eJournals Internationales Verkehrswesen 74/2

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2022-0038
51
2022
742

Aktuell und automatisch

51
2022
Antje-Mareike Dietrich
Jochen Sauer
Damit der ÖPNV seiner Rolle als Rückgrat der Verkehrswende gerecht werden kann, ist ein Umdenken in den Planungsabteilungen der ÖPNV-Anbieter erforderlich. Zentrale Aufgaben sind der Ausbau und die Flexibilisierung des Angebots. Dabei helfen aktuelle Nachfragedaten zu ÖPNV-Fahrgastströmen. Das Forschungsprojekt Mobile Data Fusion zeigt, dass solche Daten zukünftig für die Planungsprozesse bereitgestellt werden können. Auf dieser Informationsbasis kann das ÖPNV-Angebot an den konkreten Bedarfen der Fahrgäste ausgerichtet werden.
iv7420054
Internationales Verkehrswesen (74) 2 | 2022 54 MOBILITÄT ÖPNV Aktuell und automatisch Nachfragedaten für eine flexiblere ÖPNV-Planung ÖPNV, Planung, Digitalisierung, Nachfragedaten, Datenfusion, Multimodalität Damit der ÖPNV seiner Rolle als Rückgrat der Verkehrswende gerecht werden kann, ist ein Umdenken in den Planungsabteilungen der ÖPNV-Anbieter erforderlich. Zentrale Aufgaben sind der Ausbau und die Flexibilisierung des Angebots. Dabei helfen aktuelle Nachfragedaten zu ÖPNV-Fahrgastströmen. Das Forschungsprojekt Mobile Data Fusion zeigt, dass solche Daten zukünftig für die Planungsprozesse bereitgestellt werden können. Auf dieser Informationsbasis kann das ÖPNV-Angebot an den konkreten Bedarfen der Fahrgäste ausgerichtet werden. Antje-Mareike Dietrich, Jochen Sauer D er ÖPNV in Deutschland steht vor vielfältigen Herausforderungen. Kurzfristig sind die Auswirkungen der Corona-Pandemie zu bewältigen. Mittelfristig muss der ÖPNV seiner neuen Rolle als Rückgrat der Verkehrswende gerecht werden. Der Verkehrssektor wird seine Klimaschutzziele nur erreichen, wenn der Umweltverbund gestärkt und für deutlich mehr Menschen attraktive ÖV-Angebote bereitgestellt werden. Zusätzliche Fahrzeugkapazitäten sind notwendig, um die erwartbaren Nachfragezuwächse bewältigen zu können. Der ÖPNV-muss hierfür neue Kundensegmente erschließen und in der Fläche ausgebaut werden. Anders als noch vor einigen Jahren hat die Politik damit begonnen, die notwendigen finanziellen Voraussetzungen bereitzustellen oder zumindest deren Bereitstellung vorzubereiten. Es wird die Aufgabe der ÖP- NV-Anbieter sein, die Mittel zielgerichtet einzusetzen. Die Beseitigung von Kapazitätsengpässen und der Aufbau attraktiver Busanbindungen im ländlichen Raum und in die Zentren stehen dabei ganz oben auf der Wunschliste potenzieller Fahrgäste. Vor diesem Hintergrund sollten die Interessen der heutigen und zukünftigen ÖV- Kunden genauer untersucht und regelmäßig beobachtet werden. Bereits vor der Corona-Pandemie war die Mehrheit der ÖPNV-Kunden multimodal unterwegs (vgl. Bild 1). Die Corona-Pandemie zeigt zudem, dass sich die bisher stabilen Segmente der ÖPNV-Stammkunden verändern, insbesondere vor dem Hintergrund von Home-Office, Online-Handel und E-Learning. Es zeichnet sich ab, dass zukünftig multimodale Kunden die Nachfrage nach ÖPNV- Dienstleistungen prägen werden. Flexibilisierung der Planung Der ÖPNV wird zukünftig als Mobilitätsdienstleister eine tragende Rolle im Umweltverbund übernehmen und attraktive Angebote für das wachsende multimodale Kundensegment bereitstellen. Im Regionalverkehr ist das Angebot derzeit noch durch regelmäßige Pendelverkehre von Berufstätigen und Schülern in die Zentren gekennzeichnet. Im ländlichen Raum orientiert sich die ÖPNV-Planung am Auftrag der Daseinsvorsorge und bietet dort ein Minimalangebot an. Zukünftig wird das Angebot differenzierter und flexibler sein. Hinzu kommen weitere Anforderungen durch neue Erwartungen der Fahrgäste und veränderte rechtliche Rahmenbedingungen. So hat sich beispielsweise Pandemiebedingt das Informationsbedürfnis der Fahrgäste erhöht, sodass Auslastungsprognosen zum neuen Standard gehören. Dies spiegelt sich auch in der zum 1. Juli 2022 geplanten Verschärfung der Mobilitätsdatenverordnung, die eine Bereitstellung von Auslastungsdaten in Echtzeit vorsieht [2, S. 3 ff.]. All das zeigt, dass die Anforderungen an die Planung und die hierfür nötigen Instrumente größer werden. Um dem gerecht zu werden, sind ÖPNV-Anbieter auf tiefergehende Informationen über das Nutzungsverhalten ihrer Fahrgäste angewiesen. Dies erfordert eine bessere Datengrundlage, als sie dem ÖPNV derzeit zur Verfügung steht. Es fehlt vor allem an aktuellen Informationen über Fahrgastströme (Quelle-Ziel- Beziehungen). Derzeit werden diese Informationen alle paar Jahre in aufwändigen Fahrgastbefragungen ermittelt. Diese stichtagbezogenen Ergebnisse liefern zwar wichtige Grundlagen für die heutige Planungspraxis, sie können jedoch das Fahrgastverhalten nicht im Zeitverlauf abbilden. Kurzfristige Veränderungen, wie beispielsweise die Nachfrageeinbrüche in der Corona-Pandemie, können mit den klassischen manuellen Erhebungsmethoden nicht abgebildet werden. Die Grundlage für eine solide und flexible Angebotsplanung sind aktuelle Nachfragedaten. Vielerorts gehört der Einsatz von Automatischen Fahrgastzählsystemen (AFZS) zum Standard. Damit sind aktuelle Nachfragezahlen im ÖPNV in sehr guter Qualität verfügbar. Es fehlen jedoch aktuelle und qualitativ hochwertige Informationen über die Quelle-Ziel-Verflechtungen. In der Praxis werden die mittels Befragungen ermittelten Quelle-Ziel-Matrizen regelmäßig mit aktuellen Zähldaten aus den AFZS fortgeschrieben. Die fortschreitende Digitalisierung eröffnet nun Möglichkeiten, Fahrgastströme täglich zu erfassen und in Planungsprozesse einfließen zu lassen. Forschungsprojekt Mobile Data Fusion Aktuelle Informationen über Fahrgastströme automatisiert erfassen und für Planungszwecke bereitstellen, das war das Ziel des Forschungsprojekts „Mobile Data Bild 1: Mono- und multimodale ÖV-Nutzung; Anteil multi- und monomodale ÖV-Kundengruppen Quelle: In Anlehnung an [1, Folie 4]. Internationales Verkehrswesen (74) 2 | 2022 55 ÖPNV MOBILITÄT Fusion - Automatische Ermittlung der Fahrgastnachfrage aus AFZS-, WLAN-, Bluetooth- und Verbindungsdaten“. Im Februar 2022 endete das Projekt nach drei Jahren Laufzeit. Es wurde vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) im Rahmen der Forschungsinitiative mFund gefördert [3]. Das Projektkonsortium setzte sich aus der WVI Prof. Dr. Wermuth Verkehrsforschung und Infrastrukturplanung GmbH aus Braunschweig, dem Nordhessischen VerkehrsVerbund NVV, dem Fachgebiet Verkehrsplanung und Verkehrssysteme der Universität Kassel, der INIT GmbH aus Karlsruhe und der BLIC GmbH aus Berlin zusammen. Während der Projektlaufzeit wurde ein Verfahren entwickelt, das automatisiert Quelle-Ziel-Informationen für jede Linienfahrt bereitstellt. Für die Entwicklung installierte das Projektkonsortium auf mehreren Referenzlinien des NVV in Fahrzeugen und an Haltestellen WLAN- und Bluetooth- Sensoren. Die Sensoren zeichnen Daten aus der Kommunikation mit WLAN- und Bluetooth-Geräten in ihrer Umgebung auf. Dadurch erfassen sie die Signale der mobilen Geräte, die von ÖPNV-Fahrgästen mitgeführt werden. Anschließend werden die Signale der WLAN- und Bluetooth-Sensoren mit den Daten des bereits installierten AFZS zentral zusammengeführt. Als Ergebnis stehen Quelle-Ziel-Informationen für jeden Tag zur Verfügung. Bild 2 veranschaulicht den Ansatz. Bei der Entwicklung des Systems wurde der Datenschutz von Beginn an konsequent mitgedacht und hard- und softwareseitig umgesetzt. Das eigens entwickelte Datenschutzkonzept basiert auf dem Grundprinzip privacy by design. Rückschlüsse auf die Bewegungsprofile einzelner Fahrgäste werden damit unterbunden. Auf den Referenzlinien wurden zudem manuelle Befragungen durchgeführt, die zur Kalibrierung des Verfahrens herangezogen wurden. Die Funktionsfähigkeit des Systems wurde im Realbetrieb getestet. In der zweiten Pilotphase wurden auf den Fahrzeugen die CoPilotPCs der INIT mit neu installierten WLAN- und Bluetooth-Chips getestet. Für die Installation der Bluetooth-Chips erhielt die INIT noch während der Projektlaufzeit die für den Betrieb notwendige E1-Zulassung. Bei einer vollständigen Ausstattung aller Fahrzeuge kann das neue Verfahren täglich aktuelle Daten zu den nachgefragten Quelle-Ziel-Relationen automatisch bereitstellen. Dies unterstützt die notwendige Flexibilisierung der Planungsprozesse. Erstmals sind zum Beispiel fundierte Aussagen zu unterschiedlichen Quelle-Ziel-Verflechtungen im Tages- und Wochenverlauf möglich. Das Verkehrsangebot könnte auf dieser differenzierten Datenbasis gezielter und schneller als heute an die reale Verkehrsnachfrage angepasst werden. Das Verfahren soll zukünftig im Praxiseinsatz weiterentwickelt und für spezifische Anwendungen optimiert werden. Da in der Praxis in der Regel keine Vollausstattung mit AFZS besteht, muss das Verfahren an diese realen Bedingungen angepasst werden. Mögliche Erweiterungen sind darüber hinaus die Ermittlung von Umstiegen und die Ableitung von Nutzungshäufigkeiten von verschiedenen Kundengruppen. Beides kann aus den erfassten Daten grundsätzlich ermittelt werden. Perspektivisch ist die Einbeziehung weiterer Nachfragedatenquellen zu Planungszwecken möglich und ggf. sinnvoll. Weitere Nachfragedaten können aus verschiedenen Anwendungen gewonnen werden (vgl. Tabelle 1). Die so gewonnenen Daten unterscheiden sich hinsichtlich Güte und Genauigkeit. Der Anwendungszweck entscheidet darüber, welchen Qualitätsansprüchen die Nachfragedaten genügen müssen. Zur Berechnung einer Einnahmenaufteilung werden beispielsweise höhere Anforderungen an die Genauigkeit gestellt als für eine Auslastungsprognose. Ausblick Die neue Rolle des ÖPNV als Rückgrat der Verkehrswende erfordert ein Umdenken in den Planungsabteilungen der ÖPNV-Anbieter. An dem Ausbau und der Flexibilisierung des Angebots führt dabei kein Weg vorbei. Das Forschungsprojekt Mobile Data Fusion zeigt, dass zukünftig aktuelle Nachfragedaten zu ÖV-Fahrgastströmen bereitgestellt und in die weiteren Planungsprozesse eingebracht werden können. Die Erweiterung der Informationsbasis bietet in der Praxis die Möglichkeit, das ÖPNV-Angebot an den konkreten Bedarfen der Fahrgäste auszurichten. Die Flexibilisierung des ÖPNV-Angebots ist somit nicht nur nötig, sondern durch zusätzliche Erkenntnisse über das Fahrgastverhalten zukünftig auch möglich. ■ LITERATUR [1] Mobilität in Deutschland 2017, Vorstellung ausgewählter Themen, MiD-Abschlussveranstaltung, 15. November 2018, Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur. [2] NaNa-Brief, Hintergründe, Analysen & Kommentare zum Personenverkehr,10/ 22, 8. März 2022. [3] Ermittlung der Fahrgastnachfrage aus AFZS-, WLAN-, Bluetooth- und Verbindungsdaten - Mobile Date Fusion, 01.12.2018. www.bmvi. de/ SharedDocs/ DE/ Artikel/ DG/ mfund-projekte/ mobiledatafusion. html; Zugriff am 04.04.2022. Antje-Mareike Dietrich, Dr. Prof. Dr. Wermuth Verkehrsforschung und Infrastruktur (WVI) GmbH, Braunschweig a.dietrich@wvigmbh.de Jochen Sauer, Dipl.-Inform. Bereichsleiter und Prokurist, Prof. Dr. Wermuth Verkehrsforschung und Infrastruktur (WVI) GmbH, Braunschweig j.sauer@wvigmbh.de Fahrplanauskunft Mobilfunk Fahrgast-WLAN WLAN und Bluetooth mobiler Endgeräte Mobilitäts-Apps Tabelle 1: Datenquellen zur Ermittlung der ÖV-Nachfrage WLAN/ Bluetooth AFZS Datenfusion Quelle-Ziel-Matrizen Bild 2: Prinzip der Datenfusion in Mobile Data Fusion