eJournals Internationales Verkehrswesen 74/3

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2022-0048
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EU-Staaten sollten historische Chance nicht verpassen

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Frank Hütten
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Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 17 W arum sollten Verkehrspolitiker und -planer in Brüssel eigentlich besser wissen als ihre Kollegen in den Hauptstädten und Regionen der EU-Staaten, welche Verkehrswege und Logistikeinrichtungen vorrangig ausgebaut werden sollen? Diese Frage wird - mehr oder weniger offen - wieder häufiger gestellt werden, wenn nach der politischen Sommerpause ab September die Diskussionen über die Neufassung der Verordnung für die transeuropäischen Verkehrsnetze (TEN-V) im EU-Ministerrat und im Europäischen Parlament Fahrt aufnehmen. Die vordergründige Antwort lautet: Es gibt keinen zwingenden Grund, anzunehmen, dass es „die in Brüssel“ besser wissen. In Branchenverbänden wird bereits an Listen von Straßen, Bahntrassen, Häfen, Airports und Terminals gearbeitet, von denen Unternehmen oder Verbände meinen, die EU-Kommission habe sie in ihren Vorschlägen für die Überarbeitung der TEN-V- Karten vergessen oder ihren Ausbaubedarf falsch bewertet. Einige Beispiele: Beim Kombinierten Verkehr wundert man sich, dass eines der größten europäischen Umschlagterminals im italienischen Busto Arsizio nur zum „erweiterten“ TEN-V gehören soll. Schienengütertransporteure wie Binnenschiffer wollen, dass die Bahnstrecke von Wörth über das Elsass nach Appenweier ins TEN-V-Kernnetz aufgenommen wird, weil sie bei Problemen auf dem Rhein oder der Rheintalbahn als wichtige Ausweichstrecke gebraucht wird. Auch von den Mitgliedstaaten dürften noch Änderungswünsche an den Karten und an den Kommissionsvorschlägen für die Ausbaustandards kommen. Diskussionen sind etwa über die Definition eines „guten Navigationsstatus“ mit entsprechender Mindestwassertiefe auf den verschiedenen Wasserstraßen zu erwarten. Auch eine deutliche Verlängerung der Liste von „städtischen Knotenpunkten“ trifft bei den Mitgliedstaaten nicht auf „übermäßige Begeisterung“, wie Henrik Hololei, Generaldirektor für Verkehr bei der EU-Kommission, einräumt. Denn das würde unter anderem bedeuten, dass in den aufgelisteten Städten mindestens ein intermodales Terminal stehen muss, das auch 740 Meter lange Güterzüge abfertigen kann. Einen Vorgeschmack auf die Diskussionen gibt auch die Reaktion auf den von der Kommission nachgeschobenen Vorschlag, über die TEN-V-Verordnung die Eisenbahnspurweiten im transeuropäischen Verkehrsnetz zu harmonisieren. Der Ukraine-Krieg zeige gerade, wie wichtig ein einheitlicher Bahn-Binnenmarkt sei, lautet die Begründung der Kommission. Aus Finnland (Breitspur) kam umgehend entschiedener Widerspruch. Nicht umsetzbar und zu teuer, hieß es. Die Mitgliedstaaten lassen sich nicht gerne in ihre Verkehrsplanung hineinreden und sie fürchten die finanziellen Folgen verbindlicher EU-Vorgaben. Das zeigte auch eine erste Aussprache über die TEN-V-Vorschläge im EU-Verkehrsministerrat. Um auf die Eingangsfrage zurückzukommen: Es ist nicht gesagt, dass die EU-Kommission am besten weiß, wie das europäische Verkehrsnetz sich entwickeln sollte. Aber es gibt einen guten Grund, warum sie dabei mitreden muss: Der Blick der nationalen Verkehrspolitiker reicht nämlich immer noch zu oft nur bis zur Landesgrenze. Einen aktuellen Beleg dafür hat der wissenschaftliche Dienst des Europäischen Parlaments geliefert, der sich im Auftrag des EP-Verkehrsausschusses angesehen hat, wofür 22 der 27 Mitgliedstaaten die Milliarden Euro ausgeben wollen, die sie aus dem Corona-Wiederaufbauprogramm der EU erhalten. Fast 450 Milliarden Euro an Zuschüssen und Krediten stehen den 22-Länder zur Verfügung, ein großer Teil soll tatsächlich in Verkehrsprojekte fließen. 384 entsprechende Vorhaben listet der Bericht auf, die Bahn soll am stärksten profitieren. Geld ist für den Verkehr in den nächsten Jahren so viel da wie wohl noch nie. Wann, wenn nicht jetzt, gibt es die Chance, beim Aufbau eines zukunftstauglichen EU- Verkehrsnetzes einen Riesenschritt voran zu kommen? Doch an grenzüberschreitenden Projekten mangelt es in den nationalen Programmen, lautet ein Hauptkritikpunkt in dem EP-Bericht. Nur vier Mitgliedstaaten hätten entsprechende Pläne. Meist handele es um Programme zum grenzüberschreitenden Austausch von Mobilitätsdaten. Ein Straßenbauprojekt in Portugal wird explizit erwähnt. Wahr ist: Das Geld aus dem Corona-Programm ist für nationale Projekte vorgesehen. Für grenzüberschreitende Vorhaben gibt es noch andere EU-Fördertöpfe. Aber das Corona-Geld nicht auch „europäisch“ zu nutzen, hieße, eine historische Chance zu verpassen. Ein europäisches Verkehrsnetz mit Lücken ist kein gutes Netz, egal wie gut die nationalen Verbindungen sind. Das gilt vor allem für den international orientierten Güterverkehr. Außerdem handelt es sich bei den Fördermilliarden um „europäisches“ Geld, das sich die EU in einer beispiellosen Aktion an den Finanzmärkten geliehen hat. Einen solchen Kraftakt wird sie nicht beliebig wiederholen können - wenn überhaupt. ■ Frank Hütten EU-Korrespondent der DVZ Deutsche Verkehrs-Zeitung B E R I C H T A U S B R Ü S S E L VON FRANK HÜTTEN EU-Staaten sollten historische Chance nicht verpassen