Internationales Verkehrswesen
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expert verlag Tübingen
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Die Welt wird wieder zu einem etwas engeren Ort
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Frank Hütten
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Internationales Verkehrswesen (74) 2 | 2022 11 E s sei zu früh, um loszugehen und „einen Sarg für die Globalisierung zu kaufen“, sagte Kristalina Georgiewa, Direktorin des Internationalen Währungsfonds, neulich. Sie wies darauf hin, wie viel Gutes die arbeitsteilige Weltwirtschaft bisher gebracht habe. Aber spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine, den Wellen von wirtschaftlichen Sanktionen und dem Abbruch diverser Handelsbeziehungen bläst den Befürwortern des freien Welthandels ein rauer Gegenwind ins Gesicht. Selbst US-Notenbankchef Jerome Powell sagte, dass sich die Globalisierung auf jeden Fall verlangsame, wenn auch noch nicht klar sei, ob sie sich umkehren werde. Auch in der EU wird die Zukunft des Welthandels diskutiert. Besonders deutlich wurde der neue Tonfall beim informellen EU-Gipfel in Versailles, für den Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron - lange vor dem Ukraine-Krieg geplant - das Thema „Neues Wachstumsmodell für die EU“ auf die Agenda gesetzt hatte. Der Krieg hat den Anliegen Macrons, für die er teils seit seiner programmatischen Rede an der Sorbonne 2017 wirbt - strategische Souveränität der EU vor allem auf Gebieten wie Verteidigung, Nahrungsmittelsicherheit und in wichtigen Industriesektoren - eine ungeahnte Brisanz und Unterstützung durch seine EU-Amtskollegen beschert. Was vor einigen Jahren noch als „leere Worte“ oder eher französische Interessen angesehen worden sei, „ist heute ein ‚Must‘ geworden“, stellte der Präsident nach dem Gipfel fest. Zunächst habe die Pandemie den Europäern verdeutlicht, wie schnell der Nachschub mit wichtigen Materialien stocken kann, auch an solchen, die für die Gesundheitsversorgung wichtig sind. Der Weg aus der Covid-Krise sei etwa durch den Halbleitermangel behindert worden und der Ukraine-Krieg zeige jetzt, „wie sehr auch unsere Nahrungsmittel, unsere Energie und unsere Verteidigung Themen unserer Souveränität sind.“ Viele von Macrons Forderungen, etwa nach einer stärkeren europäischen Produktion von Mikrochips, Arzneimitteln, pflanzlichen Proteinen, nach Investitionen in digitale Technologien und die Erschließung alternativer - möglichst einheimischer - Energie- und Rohstoffquellen finden sich in den Gipfelschlussfolgerungen wieder. Und auch EU-Ratspräsident Charles Michel und Bundeskanzler Olaf Scholz widersprachen diesen Zielen nicht und sagten, die EU müsse „stark und souverän“ sein. „Wir wollen ja eine Macht sein, die der Welt offen ist, aber wir wollen nicht abhängig sein“, fasste Macron zusammen. Das bedeute auch, „dass wir weniger importieren sollen, denn sonst hätte es keinen Sinn, mehr in die europäische Industrie zu investieren“, sagte der Staatspräsident, mit besonderem Blick auf die Verteidigungsindustrie. Frankreich ist mit seinem Wunsch nach mehr EU-Industriepolitik wohl ein Stück vorangekommen, aber dass sich die Europäer jetzt in allen möglichen Wirtschaftsbranchen einigeln wollen, ist nicht zu erwarten. Dafür ist das außenwirtschaftliche Interesse zu groß und die globalen Verflechtungen sind zu eng. Und für Versorgungssicherheit sind möglichst diverse Lieferketten wichtig, eine zu starke Europa- Zentriertheit wäre nicht gut. Um kurzfristig von russischem Gas unabhängiger zu werden, will die Staatengemeinschaft stärker auf Flüssiggas (LNG) setzen. Auch das muss importiert werden. Gleiches gilt für „grünen“ Wasserstoff, der sich am besten in Gegenden der Welt erzeugen lässt, wo starker Wind weht und die Sonne intensiv scheint. Und auch für die Versorgung mit wichtigen Rohstoffen strebt die EU internationale Partnerschaften an, was auch internationale Lieferketten bedeutet. Aber an einigen aktuellen Geschäftsmodellen dürfte sich schon etwas ändern. Die Welt, die vor rund 30 Jahren weit und offen aussah, könnte künftig für Handelsunternehmen zu einem engeren Ort werden. Zumal weitere geopolitische Konflikte nie auszuschließen sind. Spannungen gibt es genügend, zum Beispiel zwischen China und Taiwan, einem wichtigen Produktionsstandort für Halbleiter. Das Thema Versorgungssicherheit wird nicht so schnell von den prominenten Plätzen der politischen Tagesordnung verschwinden und an Bedeutung eher noch zunehmen. Die Logistikbranche ist gut beraten, noch stärker an der Resilienz von Lieferketten zu arbeiten und sehr aufmerksam eventuelle Veränderungen von Warenströmen zu beobachten. Was aus den Versailler Gipfelschlussfolgerungen mit den Jahren konkret wird, muss sich zeigen. Aber einige Prozesse sind in der EU bereits angestoßen, etwa zur stärkeren Nutzung heimischer, erneuerbarer Energiequellen, für mehr Recycling und Kreislaufwirtschaft, zur Stärkung einer europäischen Halbleiterfertigung oder zur Förderung anderer Industrieprojekte von „gemeinsamem Interesse“. Das wird auch Auswirkungen auf Transport und Logistik haben. ■ Frank Hütten EU-Korrespondent der DVZ Deutsche Verkehrs-Zeitung B E R I C H T A U S B R Ü S S E L VON FRANK HÜTTEN Die Welt wird wieder zu einem etwas engeren Ort
