eJournals Internationales Verkehrswesen 74/3

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2022-0050
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Soziale Implikationen einer barrierefreien Flugreise

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Marcel Weber
Bernhard Guggenberger
Birgit Jocham
Katharina Werner
Heideline Jelinek-Nigitz
Menschen mit Geh-Einschränkungen müssen im Luftverkehr einen Bordrollstuhl nutzen, mit dem sie vom Gate abgeholt und in das Flugzeug zum Sitzplatz gebracht werden. Aber auch der Toilettengang während des Fluges macht einen Bordrollstuhl für Rollstuhlfahrende unverzichtbar. Dabei kann der Transfer vom eigenen Rollstuhl in den Bordrollstuhl, bzw. vom Bordrollstuhl auf die Flugzeugtoilette für die Betroffenen schmerzhaft und für die Hilfspersonen anstrengend sein. Im Projekt Multifunctional Onboard Accessibility Devices war es u. a. das Ziel, alle Anforderungen und Bedürfnisse aus Sicht potentieller Nutzerinnen und Nutzer eines Bordrollstuhles umfangreich zu analysieren und deren vielfältige spezifische Anforderungen zu verstehen.
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Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 22 Soziale Implikationen einer barrierefreien Flugreise Entwicklungstendenzen innerhalb des Transfers bei rollstuhlfahrenden Menschen Luftverkehr, Öffentliche Verkehrsmittel, Bordrollstuhl, Barrierefreiheit, Transfer, Usability Menschen mit Geh-Einschränkungen müssen im Luftverkehr einen Bordrollstuhl nutzen, mit dem sie vom Gate abgeholt und in das Flugzeug zum Sitzplatz gebracht werden. Aber auch der Toilettengang während des Fluges macht einen Bordrollstuhl für Rollstuhlfahrende unverzichtbar. Dabei kann der Transfer vom eigenen Rollstuhl in den Bordrollstuhl, bzw. vom Bordrollstuhl auf die Flugzeugtoilette für die Betroffenen schmerzhaft und für die Hilfspersonen anstrengend sein. Im Projekt Multifunctional Onboard Accessibility Devices war es u. a. das Ziel, alle Anforderungen und Bedürfnisse aus Sicht potentieller Nutzerinnen und Nutzer eines Bordrollstuhles umfangreich zu analysieren und deren vielfältige spezifische Anforderungen zu verstehen. Marcel Weber, Bernhard Guggenberger, Birgit Jocham, Katharina Werner, Heidelinde Jelinek-Nigitz D ie EU Verordnung EC No 1107/ 2006 widmet sich spezifisch den Fluggastrechten Reisender mit Behinderungen und gilt für alle europäischen Flughäfen, den weltweiten Betrieb europäischer Luftfahrtunternehmen sowie den Betrieb von nicht EU-Luftfahrtunternehmen auf dem Gebiet der EU. Laut der Verordnung sollen alle Reisenden ungeachtet von einer Behinderung oder altersbedingten Mobilitätseinschränkung die gleichen Flugreisemöglichkeiten haben. Die Überwachung der Verordnung, Beschwerdeübernahme und Sanktionierung bei Verstößen obliegt den Mitgliedstaaten. Die Umsetzung der Verordnung seitens der Luftfahrtunternehmen und ihre Überwachung in den Mitgliedsstaaten sind Foto: Ursula / pixabay INFRASTRUKTUR Luftverkehr Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 23 Luftverkehr INFRASTRUKTUR innerhalb der EU von unterschiedlicher Qualität. Im Jahr 2012 hat die Europäische Kommission genaue Auslegungsleitlinien zur Anwendung der Verordnung von 2006 publiziert. Die Auslegungsrichtlinien weisen unter anderem darauf hin, dass die Luftfahrtunternehmen bei der Gestaltung neuer und neu einzurichtender Luftfahrzeuge die Bedürfnisse Reisender mit Behinderungen berücksichtigen müssen. Die Strategien der EU in Bezug auf Menschen mit Behinderungen unterliegen den Prinzipien der Nicht-Diskriminierung und Chancengleichheit. Die Europäische Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen 2010- 2020 streicht unter anderem die Wichtigkeit eines barrierefreien Zugangs zu Verkehrsmitteln hervor. [1] Zugleich wird seit mehreren Jahren am EU Accessibility Act gearbeitet, der umfassende Barrierefreiheit in allen Lebensbereichen vorschreiben wird. Anhand einer Datenerhebung der EU- Statistiken über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) ist mehr als ein Drittel der EU-Bevölkerung physisch und sensorisch behindert - 37 % ab einem Alter von 15 Jahren gaben an, dass sie mäßige bis schwere physische und sensorische Einschränkungen haben. Die Datenerhebung nach Geschlecht zeigte, dass Frauen um 1,6 % stärker von Behinderungen betroffen sind als Männer. Die Datenerhebung nach Alter zeigte, dass in der ältesten Altersgruppe rund zwei Drittel der ab 65-Jährigen von Behinderungen betroffen sind. [2] Ein ähnliches Bild zeigt sich auch am Beispiel Österreich. Laut einem Bericht des österreichischen Bundesministeriums für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz über die „Lage von Menschen mit Behinderungen in Österreich 2016“ haben 18,4 % der Bevölkerung, was ungefähr 1,3 Millionen Menschen beträgt, eine dauerhafte Beeinträchtigung der Beweglichkeit und somit unmittelbar Mobilitätsprobleme. Rund 40.000 Personen, was ungefähr 0,5 % der Bevölkerung ab 15 Jahren entspricht, benutzen dauerhaft einen Rollstuhl. Mobilitätseinschränkungen treten verstärkt bei Menschen ab 60 Jahren auf, eine Altersgruppe, die in Zukunft aufgrund des demografischen Wandels stark wachsen wird. Im Jahr 2050 werden 34 % der Gesamtbevölkerung in Europa über 60 Jahre alt sein. [3] Angesichts der großen und auch in Zukunft steigenden Zahl von Menschen mit Mobilitätseinschränkungen ist der Begriff Barrierefreiheit in Planung und Bau von großer Bedeutung. Barrierefreie Planung in allen gesellschaftlichen Bereichen gibt Menschen mit Mobilitätseinschränkungen die Möglichkeit zur Selbstbestimmung und dadurch eine höhere Lebensqualität. Dazu gehört das Ermöglichen sowohl der selbstständigen täglichen Mobilität als auch der Mobilität auf (Flug-)Reisen. Im Flugverkehr existiert eine Reihe kostenloser Serviceleistungen für Menschen mit eingeschränkter Mobilität, welche von der Abholung vom Eingangsbereich, Unterstützung beim Check-In und beim Zollverfahren bis hin zum Borden in das Flugzeug reichen können. Auch bei der Gestaltung von Flughafengebäuden (z. B. Rampen, Aufzüge etc.) werden die Bedürfnisse von Menschen mit bestimmten Einschränkungen berücksichtigt. Das großzügige Angebot für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen endet jedoch nach dem Borden im Flugzeug und dem Betreten der Flugzeugkabine selbst. Die Auslegung der Fluggastkabinen in der EU zugelassener Luftfahrzeuge unterliegt der europäischen Zertifizierung durch die European Aviation Safety Agency (EASA). Nicht aus der EU stammende Luftfahrzeuge werden von der jeweiligen nationalen Behörde zertifiziert. An Bord europäischer Fluglinien werden im Kurz- und Mittelstreckenverkehr selten Rollstühle zur Verfügung gestellt, welche jedoch für viele mobilitätseingeschränkte Menschen z. B. eine Grundvoraussetzung zur Erreichung der Toiletten darstellen. Die USA setzt hierbei vor allem durch eine Verordnung fest, dass inländische wie auch ausländische Luftfahrtunternehmen ab 100 Sitzplätzen ausreichend Platz für die Unterbringung von Rollstühlen vorgesehen müssen. [4] Unveränderte Transfervorgänge allgegenwärtig Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, haben mehrere Transfers im Rahmen einer Flugreise zu durchlaufen. Derzeit müssen sich die Menschen vor Erreichen des Flugzeuges in einen kabinentauglichen Bordrollstuhl umsetzen oder sich mit Unterstützung von Hilfeleistenden umsetzen lassen. Der eigene Rollstuhl wird nach dem Transfer im Gepäckraum des Flugzeugs verladen. Aus dem kabinentauglichen Rollstuhl werden die Menschen dann in einen normalen Sitz umgesetzt. Diesen Transfer in den Flugzeugsitz können betroffene Menschen oftmals nicht selbst bewältigen. Hier benötigen sie die Unterstützung eines helfenden Menschen oder die Unterstützung einer Flugbegleitung. Diesen Menschen fehlt allerdings oftmals das genaue Wissen, wie sie bestmöglich unterstützen können. Das betrifft zum einen das Wissen, wie die Person im Rollstuhl komplikationslos transferiert wird, und zum anderen, wie dabei der eigene Körper geschont werden kann. Der Transfer ist auch für den unterstützungsbietenden Menschen aufgrund der eingeschränkten Platzverhältnisse mit großen (körperlichen) Anstrengungen verbunden. Übliche Bord- Bild 1: Üblicher Bordrollstuhl im Flugverkehr [5] Quelle: Innovint- Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 24 INFRASTRUKTUR Luftverkehr rollstühle sind einfach gestaltet, vergleichbar mit einem auf Rollen, zum Schieben geeigneten Klappsessel. Sie dienen ausschließlich dazu, Menschen zum Sitzplatz oder bei Verfügbarkeit während des Fluges vom Sitzplatz zur Toilette zu bringen (siehe Bild 1). Zusätzlich ist es für Menschen mit Geheinschränkungen wegen des engen Raums oftmals unmöglich, die Flugzeugtoiletten zu benutzen. Die kabinentauglichen Rollstühle gehören meist dem Flughafen, somit ist während des Fluges kein Rollstuhl in der Kabine vorhanden, mit welchem Passagiere sich in dieser bewegen können. Des Weiteren benötigen Menschen mit Geh- Einschränkungen je nach Art der Behinderung speziell angepasste Rollstühle, beziehungsweise zusätzlich Polster und Sitzhilfen, um z. B. fehlende Muskulatur zu kompensieren, eine schmerzfreie Sitzhaltung zu ermöglichen oder Gesäßpartien zu entlasten, um einen Dekubitus zu verhindern (z. B. bei Querschnittslähmung). Das Sitzen in einem Flugzeugsitz kann für diese Menschen zumindest schmerzhaft, im äußersten Fall auch gefährlich bzw. gesundheitsschädigend sein. Das Umsetzen in die kabinentauglichen Rollstühle und den Flugzeugsitz birgt ebenfalls Verletzungsgefahren,- etwa wenn der beförderte Mensch einen unkontrollierbaren Krampf bekommt und stürzt bzw. fallen gelassen wird. Der Transfer von Menschen in und aus den Rollstühlen sowie in und aus dem Flugzeugsitz kann je nach Behinderungsgrad und dessen/ deren Körpergewicht, aber auch wegen des engen Raumes in der Flugzeugkabine selbst, allgemein für das Flughafenpersonal körperlich anstrengend sein und für beide potenziell zu Verletzungen führen, wenn der Transfer nicht geübt ist. Optimierungsprozess durch analytische Erarbeitung von Bedürfnissen Aufgrund der vorangegangenen Problemerörterung war es ein wesentliches Ziel, die Bedürfnisse und Anforderungen hinsichtlich der Nutzbarkeit von Bordrollstühlen in unterschiedlichen Phasen zu erheben. Gleichzeitig wurden dazu auch die Bedürfnisse und Anforderungen des Kabinenpersonals hinsichtlich eines einfacheren Handlings beim Schieben von Rollstühlen sowie beim Umsetzen von Menschen erhoben sowie zahlreiche Meinungen von Expertinnen und Experten Interessensverbänden, Ergotherapie und Psychotherapie evaluiert. Für eine deskriptive Darstellung der zu erarbeitenden Systemkonzeption ist ein entscheidendes Vorwissen über die unterschiedlichen Problemdimensionen elementar - vor allem hinsichtlich der Generalisierbarkeit. Aufgrund dessen erfolgte innerhalb der Methodologie die Zuhilfenahme von explorativen Elementen, welche durch zwei wesentliche Zugänge charakterisiert waren. Neben einer durchgeführten Befragung, innerhalb dieses Artikels mit dem Fokus auf Menschen im Rollstuhl, wurde zusätzlich ein methodengestützter Vernetzungsworkshop durchgeführt. Die Kombination der zwei qualitativ und quantitativ geprägten Methodologien gewährleistet einen effektiven Zugang auf die unterschiedlichen Problemdimensionen zu den Bedürfnissen und Anforderungen der Bordrollstühle in den unterschiedlichen Nutzungsphasen einer Flugreise. Um eine vergleichende Analyse zu ermöglichen, wurden für die analytische Erarbeitung von Zielgruppen-Bedürfnissen die Faktoren „Individuell“, „Sozial“ und „Organisatorisch“ erarbeitet und diese durch Variablen, hier am Beispiel von rollstuhlfahrenden Menschen, konkretisiert (siehe Bild-3). Ausgeglichenes Geschlechterverhältnis mit viel Flugerfahrungen An der analytischen Untersuchung nahmen insgesamt 63 Menschen, welche auf einer Flugreise auf einen Bordrollstuhl angewiesen sind, teil. Die Altersklassen der Teilnehmenden zeigten dabei ein dominierendes Bild mit 57 % unter den 30 bis 59-jährigen. Dabei ist ein weitgehend ausgeglichenes Geschlechterverhältnis zu verzeichnen - jeweils 44 % weibliches und männliches Geschlecht nahmen an der analytischen Untersuchung teil, wobei 2 % divers als Geschlechtangaben und 10 % sich nicht zur Geschlechtszugehörigkeit äußerten. Befragung von Menschen in Rollstühlen Befragung von Flugpersonal Befragung von Expert/ -innen Workshop mit den betroffenen Personengruppen Deskrip�ve Analyse Allgemeine Fragen Hilfsmi�el Transfer in/ aus dem Rollstuhl Erfahrungen Soziodemografische Fragen Sons�ge Anmerkungen Umgebung/ Hilfsmi�el Ausbildung/ Transfer Anforderungskatalog Bordrollstuhl Faktor: Individuell Faktor: Sozial Faktor: Organisatorisch Themenblöcke Bild 2: Evaluierungsschritte Eigene Darstellung Bild 3: Übersicht der Faktoren und Variablen Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 25 Luftverkehr INFRASTRUKTUR Insgesamt gaben 23 der befragten Menschen an, dass sie vor der Covid-19-Pandemie mindestens eine Flugreise angetreten sind. Weitere 19 sind zweibis viermal im Jahr und 12 sind mehr als viermal im Jahr geflogen. Dabei erhielten die Befragungsteilnehmenden vor allem Unterstützung durch das Bordpersonal (23 Menschen im Rollstuhl) sowie durch Mitreisende (17-Menschen im Rollstuhl). Als die größten Probleme beim Transfer gaben die Befragungsteilnehmenden an, dass der Bordrollstuhl sich nicht ohne Unterstützung einer anderen Person bedienen lässt (20 Menschen im Rollstuhl). Als problematisch werden auch die unpassende Platzierung der Hosenträger-Sicherheitsgurte (neun Menschen im Rollstuhl) und fehlende zusätzliche Haltegriffe für einen sicheren Transfervorgang (neun Menschen im Rollstuhl) genannt. Als sonstige Probleme werden genannt, dass der Bordrollstuhl äußerst unbequem und hart zu sitzen, die Rückenstütze gerade ausgeführt und hauptsächlich für schmale Menschen gebaut ist. Laut einem Befragungsteilnehmenden lassen sich in einigen Flugzeugen die äußeren Armlehnen nicht herunterklappen, so dass ein Transfer vom Bordrollstuhl hinüber in den Sitz nur mit großer Unterstützung möglich ist. Des Weiteren wird genannt, dass der Bordrollstuhl instabil konstruiert ist und die Fußstützen im Weg sind. Außerdem sei es schwer, in den Bordrollstuhl umzusteigen, weil die nicht wegklappbaren Armlehnen zwischen den Sitzen sich nicht verschieben lassen und es schwierig ist, sich über diese weiterzubewegen. In Bezug auf die Zufriedenheit mit dem Bordrollstuhl gab keiner der Menschen im Rollstuhl an, mit der derzeitigen Lösung des Bordrollstuhls sehr zufrieden zu sein. Eine Gruppe von 15 Menschen in Rollstühlen äußerte sich eher zufrieden zu sein, wohingegen sieben angaben, eher nicht zufrieden und sechs überhaupt nicht zufrieden zu sein. Zusammenfassend bekräftigt die Tatsache, dass keiner der befragten Menschen in Rollstühlen angab, mit der derzeitigen Lösung sehr zufrieden zu sein, dass ein Handlungsbedarf für die Überarbeitung des Konzeptes Bordrollstuhl und des entsprechenden Umfeldes bzw. der Umweltfaktoren besteht. Gemäß den Befragungsteilnehmenden stellen Platz- und Sitzkomfort im Bordrollstuhl (15 Menschen im Rollstuhl), der Höhenunterschied zwischen Sitz- und Fußablagen des Bord- und Flughafenrollstuhles (13 Menschen im Rollstuhl) sowie fehlende Haltemöglichkeiten während des Bewegens des Bordrollstuhles (neun Menschen im Rollstuhl) die am häufigsten genannten Probleme dar. Zwei Menschen in Rollstühlen hielten fest, dass ihnen bisher der Bordrollstuhl nur als der am Flughafen verbleibende Transferstuhl präsentiert wurde und, dass es an Bord nie einen gab oder dieser nur selten mitgenommen wurde. Wird der Bordrollstuhl am Flughafen zurückgelassen, schränkt dies die Möglichkeiten an Bord die Toilette zu benutzen stark ein. Als Problem gaben 20 Menschen im Rollstuhl an, dass sich der Bordrollstuhl nicht selbstständig steuern lässt und somit immer externe Hilfe benötigt wird. Ausreichende Hilfsmittel bei einer Flugreise vorhanden Abseits des Flugverkehrs nutzen 23 der befragten Menschen einen manuellen Rollstuhl, neun einen elektrischen Rollstuhl und fünf eine andere Gehhilfe (z. B. Rollator, Stock). Des Weiteren sind sechs Menschen auf eine Hebehilfe oder einen Lifter angewiesen. Lediglich ein Mensch gab an, dass sie keine Hilfsmittel benötigt. Ein Mensch merkte an, dass der Bordrollstuhl eigenhändig bedienbar sein sollte und dass die sehr individuellen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung eine allgemeine Aussage nicht zulassen. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass Menschen zum Teil spezielle Sitzschalen benötigen, um im Rollstuhl stabil zu sitzen. Für diese Menschen könnte ein herkömmlicher Bordrollstuhl nicht benutzbar sein. Rutschbretter sind zwar sperrig, können aber wesentlich zum Gelingen des Transfers beitragen. Sie müssen derzeit jedoch selbst mitgebracht werden. Ein Rutschtuch wäre eine mögliche Abhilfe, da es über ein geringeres Gewicht verfügt, platzsparender ist und wesentlich zur Positionsausrichtung am Sitz beitragen kann. Außerdem sollten Decken und zusätzliche Polster zur Positionierung den Bordrollstuhl-Nutzer/ -innen sowohl auf Kurzwie auch auf Langstreckenflügen zur Verfügung stehen. Etwa drei Viertel der Befragten gaben an, dass sie grundsätzlich bei einer Flugreise ausreichend mit Hilfsmitteln versorgt sind. Transfer in/ aus dem Rollstuhl von Unsicherheiten geprägt Bei der analytischen Untersuchung wurde auch auf das Thema Schulung/ Ausbildung mit den Teilnehmenden eingegangen. Fehlende Schulungen führen zu Unsicherheiten des Flugpersonals im Umgang mit den Menschen im Rollstuhl und mit dem Bordollstuhl selbst. Die Aussage „der beste Bordrollstuhl ist nichts wert, wenn die Crew damit nicht umgehen kann“ spiegelt dabei die Meinung der befragten Menschen im Rollstuhl wider. Abhilfe könnten Schulungen und Sensibilisierungstrainings für das Flugpersonal bringen, damit das Flugpersonal adäquat auf die individuellen Bedürfnisse der Bordrollstuhlnutzer/ -innen eingehen kann. Da Flüge, bei denen ein Bordrollstuhl zum Einsatz kommt, eher selten stattfinden, kann durch die Erstellung von Kurzinformationen (z. B. in Form einer einseitigen Broschüre), zur raschen Wiederauffrischung der Kursinhalte, das Flugpersonal unterstützt werden. Probleme beim Transfer in/ aus dem Rollstuhl ergeben sich im Detail laut den befragten Menschen im Rollstuhl vor allem durch die Unsicherheit in der Transferphase (z. B. durch fehlende Kenntnisse der Bild 4: Übersicht zu den Anforderungskategorien und deren Empfehlungen Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 26 INFRASTRUKTUR Luftverkehr Transfertechniken) (17 Menschen im Rollstuhl), sprachliche Barrieren (z. B. Übersetzungsprobleme) (14 Menschen im Rollstuhl) und durch Missverständnisse in der Kommunikation (z. B. Fehlinterpretationen von Anweisungen) (12 Menschen im Rollstuhl). Fünf Menschen im Rollstuhl gaben an, dass ihnen beim Transfer keine Probleme bekannt sind. Vor allem wurde angegeben, dass die Hilfeleistenden so helfen sollen, wie es die Menschen im Rollstuhl erklären, da jeder Mensch im Rollstuhl individuell unterschiedliche Unterstützung benötigt. Von den Entwicklungstendenzen hin zur Systemoptimierung Die Erkenntnisse aus den analytischen Evaluierungen zeigen zum großen Teil den Bedarf einer Systemoptimierung (siehe Bild 4). Wesentlich genannte Eigenschaften waren hierbei die weitgehend eigenständige Transfermöglichkeit bei Toilettengängen. Dabei steht die Anpassbarkeit der Ausstattung des Bordrollstuhls auf die individuellen Bedürfnisse im Vordergrund. Innerhalb der Kategorie „Umgebung, Infrastruktur und Hilfsmittel“ lässt sich festhalten, dass die Wichtigkeit eines vermehrten Platzangebots beim Transfer, mehr Zeit bei der Transferdurchführung, sowie das Vorhandensein von Haltegriffen besteht. Grundsätzlich kann in der Kategorie „Ausbildung/ Transfer“ hervorgehoben werden, dass es dem Flugpersonal schlichtweg an einer gezielten Ausbildung oder Schulung fehlt, um eine sichere Unterstützung beim Transfer anbieten zu können. Experimentelle Entwicklung unumgänglich Wie sich gezeigt hat, gibt es bei dem Thema Mobilität in und um das Flugzeug bei bewegungseingeschränkten Menschen noch viele offene Punkte. Erste Ansätze, wie die derzeit zur Verfügung stehenden Bordrollstühle verbessert werden können, wurden zwar schon entwickelt, sind aber bei weitem noch nicht optimal einsetzbar. So gibt es einerseits organisatorische Herausforderungen (z. B. dass der Bordrollstuhl gar nicht an Bord bleibt, da er Eigentum des Flughafens ist) und andererseits geben die Menschen in Rollstühlen diverse Punkte im Transfervorgang und der Gestaltung des Rollstuhls an, die Verbesserungspotential aufweisen. Ein großes Anliegen dieser Zielgruppe ist es daher unter anderem, im eigenen Rollstuhl befördert werden zu können, um Umsetzvorgänge zu vermeiden und insbesondere während des Fluges weiterhin den angepassten Sitzbereich vorzufinden. Aktuell besteht jedoch bei keiner Airline die Möglichkeit, den eigenen Rollstuhl mit in die Kabine zu nehmen und während des Fluges zu nutzen. Neben der technischen Umsetzung zeigt sich vor allem auch, dass es einen Bedarf an einer adäquaten Schulung des Bordpersonals gibt. Ein korrekter Einsatz der zur Verfügung stehenden Hilfsmittel ermöglicht zum einen den sicheren Transfer für die betroffenen Personen und gewährleistet zum anderen, dass das Personal ergonomisch und ressourcenschonend arbeiten kann. Um die Entwicklungstendenzen klarer darstellen zu können, müssen zukünftig noch einige Punkte geklärt werden. Das betrifft vor allem die Materialbeschaffenheit und die Ausstattungselemente eines Bordrollstuhls, um Komfort für die betroffenen Personen und die Handhabbarkeit zu optimieren. Ein weiterer Punkt wäre eine Analyse der Bewegungsabläufe von Rollstuhlnutzerinnen und -nutzern, um zu evaluieren, welche entsprechenden verhaltensbasierten Maßnahmen in die Systemkonzeption übernommen werden müssen. Die Evaluierung der Anforderungen und Bedürfnisse aus Sicht potentieller Nutzerinnen und Nutzer eines Bordrollstuhles stellt eine Basis für weitere Entwicklungsschritte dar. Sie zeigt, dass das Individuum, die Umgebung und die Aufgabe nicht getrennt voneinander betrachtet werden können. So ist es wichtig, nicht nur in der Planung und Konzeptionierung, sondern auch während der Erarbeitung von Gestaltlösungen potentielle Nutzerinnen und Nutzer sowie Expertinnen und Experten in den Entwicklungsprozess miteinzubinden und laufend aufgabenorientierte und kontextbezogene Evaluierungen durchzuführen. Konkret wurde der erste Schritt in den hier präsentierten Ergebnissen geliefert. Diese zeigen die hohe Relevanz der Weiterentwicklung der derzeit vorhandenen Bordrollstühle. Eine spätere Evaluierungsschleife wird zeigen, ob die Anliegen der betroffenen Personen in ihrem Sinne mitaufgenommen werden konnten. ■ Katharina Werner, Dipl. Ing. Mag. Senior Researcher, raltec, Wien k.werner@raltec.at Heidelinde Jelinek-Nigitz, Mag.rer.soc.oec Aviation Management, Institut Luftfahrt/ Aviation, Department of Engineering, FH Joanneum Graz heidelinde.jelinek-nigitz@ fh-joanneum.at Birgit Jocham, B.Sc., M.Sc. Lecturer, Institut Physiotherapie, FH Joanneum Graz birgit.jocham@fh-joanneum.at Bernhard Guggenberger, B.Sc., M.Sc. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut Physiotherapie, FH Joanneum Graz bernhard.guggenberger2@ fh-joanneum.at Marcel Weber, Dipl.-Ing., B.Sc. Projektassistent, Institut für Verkehrswissenschaften, Technische Universität Wien marcel.weber@tuwien.ac.at HINTERGRUND Forschungskonsortium widmete sich seit zwei Jahren diesem Thema Die hier dargestellten inhaltlich interpretierten empirischen Datenerhebungsergebnisse stammen aus Forschungstätigkeiten der Institutionen netwiss OG, Technische Universität Wien, FH Joanneum sowie raltec - research group for assisted living technologies und wurden im Förderprogramm „Take Off“ durch das Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Mobilität, Innovation und Technologie sowie der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) gefördert. QUELLEN [1] Commission, Directorate - General for Mobility and Transport (Hg.) 2021: Study on the EU Regulatory Framework for Passenger Rights - Part A, Evaluation of Regulation (EC) No 1107/ 2006 on the rights of persons with disabilities and with reduced mobility when travelling by air. https: / / data.europa.eu/ doi/ 10.2832/ 388432 (Zugriff: 2022- 07-06). [2] European Union (Hg.) 2014: Functional and activity limitations. http s : / / e c . e u ro p a . e u / e u ro s t a t/ s t a t i s t i c s e x p l a i n e d / i n d e x . p h p ? t i t l e = F u n c t i o n a l _ a n d _ a c t i v i t y _ l i m i t a t i o n s _ statistics#Functional_and_activity_limitations (Zugriff: 2022-07- 06). [3] Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz (Hrsg.) 2016: Bericht der Bundesregierung über die Lage der Menschen mit Behinderungen in Österreich 2016, S. 239ff., Wien. [4] Department of Transportation (Hrsg.) 2014: Nondiscrimination on the basis of disability in air travel, accessibility of aircraft and stowage of wheelchairs, Part 382-Nondiscrimination on the basis of disability in air travel, §382.67 - What is the requirement for priority space in the cabin store passengers’ wheelchairs? , 13.01.2014. [5] INNOVINT Aircraft Interior GmbH (Hg.): Passenger Service On-Board Wheelchair. https: / / innovint.jimdo.com/ app/ download/ 11291450928/ IAI_OBW-2218_Rev.1.3.pdf (Zugriff: 2022-07-06).