Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2022-0042
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Künstliche Intelligenz in der Binnenschifffahrt
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Peter Poschmann
Manuel Weinke
Frank Straube
Jan Kliewer
Fynn Gerhardt
Um die Attraktivität der Binnenschifffahrt zu steigern, bedarf es einer zuverlässigen und effizienten Gestaltung der Transporte einschließlich einer besseren Synchronisation mit angrenzenden Prozessen in
der Transportkette. Durch vielfältige Einflussfaktoren wie Niedrigwasser, Infrastrukturstörungen und Wartezeiten an Häfen und Schleusen besteht bislang jedoch eine hohe Unsicherheit hinsichtlich der
Ankunftszeiten von Binnenschiffen. Datenbasierte Verfahren aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI) weisen ein hohes Potenzial auf, die Transparenz in der Binnenschifffahrt zu erhöhen.
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Internationales Verkehrswesen (74) 2 | 2022 69 Künstliche Intelligenz in der Binnenschifffahrt Steigerung der Zuverlässigkeit von Binnenschifftransporten durch datenbasierte Ankunftszeitprognosen Transportkette, Binnenschifffahrt, Störungen, Prognose, ETA, Künstliche Intelligenz Um die Attraktivität der Binnenschifffahrt zu steigern, bedarf es einer zuverlässigen und effizienten Gestaltung der Transporte einschließlich einer besseren Synchronisation mit angrenzenden Prozessen in der Transportkette. Durch vielfältige Einflussfaktoren wie Niedrigwasser, Infrastrukturstörungen und Wartezeiten an Häfen und Schleusen besteht bislang jedoch eine hohe Unsicherheit hinsichtlich der Ankunftszeiten von Binnenschiffen. Datenbasierte Verfahren aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI) weisen ein hohes Potenzial auf, die Transparenz in der Binnenschifffahrt zu erhöhen. Peter Poschmann, Manuel Weinke, Frank Straube, Jan Kliewer, Fynn Gerhardt D ie Binnenschifffahrt kann bei der Erreichung der angestrebten Verkehrswende eine wichtige Rolle spielen. Sie gilt, gemessen an der Transportleistung, als ein umweltfreundlicher Verkehrsträger mit geringen CO 2 - und Lärmemissionen, welcher im Vergleich zur Straße und Schiene noch über Kapazitätsreserven verfügt. Trotz des verkehrspolitischen Ziels, den Anteil am Modal Split (gemessen in Tonnenkilometern) auf 12 % im Jahr 2030 zu steigern [1], ist dieser in Deutschland seit Jahren rückläufig und lag 2020 bei lediglich ca. 7 %. [2] Ein Grund hierfür besteht auch im Güterstruktureffekt, welcher zu einer Verschiebung der Nachfrage in Richtung (häufig containerisierter) Transporte von Halbfertig- und Fertigerzeugnissen führt [3] und mit wachsenden Transportanforderungen verbunden ist. Fehlende ETA-Prognosen in der Binnenschifffahrt Um die Attraktivität der Binnenschifffahrt zur Einbindung in Logistikketten zu steigern, kommt der Erhöhung der Zuverlässigkeit, Transparenz und Effizienz durch die Nutzung digitaler Möglichkeiten eine hohe Bedeutung zu. [1] Ein erster wichtiger Schritt hierzu wurde durch die Einrichtung der River Information Services (RIS) in der Europäischen Union vollzogen, welche u. a. die Einführung des Automatic Identification Systems (Inland-AIS) und eine Bereitstellung standardisierter elektronischer Meldungen (Notices to Skippers, NtS) in der Binnenschifffahrt einschließen. Die verfügbaren Informationen erlauben in erster Linie eine Beurteilung der Ist-Situation, d. h. eine Foto: Florentine / pixelio Digitalisierung TECHNOLOGIE Internationales Verkehrswesen (74) 2 | 2022 70 TECHNOLOGIE Digitalisierung Feststellung der aktuellen Schiffsposition und ggf. vorliegender Einschränkungen auf der Strecke sowie eine intuitive Abschätzung des weiteren Transportverlaufs. Belastbare Prognosen von Ankunftszeiten (Estimated Time of Arrival, ETA), welche für eine zuverlässige Planung und Steuerung von Binnenschifftransporten und der angrenzenden Prozesse von hoher Bedeutung sind, existieren bisher nicht. Zwar werden ETA-Informationen derzeit bereits im Rahmen von AIS übermittelt, doch handelt es sich dabei lediglich um manuell durch die Besatzung eingegebene Angaben mit geringer Verlässlichkeit. [4] Die hohe Unsicherheit liegt insbesondere in den vielfältigen Einflussfaktoren begründet, welche auf die Transport- und Umschlagsprozesse wirken. Eine Abhilfe kann hier der Einsatz von KI schaffen. Insbesondere das Maschinelle Lernen (ML) als ein Teilgebiet von KI bietet ein hohes Potenzial zur automatisierten Bereitstellung verlässlicher ETA-Informationen, indem auf Basis von Daten und der Nutzung von Algorithmen komplexe Wirkungszusammenhänge zwischen Fahrzeiten und verschiedenen Einflussfaktoren erkannt werden. Während Systeme zur Schaffung von Echtzeittransparenz, wie z. B. das genannte AIS, in der Binnenschifffahrt bereits stärker verbreitet sind, werden KI-basierte Lösungen - trotz ihrer enormen Bedeutung für logistische Prozesse [5] - bislang nur selten eingesetzt. Dies gilt auch für den spezifischen KI-Anwendungsfall der ETA-Prognose, der bisher nicht für die Binnenschifffahrt umgesetzt wurde. Im Gegensatz dazu weisen andere Verkehrsträger bereits entsprechende Lösungen auf. So zeigte beispielsweise das Projekt SMECS (Smart Event Forecast for Seaports), welches durch das Fachgebiet Logistik der TU Berlin gemeinsam mit mehreren Praxis- und Forschungspartnern im Rahmen des Förderprogramms Innovative Hafentechnologien (IHATEC) des Bundesministerium für Digitales und Verkehr realisiert wurde, die Machbarkeit einer ML-basierten ETA-Prognose für den kombinierten Straße-Schiene-Verkehr. [6] Die Ergebnisse des Projektes können mittels eines Online-Demonstrators (www. smecs-eta.de) erprobt werden. Darüber hinaus existieren datenbasierte Ansätze auch bereits für den Seeverkehr, wie etwa von Alessandrini et al. (2019) [4] oder Parolas et al. (2017). [7] Diese sind jedoch aufgrund anderer Bedingungen nicht auf die Binnenschifffahrt übertragbar. Forschungsprojekt SELECT Um eine entsprechende Lösung zukünftig auch für die Binnenschifffahrt bereitzustellen, hat das Fachgebiet Logistik der TU Berlin gemeinsam mit mehreren Praxisvertretern, darunter BEHALA, Deutsche Binnenreederei, Duisburger Hafen (duisport) und HGK Shipping, das Forschungsprojekt SELECT (Smarte Entscheidungsassistenz für Logistikketten der Binnenschifffahrt durch ETA-Prognosen) initiiert. Ziel des Projektes, welches von 2020 bis 2023 ebenfalls durch das IHATEC-Programm gefördert wird [8], ist die Entwicklung einer MLbasierten ETA-Prognose und eines darauf aufbauenden digitalen Entscheidungsassistenten für die Binnenschifffahrt. Die in SELECT entwickelte Lösung soll einen breiten Anwendungsbereich und eine hohe Skalierbarkeit aufweisen, weshalb hierzu überwiegend öffentlich verfügbare Datenquellen genutzt werden. Das System soll dabei nicht nur die Prognose der Dauer von Fahrprozessen (inkl. Schleusen und Ruhezeiten), sondern auch die Prognose der Hafenaufenthaltsdauer umfassen und damit eine ETA von Schiffsumläufen über mehrere Häfen hinweg bereitstellen. Der damit verbundene Entscheidungsassistent soll anhand der ETA automatisch Störungen und Ineffizienzen entlang der Prozesskette erkennen und den beteiligten Akteuren geeignete Maßnahmen zur proaktiven Steuerung vorschlagen. Iterativer Entwicklungsansatz unter Einbeziehung von Expertenwissen Zur Realisierung des ML-basierten Systems wird ein iterativer Entwicklungsansatz in Anlehnung an das erprobte CRISP-DM-Modell für datenbasierte Projekte [9] mit folgenden fünf Phasen verwendet. 1. Anforderungsanalyse: Zur Realisierung einer praxisgerechten Lösung werden in der ersten Phase die relevanten Anwendungsfälle und Anforderungen seitens der Praxis an eine Lösung erhoben und geeignete Pilotrelationen für das Projekt festgelegt. Hierbei werden Experten aus der Praxis mittels Interviews und Fragebögen einbezogen, welche alle wesentlichen Akteursrollen der Binnenschifffahrt repräsentieren. Hierzu gehören Terminalbetreiber in See- und Binnenhäfen, Reedereien, Verlader und Infrastrukturbetreiber. 2. Prozess- und Störungsanalyse: In der zweiten Phase werden gemeinsam mit den Praxisvertretern die wesentlichen physischen und informatorischen Prozesse des Binnenschifftransportes aufgenommen und relevante Einflussfaktoren und Störungsursachen mit ihrer Wirkung auf die Prozessdauer identifiziert. 3. Datenbeschaffung und -analyse: Aufbauend auf den identifizierten Einflussfaktoren und Störungen erfolgt in der dritten Phase eine Identifizierung geeigneter Datenquellen sowie deren Beschaffung, Aufbereitung und Analyse. 4. Modellentwicklung: Die vierte Phase beinhaltet die IT-Umsetzung der ETA-Prognose und des Entscheidungsassistenten. Die Prozesskette wird hierzu in abgegrenzte Teilprobleme zerlegt, für welche separate Prognosemodelle entwickelt werden. Die Modelle werden mit historischen Daten trainiert und evaluiert, um- die realisierbare Prognosegüte zu bewerten. 5. Realisierung Gesamtsystem: Abschließend werden alle technischen Komponenten in ein Gesamtsystem integriert, welches eine Prognose von Ankunftszeiten für komplexe Schiffsumläufe erlaubt. Das System wird als Demonstrator mit einer praxistauglichen Benutzeroberfläche bereitgestellt. Vielfältige Potenziale und Anforderungen an eine ETA in der Binnenschifffahrt Für den Einsatz valider ETA-Informationen in der Binnenschifffahrt konnte eine Vielzahl akteursspezifischer Potenziale identifiziert werden. Der höchste Nutzen wird für Binnenschiffreedereien und Partikuliere erwartet, denen die ETA eine Erhöhung der Zuverlässigkeit der Transporte sowie eine Reduktion der Transportkosten durch eine effizientere Fahrweise ermöglicht. Betreiber von See- und Binnenhafenterminals sehen den Nutzen in erster Linie in einer verbesserten Planung und Disposition von Liegestellen, Umschlagskapazitäten und Personal sowie in einer besseren Abstimmung mit Anschlusstransporten. Schleusenbetreiber können auf Basis der ETA Schleusenprozesse in Bezug auf die im Zulauf befindlichen Schiffe und eine Vermeidung von Leerschleusungen optimieren. Spediteuren ermöglicht die ETA eine verbesserte Steuerung der Gesamtkette und eine frühzeitige Anpassung der Disposition im Verspätungsfall, sofern geplante Folgeprozesse nicht mehr eingehalten werden können. Dies führt wiederum zu einer Steigerung der Zuverlässigkeit der Kette, den Abbau unnötiger Risikopuffer und eine Verkürzung von Transportzeiten. Bei einer Analyse unterschiedlicher Anwendungsfälle kommt einer ETA im maritimen Containertransport die höchste Bedeutung zu, was durch die enge zeitliche Taktung der Prozesse in intermodalen Transportketten zu begründen ist. Besonders hoch ausgeprägt ist die Bedeutung für den Export (Vorlauf ), da dieser aufgrund fixierter Closing-Zeiten der Seeschiffe und großen Folgewirkungen einer Verspätung besonderen zeitlichen Restriktionen unterliegt. Internationales Verkehrswesen (74) 2 | 2022 71 Digitalisierung TECHNOLOGIE Anhand der Anwendungsfälle und der akteursspezifischen Potenziale ergeben sich spezifische Anforderungen an die Gestaltung der Prognose. So sollte sich die ETA in erster Linie auf die Ankunft des Schiffes in See- und Binnenhäfen beziehen. Zusätzlich können Angaben für die Ankunft an Schleusen von Nutzen sein. Ein Bezug zur Ladung ist nur im Containertransport und hierbei vor allem für Spediteure und Verlader relevant. Je nach Anwendungsfall sind sowohl kurzfristige Prognosen (z. B. Schleusen: ca. 3-h vor Ankunft) und langfristige Prognosen (z. B. Schichtplanung in Binnenhäfen: ca. 48-h vor Ankunft) von Bedeutung. Darüber hinaus sollte eine hohe Aktualisierbarkeit der ETA gegeben sein. Unterschiedliche Einflussfaktoren auf die Prozessdauer Die hohe zeitliche Unsicherheit bei der Ankunftszeit von Binnenschiffen resultiert aus der Vielzahl von Faktoren, welche die Prozesse beeinflussen. Die relevanten Einflussfaktoren unterscheiden sich laut Expertenmeinung in Bezug auf natürliche und künstliche Wasserstraßen. Während die Schiffbarkeit natürlicher Wasserstraßen maßgeblich durch die Pegelstände beeinflusst wird, sind es im Falle von künstlichen Wasserstraßen insbesondere Störungen der Infrastruktur (z. B. Schleusen, Brücken) sowie das Verkehrsaufkommen an Schleusen und Hebewerken. Eine hohe Bedeutung wird darüber hinaus grundsätzlich den Wetter- und Gewässerbedingungen, jedoch auch den Schiffseigenschaften sowie zeitlichen Faktoren (z. B. Wochentag und Tageszeit der Fahrt) zugewiesen. Einen hohen Einfluss auf die Prozessdauer haben zudem die Betriebsform des jeweiligen Schiffes und sich daraus ergebende gesetzlich vorgeschriebene Ruhezeiten, welche an unterschiedlichen Streckenpunkten erfolgen können. Nutzung von AIS-Informationen und weiteren Datenquellen Im Sinne des gewählten ML-Ansatzes des SELECT-Projektes besteht das Ziel, die genannten Faktoren über geeignete Datenquellen in die zu entwickelnden Prognosemodelle einzubinden und mit historischen Binnenschifftransporten in Verbindung zu setzen. Zur Abbildung eines repräsentativen Ausschnittes wurden daher historische Daten für einen Zeitraum von drei Jahren (2017 bis 2019) für zwei Pilotrelationen beschafft. Als Pilotrelationen des Projektes dienen die Korridore Rhein-Main-Gebiet - ARA-Häfen (via Main, Rhein) und Berlin - Hamburg (via Mittellandkanal, Elbeseitenkanal, Elbe), da diese u. a. sowohl eine Untersuchung der Einflüsse natürlicher als auch künstlicher Wasserstraßen zulassen (Bild 1). Die zentrale Datenquelle des Projektes bilden historische Inland-AIS-Daten vom Anbieter FleetMon [11] mit insgesamt ca. 200 Millionen AIS-Meldungen für die genannten Relationen. Neben Positions- und Bewegungsdaten umfassen diese weitere schiffsbezogene Informationen (z. B. MMSI, Schiffstyp, Tiefgang) und reisebezogene Angaben (Zielhafen, ETA). Reisebezogene Angaben werden, wie in der Datenanalyse festgestellt wurde, bei ca. 90 % der untersuchten Fahrten von der Schiffsbesatzung nicht systematisch gepflegt und sind daher zu vernachlässigen. Neben AIS-Daten erfolgt eine Nutzung weiterer externer Datenquellen. Diese umfassen Wetterdaten [12], Flusspegelstände [13] sowie Meldungen für die Binnenschifffahrt (NtS) zu Infrastrukturstörungen und Eislagen für Deutschland [14] und die Niederlande [15]. Weiterhin wurden Schleusenöffnungszeiten, Geo-Daten zu Wasserstraßen und Hafenterminals sowie unternehmensspezifische Daten, insbesondere seitens der Hafenbzw. Terminalbetreiber, miteinbezogen. Für das Projekt standen jedoch keine Transportauftragsdaten zur Verfügung, sodass eine Identifizierung von einzelnen Schiffsfahrten ausschließlich auf Basis der AIS-Daten vorgenommen werden musste. Hierzu wurde ein Algorithmus entwickelt, welcher mithilfe definierter Geo-Bereiche Fahrten auf bestimmten Relationen in den AIS-Daten erkennt und extrahiert. Eine Herausforderung stellte dabei die Entfernung nicht relevanter Fahrten (z. B. Leerfahrten) dar, welche im Projekt über bestimmte Annahmen (z. B. Entfernung von Fällen mit sehr hoher Fahrdauer) erfolgte, letztendlich aber nur mittels zusätzlicher unternehmenseigener Auftragsdaten eindeutig möglich ist. Mehrere Teilmodelle zur Prognose eines Transportes Der Binnenschifftransport besteht - je nach Transportgut und Relation - aus verschie- Bild 1: Pilotrelationen und Datenquellen im SELECT-Projekt Karte modifiziert übernommen aus [10] Bild 2: Prognoseansätze für Port-to-Port-ETA Internationales Verkehrswesen (74) 2 | 2022 72 TECHNOLOGIE Digitalisierung denen Teilprozessen wie Fahrt, Schleusung, Ruhezeiten und Aufenthalten in See- und Binnenhäfen. Für die Prognose dieser Prozessketten wurde initial im SELECT-Projekt eine Untergliederung in Teilsegmente von Port-to-Port-Transporten in Exportrichtung vorgenommen. Jedes Teilsegment wird durch ein separates Modell repräsentiert, welches die jeweilige Prozessdauer prognostiziert und dabei abschnittsspezifische Einflussfaktoren berücksichtigt. Demnach stellt die Prognose der Durchlaufzeit in See- und Binnenhäfen aufgrund der spezifischen Anforderungen jeweils ein eigenständiges Modell dar. Für die Prognose der Prozessdauern zwischen dem Start- und Zielhafen wurden zwei unterschiedliche Ansätze für die Segmentierung der Prozesskette erprobt, um die optimale Granularitätsstufe für die Entwicklung zu identifizieren (siehe Bild 2). Bei Ansatz 1 bildet ein Gesamtmodell den kompletten Weg von Startbis Zielhafen ab. Ein diesbezüglicher Vorteil besteht in der besseren Prognose von Ruhezeiten auf einer Fahrt, deren Zeitpunkt und Ort vorab nicht bekannt sind. Bei Ansatz 2 wird die Fahrt zwischen Start- und Zielhafen in mehrere Teilprozesse zerlegt, was eine detailliertere Miteinbeziehung lokaler Gegebenheiten wie Pegelstände und Meldungen auf einem Gewässerabschnitt ermöglicht. Durch eine Kombination der einzelnen Teilmodelle kann anschließend die ETA am Zielhafen (Port-to-Port-Prognose) sowie an definierten Zwischenpunkten ermittelt werden. Für die Realisierung der Modelle wird das sogenannte „überwachte“ Lernen verwendet. Dem jeweiligen ML-Algorithmus werden hierbei historische Fahrten (bzw. Segmente davon) präsentiert, für welche die Prozessdauer und vorherrschende Einflussfaktoren bereits bekannt sind. Der Algorithmus extrahiert die Zusammenhänge zwischen Prozessdauer und Einflussfaktoren und bildet diese in einem Modell ab (sog. „Training“). Im Rahmen der Entwicklung werden verschiedene ML-Verfahren erprobt. Neben Künstlich Neuronalen Netzen gehören hierzu die Verfahren Gradient Boosting und Random Forest, die auf einem Ensemble von Entscheidungsbäumen basieren, sowie Support Vector Machines. Prognose der Fahrdauer zwischen Häfen Von hoher Bedeutung für den Einsatz von ML ist die Bildung geeigneter Eingangsvariablen für die Modelle (sog. Features). Diese sollten die relevanten Einflussfaktoren auf die Prozessdauer möglichst gut repräsentieren und zum Prognosezeitpunkt bekannt sein. Die Identifikation geeigneter Features erfolgt im SELECT-Projekt u. a. mithilfe deskriptiver Datenanalysen, bei denen die Zusammenhänge zwischen möglichen Features und der Prozesszeit untersucht werden. Bild 3 zeigt exemplarisch den Zusammenhang zwischen ausgewählten Features und der Fahrdauer in Form von Boxplots und Streudiagrammen. Für alle aufgeführten Faktoren sind hierbei Korrelationen mit der Fahrdauer erkennbar. Features mit hoher Relevanz für die Prognose der Fahrdauer (inkl. Schleusungen und Ruhezeiten) sind beispielsweise zeitliche Features (z. B. Stunde, Wochentag der Abfahrt), Schiffseigenschaften (z. B. MMSI, Schiffstyp, Tiefgang, Länge), die mittleren Fahrzeiten früherer Fahrten und spezifische NtS-Meldungen. Je nach Wasserstraße sind zudem die Pegelstände und die aktuellen Schleusendauern von Relevanz. Von geringerer Bedeutung sind hingegen die jeweiligen Wetterbedingungen. Zur Bewertung der Prognosequalität wurden die trainierten Modelle auf neue Transportfälle angewendet und die Abweichung zu den tatsächlichen Prozesszeiten ermittelt. Die Prognose erfolgt dabei zum Zeitpunkt der Abfahrt des Schiffes aus dem Starthafen. Die derzeitigen Ergebnisse für zwei exemplarische Abschnitte der Pilotrelationen mit jeweils einem Gesamtmodell (Ansatz 1) werden in Bild 4 dargestellt. Für die Relation A (Abschnitt Duisburg - ARA- Häfen, ca. 7.000 Fahrten für Modelltraining und -test) werden 82 % der Fahrten mit einer maximalen Abweichung von 5 Stunden prognostiziert. Der mittlere absolute Fehler (Mean Average Error, MAE) liegt bei 2,7 Stunden. Auf der Relation B (Abschnitt Magdeburg - Hamburg, ca. 1.800 Fahrten) beträgt der MAE derzeit 8,2- Stunden. Die höchste Güte konnte durch die ML-Verfahren Gradient Boosting und Support Vector Machines erzielt werden. Zusätzlich zu einer initialen Ermittlung der ETA bei Fahrtbeginn wurde ein aktualisierbares Prognosemodell getestet, welches Informationen aus bereits absolvierten Teilabschnitten der aktuellen Fahrt miteinbezieht. Mit diesem Ansatz kann die Bild 3: Faktoren mit Einfluss auf die Fahrzeit von Schiffen (Auswahl) Bild 4: Aktuelle Güte der Prognose von Teilprozessen Internationales Verkehrswesen (74) 2 | 2022 73 Digitalisierung TECHNOLOGIE Prognoseabweichung auf der Strecke B beispielsweise auf weniger als eine Stunde reduziert werden. Eine Herausforderung bei der ETA-Prognose in der Binnenschifffahrt stellen lang andauernde Fahrtunterbrechungen dar, welche etwa auf Ruhezeiten, jedoch auch auf Wartezeiten vor Häfen infolge von Terminvereinbarungen zurückgeführt werden können. Da für das Projekt nur wenige Planzeiten zur Verfügung stehen, können solche betrieblichen Unterbrechungen aktuell nur schwer prognostiziert werden. Für eine zukünftige Verbesserung der Prognosequalität ist daher entweder eine Einbindung unternehmensbezogener Auftrags- und Plandaten oder eine systematische Pflege der reisebezogenen AIS-Angaben durch die Schiffsbesatzung von hoher Bedeutung. Prognose von Durchlaufzeiten im-Seehafen Als ein weiteres Teilproblem wurden die Prognose der Durchlaufzeiten sowie die darauf basierende Estimated Time of Departure (ETD) im Seehafen untersucht. Ein Hafendurchlauf besteht aus allen Vorgängen zwischen der Ein- und Ausfahrt eines Schiffes in das Hafengebiet und kann eine Anfahrt mehrerer Terminals zum Laden und Löschen umfassen. Zur Entwicklung der entsprechenden Prognosemodelle wurden ca. 13.600 Hafenanläufe von Binnenschiffen im Seehafen Hamburg ermittelt. Berücksichtige Einflussfaktoren (Features) sind hier zeitliche Parameter, Schiffseigenschaften, Wetterbedingungen und Gezeiten sowie Umschlagszeiten vergangener Fahrten. Die anzulaufenden Terminals wurden als bekannt vorausgesetzt (unabhängig von der Reihenfolge und Anzahl der zu löschenden bzw. zu ladenden Container). Die Prognosequalität in Form des MAE für dieses Teilproblem liegt derzeit bei 11,9 Stunden (siehe Bild 4). Als ML-Verfahren mit höchster Güte haben sich auch hier Support Vector Machines erwiesen. Eine Ursache für die teils noch höheren Prognoseabweichungen stellen ebenfalls Verzögerungen aufgrund von vorab nicht bekannten Prozessen (z. B. Ruhe- und Wartezeiten) dar, welche durch eine Miteinbeziehung von unternehmensbezogenen Daten voraussichtlich genauer bestimmbar sind. Fazit und Ausblick Die bisherigen Ergebnisse des SELECT- Projektes zeigen, dass die Umsetzung einer ML-basierten ETA-Prognose für die Binnenschifffahrt technisch möglich ist. Ein zentraler Erfolgsfaktor hierbei ist die Datenverfügbarkeit. Durch die Einbindung einer Vielzahl öffentlich verfügbarer Datenquellen lässt sich für die Mehrheit der Schiffstransporte bereits eine hohe Prognosegüte erzielen. Dennoch wird auch ersichtlich, dass ein Teil der Prozesszeiten wie etwa Ruhe-, Warte- und Umschlagszeiten nur durch zusätzliche Auftrags- und Plandaten der Reedereien und Terminalbetreiber ausreichend genau prognostizierbar sind. Für die langfristige Umsetzung ist somit ein Hybridansatz denkbar, welcher im Wesentlichen auf öffentlich verfügbaren Datenquellen basiert und - sofern verfügbar - weitere unternehmensspezifische Informationen in die Prognose miteinbezieht. Hierzu erscheint beispielsweise eine Anbindung des ML-Systems an entsprechende Plattformlösungen (z. B. Port Community Systems) als vielversprechend, welche einen geschützten, akteursübergreifenden Informationsaustausch ermöglichen. Insgesamt kann ein hohes Nutzenpotenzial von validen ETA-Prognosen auf Basis von KI bzw. ML für die Binnenschifffahrt konstatiert werden, welches aus Sicht der beteiligten Akteure langfristig eine Attraktivitätssteigerung und damit eine stärkere Einbindung des Verkehrsträgers in Logistikketten verspricht. ■ Webseite von SELECT: www.logistik.tu-berlin.de/ menue/ forschung/ aktuelle_forschungsprojekte/ select/ QUELLEN [1] Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (Hrsg.) (2019): Masterplan Binnenschifffahrt. [2] Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (Hrsg.) (2022): Verkehr in Zahlen 2021/ 2022. 50. Jahrgang. [3] Muschkiet, M. (2013): Binnenschiffgüterverkehr. In: Clausen, U.; Geiger, C. (Hrsg.): Verkehrs- und Transportlogistik, Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag. [4] Alessandrini, A.; Mazzarella, F.; Vespe, M. (2019): Estimated Time of Arrival Using Historical Vessel Tracking Data. In: IEEE Transactions on Intelligent Transportation Systems, 20 (1), S. 7-15. [5] Straube, F. (Hrsg.) (2019): Pathway of digital transformation in logistics. Unter Mitarbeit von Junge,A. L.; Verhoeven, P.; Reipert, J.; Mansfeld, M. Technische Universität Berlin. [6] Weinke, M.; Poschmann, P.; Straube, F. (2021): Decision-making in Multimodal Supply Chains using Machine Learning. In: Kersten, W.; Ringle, C. M.; Blecker, T. (Hrsg.) (2021): Adapting to the future: how digitalization shapes sustainable logistics and resilient supply chain management, S. 301-326, Berlin: epubli. [7] Parolas, I.; Tavasszy, L.; Kourounioti, I.; van Duin, R. (2017): Prediction of Vessels Estimated Time of Arrival (ETA) using Machine Learning - A Port of Rotterdam Case Study. Transportation Research Board 96th Annual Meeting Compendium of Papers. [8] IHATEC (2020): SELECT - Smarte Entscheidungsassistenz für Logistikketten der Binnenschifffahrt durch ETA-Prognosen. www.innovativehafentechnologien.de/ wp-content/ uploads/ 2020/ 03/ IHATEC_ Projektsteckbrief_SELECT_formatiert_2020-03-13_ma-Anhang3. pdf [9] Wirth, R.; Hipp, J. (2000): CRISP-DM: Towards a standard process model for data mining. In: Proceedings of the Fourth International Conference on the Practical Application of Knowledge Discovery and Data Mining, S. 29-39. [10] United Nations Economic Commission for Europe (2018): Map of the European Inland Waterway Network. https: / / unece.org/ DAM/ trans/ main/ sc3/ AGN_map_2018.pdf [11] Daten bereitgestellt von FleetMon.com, Jakota Cruise Systems GmbH. [12] Daten extrahiert vom Climate Data Center (CDC) des Deutschen Wetterdienstes (DWD): Tägliche/ stündliche Stationsmessungen u. a. für mittlere Lufttemperatur, Niederschlagshöhe, Windrichtung und -geschwindigkeit an verschiedenen Stationen, Version v19.3. [13] Daten der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes (WSV), bereitgestellt durch die Bundesanstalt für Gewässerkunde (BfG). [14] Daten bereitgestellt aus dem Informationsportal ELWIS der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes (WSV). [15] Daten extrahiert vom Vaarweginformatie-Webservice der Rijkswaterstaat (RWS) in den Niederlanden. Manuel Weinke Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Technische Universität Berlin weinke@logistik.tu-berlin.de Frank Straube, Prof. Dr.-Ing. Leiter Fachgebiet Logistik, Technische Universität Berlin straube@logistik.tu-berlin.de Peter Poschmann Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Technische Universität Berlin poschmann@logistik.tu-berlin.de Jan Kliewer Studentischer Mitarbeiter, Technische Universität Berlin kliewer@logistik.tu-berlin.de Fynn Gerhardt Studentischer Mitarbeiter, Technische Universität Berlin gerhardt@logistik.tu-berlin.de
