkehr eine Rolle spielen können. Dazu gehören zum Beispiel zahlreiche Monorailsysteme. Der große Vorteil wird darin gesehen, dass die Bahn aufgeständert errichtet und damit der Raum über vorhandenen Straßen genutzt werden kann, während die Stützen selbst wenig Fläche benötigen. Aufwendig ist die Herstellung von Weichenverbindungen. Hierzu sind Abschnitte des Tragbalkens als Schleppweiche variabel auszubilden. Straßenbündige Trassen sind nicht möglich. Busse können sich unabhängig und mit variabler Linienführung im Straßenraum bewegen. Ein großer Nachteil ist jedoch die Notwendigkeit eines Fahrers. Absehbar ist kein autonomer Betrieb ohne Personal zu erwarten, der gleichzeitig auch die Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmer garantiert. Neben dem Verbrennungsmotor hat sich der elektrische Antrieb etabliert. Dessen Versorgung mit Energie ist durch den Einbau von Energiespeichern technisch sichergestellt, wird aber noch mit hohen Kosten und viel Gewicht eingekauft. Obwohl die Technologie des Oberleitungsbusses (auch Obus oder Trolleybusses) seit über einem Jahrhundert gut funktioniert, ist sie bis heute nur selten eine Planungsoption. Technisch, städtebaulich und finanziell lässt sich diese Verweigerungshaltung der Verkehrspolitik nicht begründen. In einer Studie für Wiesbaden wurde im Jahr 2016 nachgewiesen, dass sich die Elektrifizierung ausgewählter Linien mit Fahrdraht wirtschaftlich rechnet 3 . Bussysteme mit eigenem, unabhängigem Fahrweg werden als Bus Rapid Transit (BRT) weltweit gerne als eine zukunftsweisende Lösung für den ÖPNV gepriesen. Unter anderem in Südamerika wurden diese Bussysteme erfolgreich aufgebaut und betrieben. Aber auch das BRT TransMilenio in Bogotá wird nun um eine klassische Metro ergänzt. Augenfällig ist der hohe Flächenbedarf für BRT, insbesondere bei den Haltestellen. Dieser ergibt sich durch die kleinen Fahrzeug- Bild 2: Ins Stadtbild integrierte Straßenbahntrasse, Flächenteilung mit nicht motorisiertem Verkehr (Freiburg) Bild 3: Stadtbahn Frankfurt unterwegs als Straßenbahn (und als U-Bahn) Bild 4: Aufgeständerte Trasse der Sydney Metro Northwest Corridor Foto: Martin Grötzschel Internationales Verkehrswesen (74) 1 | 2022 58 MOBILITÄT Urbaner Verkehr größen verbunden mit einer kurzen Fahrtenfolge. Ungleichmäßiges Fahren und die Einhaltung von Mindestabständen führt leicht zu Pulkbildung und reduziert damit die Kapazität. Dies macht ein gegenseitiges Überholen an den Haltestellen notwendig, was den Flächenbedarf enorm vergrößert (siehe Bild 5). Der dafür erforderliche Raum steht in den städtischen Verdichtungsräumen aber nur selten zur Verfügung. Eine Straßenbahn hätte sich hier sicher besser integrieren lassen. Statt umfangreicher Asphalt- und Betonflächen wären diese Flächen vielleicht auch besser für Grünzüge und Wege für den nicht motorisieren Verkehr zu nutzen gewesen, und gleichzeitig wären Transportgeschwindigkeit und Komfort im Öffentlichen Verkehr (ÖV) angehoben worden. Straßenbahnen können im Vergleich eine ganz andere städtebauliche Qualität bieten (Bild 6). Eine weitere Alternative sind Seilbahnen. Diese können wie Metros mit hoher Kapazität automatisch betrieben werden, haben aber das Problem der Haltestellen, die immer mindestens in der +1-Ebene angeordnet werden müssen. Eine Umsetzung in bestehenden Siedlungsbereichen über bestehenden Bebauungen ist eine Herausforderung bei der Durchsetzung, ist aber auf der anderen Seite gerade hinsichtlich der Kosten bei der Überwindung von Senken oder Erhebungen sehr günstig, da aufwendige Ingenieurbauwerke wie Brücken oder Tunnel entbehrlich sind. Automatisches Fahren Metros werden auf einem unabhängigen Bahnkörper trassiert, ohne jegliche Gleisquerungen. Dies ermöglicht ein automatisches Fahren, da Störungen auf dem Fahrweg so gut wie ausgeschlossen werden können. Ein automatisches Fahren bietet die Möglichkeit, einen flexiblen Fahrplan nach gewünschtem Angebot oder geforderter Kapazität anzubieten. Der Personalbedarf bleibt dabei weitgehend konstant, da überwiegend an zentralen Stellen Mitarbeiter benötigt werden und die Einbindung von Zugbegleitpersonal flexibel gestaltet werden kann. In Nürnberg verkehren die Linien U2 und U3 bereits seit 2008 im Automatikbetrieb ohne Fahrer, nach dem höchsten Automatisierungsgrad GoA4. Weltweit gibt es die Tendenz, Metrosysteme voll zu automatisieren. Ende 2018 gab es bereits 64 vollautomatisierte Linien in 42 Städten mit einer Länge von ca. 1.000 km (siehe Bild 7). Den Straßenbahnen geht es wie den Bussen. Die Teilnahme am Straßenverkehr erschwert ein automatisches oder gar autonomes Fahren. Alle straßengebundenen Bahnen werden bis auf weiteres kaum auf Personal im Führerstand verzichten können. Erst wenn autonome Kraftfahrzeuge einen umfassenden Praxistest bestanden haben, wird man es sich leisten können, diese Technologie auf die Bahnen zu bekommen. Auf das Kind, das spielend dem Ball auf die Straße hinterherläuft, gibt es noch keine Antwort, auch nicht für Straßenbahnen. Assistenzsysteme werden ihrem Namen gerecht und damit eine wichtige Rolle spielen, mehr aber auch nicht. Trotz- Bild 5: Platzbedarf an Haltestellen eines Hochleistungs-BRT, hier die Station Mundo Aventura des Transmilenio-Systems in Bogotá (Foto: Felipe Restrepo Acosta; https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ TransMilenio, 28.09.2021) Bild 6: Straßenbahn in Gold Coast (Australien) Bild 7: Übersicht vollautomatisierter Metros weltweit Quelle: UITP, 31.12.2018 Internationales Verkehrswesen (74) 1 | 2022 59 Urbaner Verkehr MOBILITÄT dem können Stadtbahnen bereits dort teilautomatisiert werden, wo sie auf unabhängigem Bahnkörper unterwegs sind. Stadtbahnen können kreuzungsfrei wie U-Bahnen unterwegs sein und abschnittsweise wie eine Straßenbahn im Straßenraum verkehren (z. B. Köln, Düsseldorf oder Hannover). Stationen und Haltestellen Die Haltestellen sind es, die neben den Fahrzeugen den emotionalen Zugang zu einem Verkehrssystem prägen. Warten, Information und Dienstleistungen sowie Handel stehen in dieser Reihenfolge im Fokus des Kunden. Haltestellen werden zur Identifikation, können als Treff- und Orientierungspunkt im urbanen Umfeld dienen (Bild 8). Haltestellen erfordern Raum, nicht nur in der Länge und Breite, sondern auch in Höhe oder Tiefe. Unterirdische Bahnhöfe mit ihren Zwischenebenen ermöglichen die Verteilung der Fußgängerströme. Metrostationen sollen nicht nur funktional sein, sondern dürfen uns gerne auch eine eigene Ausstrahlung spüren lassen (Bild 9). Bei Metro und Straßenbahnen ist es möglich, eine nahezu 100%ige Barrierefreiheit zwischen Bahnsteig und Fahrweg herzustellen. Durch Spurführung und ausgleichende Federung können Spalt und Stufe minimiert werden, was auch bei neuen Systemen konsequent umgesetzt wird. Problematisch bleibt die Migration von bestehenden Systemen. Hohes Fahrgastaufkommen sowie der Wunsch nach einem automatischen Betrieb haben zur Entwicklung von Bahnsteigtüren an der Bahnsteigkante geführt, auch als Passenger Screen Doors (PSD) bezeichnet (Bild-10). Damit wird sichergestellt, dass keine Fahrgäste in den Verkehrsraum der Bahn gelangen und nur der Bereich der Türen Bild 8: Haltestellen als Landmarken wie in Dubai Bild 9: U-Bahnstation Hafencity, Hamburg Bild 10: Plattform Screen Doors, hier in Barcelona Bild 11: Bahnsteigsperren (Gates) an Metro-Stationen, hier in Bilbao Bild 12: Metro (Taipeh) und Straßenbahn (Miskolc/ Ungarn) im Vergleich Internationales Verkehrswesen (74) 1 | 2022 60 MOBILITÄT Urbaner Verkehr freigegeben wird. Dies erfordert aber auch, dass fahrzeugseitig die Zugtüren immer mit den Bahnsteigtüren korrespondieren. Die Nürnberger U-Bahn ist ohne Bahnsteigtüren und ohne Fahrer unterwegs. Durch Detektoren in den Gleisbereichen der Haltestellen sowie an den Fahrzeugfronten wird überwacht, ob sich Personen oder Gegenstände im Gleis befinden und festgestellt, ob ein Anhalten des Zuges erforderlich ist. Mit großen Metrostationen lässt sich auch das Ticketing durch Bahnsteigsperren automatisiert und sicher lösen (Bild 11). In Mitteleuropa haben allerdings die offenen Zugänge zu den Bahnsteigen eine lange Tradition. Ausgewählte technische und betriebliche Aspekte Die Variabilität der Fahrzeuge für Stadtbahnen und Metros ist aufgrund der geforderten Kapazitäten und Einsatzfelder sehr groß und unterscheiden sich teilweise deutlich (Bild 12). Auch üben regionale Gewohnheiten und kulturelle Aspekte einen nicht zu vernachlässigenden Einfluss auf die Fahrzeugbeschaffung aus (Bild 13). Metros und Straßenbahnen sind seit über einem Jahrhundert zu 100 % elektrisch unterwegs. Dies ermöglicht die Nutzung von erneuerbarer Energie auf beste Art und Weise, ohne Speicher und mit der Möglichkeit der verlustarmen Bremsung sowie einer Energierückspeisung. Gegen die Straßenbahnen wird gern die störende Fahrleitung angeführt und das besonders in Städten, in deren Stadtbild eher die Beliebigkeit als die Schönheit der Architektur regiert. In Städten mit historischem Stadtbild wie Amsterdam, Freiburg, Bern, Wien oder Straßburg wird hingegen die Oberleitung überhaupt nicht thematisiert. Für die Akzeptanz eines Verkehrssystems ist unter anderem die erreichbare Reisegeschwindigkeit entscheidend, umso mehr, je größer die Reiseweite ist. Die Betrachtung der Reisegeschwindigkeit in Abhängigkeit von Höchstgeschwindigkeit und Haltestellenabstand (Bild 14) zeigt auf, wie ein System konfiguriert werden kann, um eine bestimmte Zielgröße zu erreichen. Bei Haltestellenabständen unter 500 m spielt der Einfluss der Höchstgeschwindigkeit nur eine geringe Rolle. Wird der Abstand auf 1.000 m vergrößert, erscheint eine Entwurfsgeschwindigkeit von 80 km/ h als optimal, was auch bei dem Entwurf der meisten Metros zugrunde liegt. Linien- und Netzbildung Der urbane Verkehr mit Metrozügen oder Straßenbahnen ist korridorbezogen mit weniger Variabilität hinsichtlich der Fahrtrouten ausgestattet, da die Routen der vorhandenen Infrastruktur folgen müssen. Der Bau neuer Verkehrsinfrastrukturen für spurgebundene Systeme ist besonders in dicht besiedelten Räumen eine große Herausforderung hinsichtlich der Akzeptanz, Durchsetzbarkeit und letztendlich der Finanzierung. Der vermeintliche Nachteil erweist sich aber eher als Vorteil. Die Bündelung von Transportkapazitäten ermöglicht eine bessere Steuerung und Ausnutzung von Kapazitäten. Je mehr Investitionen eine Trasse erfordert, desto mehr ist eine Trassenbündelung sinnvoll. Bild 15 zeigt für Bus, Straßenbahn und Metro eine typische Konfiguration der Linienführungen in einem Korridor. Eine Stadt besitzt eine Vielzahl von unterschiedlichen Korridoren, die sich zu einem Gesamtsystem überlagern, so wie die Bild 16 die Hierarchien der ÖV-Netze versinnbildlicht. Die Entscheidung für den Einsatz eines bestimmten Systems und dessen Konfigurierung bedarf einer sorgfältigen Abwägung Bild 13: Variierende Ansprüche an den Fahrgastraum in Asien (Taipeh, links) und Europa (München, rechts) Bild 14: maximal erreichbare Reisegeschwindigkeit in Abhängigkeit von Haltestellenabständen Bild 15: Typische Linienführungen unterschiedlicher Systeme in einem Korridor Internationales Verkehrswesen (74) 1 | 2022 61 Urbaner Verkehr MOBILITÄT Günter Koch Leiter Arbeitsgebiet Planung Metro und Straßenbahn, DB Engineering & Consulting GmbH, Karlsruhe guenter.ge.koch@deutschebahn.com aller, sehr unterschiedlicher Kriterien. Dazu gehören insbesondere auch die Nachhaltigkeit der Investitionen und der erforderliche Aufwand in der Betriebsführung. Dafür ist eine einschlägige Expertise in der Planung und für den Bau von Infrastrukturen, die Betriebsführung und des Fahrzeugeinsatzes erforderlich. Das System muss von oben nach unten geplant werden. In einem hierarchischen Netzmodell können die Rollen einzelner Verkehrssysteme aufgezeigt werden (Bild 16). Die obere Ebene bildet das Kernnetz, den Backbone mit hoher Kapazität und Reisegeschwindigkeit. Dies sind Schnellbahnen wie S- und U-Bahn/ Metro. In der unteren Ebene ist das richtige Verkehrsmittel zur Feinerschließung zu finden. Hier finden On-demand-Systeme ihre Rolle, aber auch Busse. Besonders flexibel sind Straßen- und Stadtbahnen unterwegs. Diese können sowohl die Fahrgäste in den Vorstädten zu Hause abholen und in den Kernstädten die Kapazitäten bündeln. Sie nehmen die mittlere Ebene ein. Die Konfigurierung und Planung und Umsetzung solcher Systeme verlangt viel Erfahrung. Viele kommunale Unternehmen in Mitteleuropa sind hier bestens aufgestellt. Aber auch international tätige Betreiber und Berater beherrschen dieses Geschäft. In diesem Bereich ist die DB Engineering & Consulting, eine Tochter der Deutsche Bahn, bereits seit 55 Jahren weltweit unterwegs. Aktuelle Projekte sind die Metro in Doha (Katar) oder die Stadtbahn in Canberra (Australien, Bild 17). Die Straßenbahn in der Kriegsstraße in Karlsruhe ging zum Jahresende 2021 in Betrieb. Ausblick Schienengebundene Verkehrssysteme wie Straßenbahnen und Metros werden auch weiterhin eine wesentliche Rolle im urbanen Personentransport spielen. Kein anderes Verkehrsmittel hat eine solche Transportkapazität zu bieten, bei wenig Personaleinsatz und gleichzeitig auch der Chance auf eine weitestgehende Automatisierung. Bahninfrastrukturen tragen zudem zur Nachhaltigkeit bei der Siedlungsentwicklung bei. Die Gründe für die Wahl, ob Straßen- oder Stadtbahn, sind vielfältig. Die Renaissance der Straßenbahn in Frankreich hat gezeigt, dass damit vor allem eine große Chance zur urbanen Umgestaltung verbunden ist. Durch die Schienen im öffentlichen Verkehrsraum steigt die visuelle Wahrnehmung des Systems. Und im Vergleich zu einer unterirdischen Stadtbahn oder Metro sind die Bauzeiten eher übersichtlich. Der Neubau der Stadtbahn in Canberra hat gerade mal vier Jahre gedauert. Wer große Menschenmengen transportieren will oder muss, wird auch künftig kaum um spurgebundene Verkehrsmittel mit hoher Leistungsfähigkeit herumkommen. Wichtig ist es, im urbanen Raum die richtige Mischung der unterschiedlichen Verkehrsmittel anzubieten. Alles „on Demand“ wird weder den heutigen noch den künftigen urbanen Gesellschaften mit ihren unterschiedlichen und kleinteiligen Ansprüchen gerecht werden. Schnelle, zuverlässige und leistbare Verkehrsmittel müssen hinsichtlich Qualität und Kapazität das Rückgrat von städtischen und regionalen Verkehrsnetzen sein. Busse sind es in den Metropolen sicher nicht. Wenn man sich allerdings den Raum für Busspuren auf großen Längen leisten kann, dann sollte man auch mal über eine Straßenbahn nachdenken. München, Wien oder Mailand sind sehr gute Beispiele, wie sich S- und U-Bahnen mit Straßenbahnen auf ideale Weise ergänzen. Dagegen fehlt in Hamburg bis heute ein leistungsfähiges System zwischen dem Bus und der S- und U-Bahn. ■ 1 Destatis.de, Pressemitteilung Nr. N 055 vom 11. September 2020 2 www.autohaus.de/ nachrichten/ autohandel/ pkw-dichtei n g r o s s s t a e d t e n j e d e s j a h r t a u s e n d e a u t o s mehr-2701877 3 Elektrisches Bussystem für Wiesbaden - Machbarkeitsstudie; DB Engineering & Consulting GmbH, Karlsruhe 2016 Bild 16: Hierarchie von Netzen im ÖPNV Darstellung: Marc Klemenz/ Günter Koch Bild 17: Stadtbahn in Canberra Foto: Martin Grötzschel
