eJournals Internationales Verkehrswesen 74/3

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2022-0061
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Integration des Straßenpersonennahverkehrs in den Deutschlandtarif

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Kilian Saenger
Christian Grotemeier
Florian Heinitz
Das über den Sommer 2022 hinweg gültige 9-Euro-Ticket sorgte in erster Linie wegen des überdeutlichen Preissignals für breite mediale Aufmerksamkeit. Dabei bewirkte die gleichzeitig vollzogene, wenn auch nur vorübergehende deutschlandweite Tarifintegration mit dem straßengebundenen ÖPNV ebenfalls spürbare Erleichterungen auf der Nutzerseite. Eine kurz vor dessen Einführung fertiggestellte Untersuchung lotete anhand identifizierter Lücken und der Quantifizierung erzielbarer Nachfrageeffekte gestaffelter Integrationsschritte bereits die Potenziale einer dauerhaften Lösung zur umfassenden tariflichen Verknüpfung von Straße und Schiene aus.
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Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 73 ÖPNV MOBILITÄT Integration des Straßenpersonennahverkehrs in den Deutschlandtarif Intermodale Reisekette, Tarifintegration, Vertriebssystem, ÖSPV, SPNV, SPFV, Verkehrsverbund, 9-Euro-Ticket Das über den Sommer 2022 hinweg gültige 9-Euro-Ticket sorgte in erster Linie wegen des überdeutlichen Preissignals für breite mediale Aufmerksamkeit. Dabei bewirkte die gleichzeitig vollzogene, wenn auch nur vorübergehende deutschlandweite Tarifintegration mit dem straßengebundenen ÖPNV ebenfalls spürbare Erleichterungen auf der Nutzerseite. Eine kurz vor dessen Einführung fertiggestellte Untersuchung lotete anhand identifizierter Lücken und der Quantifizierung erzielbarer Nachfrageeffekte gestaffelter Integrationsschritte bereits die Potenziale einer dauerhaften Lösung zur umfassenden tariflichen Verknüpfung von Straße und Schiene aus. Kilian Saenger, Christian Grotemeier, Florian Heinitz Z ur Erreichung der kommunizierten Klimaschutz-, Umwelt- und Energiesparziele werden alle Umstände, die einer dauerhaft stärkeren und möglichst smart kombinierbaren Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel abträglich sind, fortwährend und systematisch in den Blick genommen. Jenseits von Anstrengungen für Angebots-, Fahrgastinformations- und Zugangsverbesserungen, Kapazitätsausbau sowie vom Bund (temporär) geförderten Fahrpreissubventionen mit ihren offenkundigen Nachfrage-, aber auch Erlöseffekten bleiben durch die selbst innerhalb des ÖPNV an gewissen Punkten noch unvollständige Tarifintegration und damit teilweise fehlende Verbindungsgarantie Potenziale ungenutzt 1 . Dies berührt auch weitere Belange, etwa in Hinblick auf die verbesserte Gestaltung von Bahnhofszubringerverkehr, welcher - von der PKW- Inanspruchnahme geprägt - auf begrenzte Kapazitäten u. a. für P+R stößt 2 . Nicht durchbuchbare bzw. unvereinbare Tarife stellen eine nicht zu unterschätzende Zugangsbarriere dar - angefangen mit der Notwendigkeit für ortsfremde Kunden, sich mit Fahrscheinautomaten (oder heutzutage Apps) und den zugrunde liegenden Tarifwerken einer Region auseinandersetzen zu müssen - bis hin zur Unattraktivität in preislicher Hinsicht. Da das Schienennetz hierzulande lediglich 38 % der Bevölkerung innerhalb eines Haltestellenradius von 1.200 Metern erreicht 3 , ist das Angebot des ÖSPV auf vielen Relationen unabdingbar. Gleichwohl sind (i) SPNV+ÖSPV in der Regel nicht außerhalb von Verkehrsverbünden bzw. Landestarifen 4 und (ii) ÖSPV+ (SPNV)+SPFV nicht außerhalb des DB- Citytickets (und auch bei diesem nicht optimal) durchtarifiert. Die in Bild 1 gezeigte Analyse identifiziert zunächst vier Fälle noch vorhandener Lücken einer Durchtarifierung zwischen Schiene und Straße im Inland. Dieses wird in Bild 2 an zwei Praxisfällen verdeutlicht. Im Beispiel zu Fall (i) schafft das 9-Euro-Ticket vorübergehend Abhilfe, während es auf der Relation im Fall (ii) auch derzeit nicht möglich ist, den U-Bahn-Abschnitt für die Anschlussmobilität in Oberursel in den Fernverkehr „durchzutarifieren“. Schwerer wiegt es gerade bei Kundschaft, die mit einem hohen Sicherheitsbedürfnis ausgestattet ist, wenn allfällige Verspätung auf Seiten des ÖSPV zu einem Anschlussverlust führt, der auch noch mit der Entwertung des zuggebundenen ICE- Tickets einhergeht. Legende ÖSPV SPNV SPFV Abgedeckt durch Verbundtarif Abgedeckt durch Landestarif Abgedeckt durch Deutschlandtarif Abgedeckt durch Kooperation zwischen DB Fernverkehr und Deutschlandtarifverbund (bisher keine Kooperation mit weiteren Eisenbahnverkehrsunternehmen) Bislang keine Durchtarifierung möglich * Sofern nicht durch City-Ticket von DB Fernverkehr abgedeckt (allerdings auch hier ohne Anschlussgarantie) ** Sofern nicht durch Verbundkooperation abgedeckt *** Eine automatische Berücksichtigung von Tickets mit Gültigkeit auf einer Teilstrecke ist bisher oftmals nicht möglich V L D K X Verbund D V X* L D X** Verbund C Verbund B Verbund A Landestarif A D*** Abo K X* X* außerhalb Bild 1: Existierende und zu schaffende Durchtarifierungsoptionen Quelle: Autoren Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 74 MOBILITÄT ÖPNV Die lange bekannte Problematik kann durch eine Ausweitung des gerade eingeführten Deutschlandtarifs (DT) gelöst werden, wobei sich die Produktbündelung dann auf den ÖSPV generell und nicht nur die bereits im DT enthaltenen Busverkehre auf ehemaligen Bahnstrecken bezieht. Auch wenn mit einem solchen Eingriff im Sinne übergreifender Ziele agiert wird, sollten weder die beteiligten Verkehrsunternehmen zusätzliche Komplexität und Erlösrisiken aufgesattelt bekommen, noch größere Subventionstatbestände neu geschaffen werden. Insofern müsste eine Praxisumsetzung die nötigen Implementierungs- und Transaktionskosten minimal halten. Es ist vorab zu klären, wie die Durchtarifierung erwirtschaftet werden kann. Für eventuelle, verkehrs- oder sozialpolitisch motivierte Fahrpreissenkungen, etwa beim perspektivischen „Kilometeranstoß“ zwischen entfernungsdegressiven Tarifen von - im Jedermann-Verkehr auch subventionsbedingt 5 - verschiedener Höhe, sollte idealerweise durch eintretende Mehrerlöse bei sehr geringen Grenzkosten zur Beförderung der „intermodalen Fahrgäste“ für die erforderliche Kompensation gesorgt sein. Angesichts der Tatsache, dass das Gros der 217.000 Bushaltestellen deutschlandweit in verkehrsreichen Regionen liegt und weitgehend über Verbünde erschlossen wird, zudem „Flatrate-Tickets“ für immer mehr Zielgruppen ausgereicht werden, ist die intuitiv richtig erscheinende Idee für das Residuum mit einem Aufwand-Nutzen- Verhältnis zu belegen. Damit stellt sich für die insbesondere ländliche Räume betreffenden o. g. Fälle die Frage nach wirtschaftlich tragfähigen Realisierungsmöglichkeiten einer Durchbuchbarkeit/ Durchtarifierung - ausgehend von der Abschätzung der Größe der den Nachfragesegmente und des Ausmaßes der positiven Nachfragereaktion. Realisierungsansätze und deren Grenzen Auch unter Bedingungen einer auf unterschiedlichen institutionellen Grundlagen von SPNV, SPFV und ÖSPV und der Abgrenzung der Verkehrsverbünde untereinander fußenden Marktfragmentierung können pragmatische Lösungen wie z. B. die Gewährung einer kostenlosen Busanschlussfahrt in SPNV Niedersachsen oder die Ausschöpfung neuer technologischer Möglichkeiten wie der App-gestützten Suche und Ausstellung des Tickets nach dem besten verfügbaren Tarif zwischen Checkin- und Check-out-Punkten (z. B. nach dem Prinzip von FAIRTIQ bzw. nationale Smartcards wie in Dänemark 6 ) Abhilfe im Sinne deutlicher Vereinfachung und damit höherer Attraktivität des Gesamtsystems ÖPNV schaffen. Die ab 2023 gültige EU-Verordnung 1371 7 wie auch bereits der novellierte Artikel 13a der Direktive 2012/ 34/ EU im Rahmen des Vierten Eisenbahnpakets fordern alle Beförderer (zumindest auf der Schiene) geradezu zur Zusammenarbeit auf, um diskriminierungsfrei Durchgangsfahrkarten zu verkaufen sowie im Verspätungsfall alternative Verbindungen auf den Landweg nutzbar zu machen. Auf europäischer Ebene existieren seit Jahren Überlegungen, wie eine Tarifintegration im EU-Binnenmarkt technologisch und regulatorisch ausgestaltet werden kann. 8 Wieder einmal zeigt der Blick in die Schweiz, dass man auch in einer ähnlichen Konstellation, die ebenfalls von Föderalismus und einer Vielzahl regionaler Verkehrsverbünde - gleichwohl einem gegenüber Deutschland neunmal höheren Pro- Kopf-Aufkommen bei zugleich signifikant höheren spezifischen Staatsausgaben - geprägt ist, den ÖSPV landesweit durchaus integrieren kann (Bild 3). Im Nachbarland bestehen schon sehr langjährige Erfahrungen mit einem nationalen Gemeinschaftstarif und landesweiten Netzkarten im gesamten ÖV. Dies führt neben preislicher Attraktivität zu einer Aufwandsentlastung sowohl für Kunden als auch für das Fahrpersonal 9 . Darüber hinaus wurde im Projekt Tarifdatenbank „NOVA“ 10 eine Plattform zur Datenbereitstellung, insbesondere für alle MaaS-Apps, geschaffen, welche die Harmonisierung sowie Innovationen wie das EasyRide-Check-In-System der SBB oder gänzlich neue virtuelle Tarifmodelle (z. B. Idee der „Home Zone“ 11 ) unterstützen kann. Die Nachfrage fördernde Formen der Leistungs- und Preisbündelung einschließlich der „Verbindungsgarantie“ für zusammenhängende Leistungsbausteine finden sich außerhalb des ÖPNV traditionell bei Pauschalreisen sowie von Airline-Allianzen teils in Kooperation mit Bahngesellschaften offerierten Codeshare-Umsteigeverbindungen als virtueller Angebotserweiterung. Die Netzintegration verbreitert die Markpräsenz und generiert Passagierzahlzuwächse. 4 Schleusingen Coburg Lichtenfels ÖSPV (hier: Bus) SPNV 6,80 € (Normalpreis) 7,70 € Hohemark, Oberursel Oberursel (Ts.) Frankfurt/ M. Hbf Berlin Hbf ÖSPV (hier U-Bahn) SPNV SPFV 32,80 € (Sparpreis), Wiederbeschaffungswert: 100 € 2,20 € (i) (ii) Bild 2: Beispiele fehlender Durchtarifierung Quelle: Autoren Verordnung über die Personenbeförderung Art. 56 und 57 Personenbeförderungsgesetz Art. 16 und 17 Übereinkommen 500 Tarife und Vorschriften NDV und Verbünde PBefG §§13,39,51 Vertragswerk Deutschlandtarif Vorschriften Deutschlandtarif und Verbünde SPFV SPNV Vorschriften der eigenwirtschaftlichen EVU Vergleich der nationalen Tarife im Schienenverkehr Deutschland / Schweiz: + ÖSPV-Integration + Nationale Tarifdatenbank „NOVA“ ÖSPV Allgemeines Eisenbahngesetz § 12 Abs. 1 NVGe Länder Bild 3: Rechtsrahmen für Durchtarifierung Schweiz vs. Deutschland Quelle: Autoren Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 75 ÖPNV MOBILITÄT Bemerkenswert ist die bereits 2009 publizierte Fallstudie einer Night&Flight-Kombination für Hin- und Rückreise 12 . Die Merkmale für Kunden attraktiver intermodaler Reiseketten unter Einschluss der Bahn können in Anlehnung an die von IRG-Rail 13 definierten „Cluster“ stufenartig mit steigendem Integrationsgrad und damit Anspruch z. B. wie folgt klassifiziert werden: •• Stufe 1 - Die Reisekette wird als gesamthafte Verkehrsdienstleistung dargestellt. Voraussetzung ist der Zugriff auf die jeweiligen Echtzeit-Fahrgastinformationen der Leistungspartner. •• Stufe 2 - Vertriebliche Integration: Für die gesamte Reisekette kann ein gültiger Fahrschein erworben, umgebucht und soweit im Tarif vorgesehen storniert werden. Der Fahrpreis ergibt sich dabei als Summe der Einzelpreise (Preisanstoß). Voraussetzung ist der Zugriff auf die Vertriebs- und Reservierungssysteme der jeweils anderen Verkehrsunternehmen. •• Stufe 3 - Gemeinsames Leistungsversprechen: Aufhebung eventueller Zugbindung im Verspätungsfall/ bei Anschlussverlust (z. B. Railteams „Hop on next available train“-Service 14 selbst bei nicht durchgehenden Fahrscheinen) •• Stufe 4 - Tarifliche Integration: Eine kombinierte Nutzung von Verkehrsmitteln innerhalb der Reisekette wird begünstigt (z. B. Preisdegression per Kilometeranstoß, Hub-Prämie). Voraussetzung ist eine Vereinbarung der Verkehrsunternehmen über Aufteilung entstehender Durchtarifierungsverluste. •• Stufe 5 - Volle Integration (z. B. AirRail) mit gemeinsamer Gewährung voller Fahrgastbzw. Fluggastrechte auf jedem- Reiseabschnitt durch alle beteiligten Verkehrsunternehmen (EU-VOn 1371/ 2007 bzw. 261/ 2004) mit Ankunftsgarantie bis hin zur Kostenübernahme von Taxifahrten und einer Hotelübernachtung. Es liegt auf der Hand, dass sich diese Agenda auf den verschiedenen Teilmärkten nicht von selbst und schon gar nicht im gleichen Tempo in die Tat umsetzt. Organisatorisch-technischer Mehraufwand, Verzicht auf bisherige (Höhe der) Vertriebsprovisionen, Opportunitätskosten der Sitzplatzvergabe, die nötige Vorhaltung von Reservekapazität bei der verstärkten Wahl tendenziell „risikoreicherer“ Verbindungen, zusätzliche Budgets wegen Erlösschmälerung, nationale Befindlichkeiten bei grenzüberschreitenden Angeboten und die unmittelbaren Kosten der Fahrgastrechte stellen die wesentlichsten Hemmnisse, die jedoch zum Teil überwindbar sind, dar. Forschungsstand Die Sekundärforschung 15 ergab die in Tabelle 1 zusammengestellte Auswahl aus dem Spektrum empirischer Ergebnisse. So oft wie die grundsätzliche Bedeutung einer Tarifintegration auch aktuell wieder betont wird und deren positive Wirkung auf die ÖPNV-Nachfrage unumstritten ist 16 , so überschaubar ist die Menge von (neueren) Arbeiten, welche den Versuch unternehmen, den konkreten Nachfrageeffekt von Durchbuchbarkeit und Durchtarifierung innerhalb des ÖPNV verallgemeinerbar zu beziffern. Das größte Problem hierbei ist die Gewinnung eines standardisierten Effektmaßes - einerseits raum-zeitlich, zum anderen da vom MIV gewonnene Kunden nicht immer klar abgegrenzt und sie zudem oft gar nicht über die tatsächlichen ÖPNV- Preise im Referenzfall informiert sind. Die Separation des Effekts der Tarifintegration von weiteren Nachfragedeterminanten wie einer intermodalen Fahrplanoptimierung, Parkraumverknappung sowie Veränderungen des Mobilitätsverhaltens wird umso schwieriger je längerfristiger die Beobachtung erfolgt. Ferner sind z. B. der entfallende Aufwand für mehrmaligen Ticketkauf und die Nutzung einer Verbindungsgarantie im Unterschied zu maßgeblichen Kenngrößen der Angebotsqualität wie Gesamtreisezeit und Preis nicht klassischerweise Bestandteil verwendeter Nutzenfunktionen der Modalwahlmodelle. Während sich die Auswirkungen eines Kilometeranstoßes über das zugrunde liegende Preismodell berücksichtigen lassen, handelt es sich bei der Durchbuchbarkeit um ein nur einmalig veränderndes dichotomes, selten operationalisiertes Angebotsmerkmal. Doch gerade die Verbindung zum ÖSPV verdiente tiefergehende Untersuchungen, etwa inwieweit die in der MiD 2017 differierenden Anteile (SPNV: 23 %, SPFV 13 %) mit dem Schienenverkehr kombinierter ÖSPV-Nutzung auch auf unterschiedliche Tarifintegration zurückzuführen sind (Bild 4). Potenzialabschätzung Die landesweit generierbaren Mehrverkehre pro Jahr sind überschlägig zu ermitteln. Für die definierten Stufen der Tarifintegration wird jeweils das Produkt aus dem relevanten Wegeaufkommen in beförderten Personen (befP) und prozentualem Nachfrageanstieg abgeschätzt. Eine Systematisierung hinsichtlich User/ Non-User sowie des Einflusses auf Zugangs- und Hauptverkehrsmittelwahl ist in mehrstufigen Verkehrsmodellen möglich. Angesichts der vagen Literaturbefunde und ihrer fehlenden Aktualität und Verallgemeinerbarkeit wurde eine eigenständige Herleitung der Nachfragereaktion bis Stufe 4 vorgenommen. Für die Fernverkehrsrelation Beispiel (ii) ergeben sich bis zu 11,41 EUR Rabatt auf den Fahrpreis (Tabelle 2). Das entspricht einer Ersparnis von bis zu 41 % des Sparangebots, hingegen nur 2,5 % in Bezug auf einen Normalpreis. Im SPNV ist die Zugbindung irrelevant, dafür kommt die degressive Preiskurve zum Tragen, wodurch im Beispiel (i) der durchgehende Tarif fast 20 % günstiger wäre. Autor (Jahr) Untersuchungsgebiet Ggfs. Zeitraum Methode, Anmerkungen Nachfragereaktion Matas (2004) Großraum Madrid 1987-2001 Retrospektiv, parameterbasiert, alle nicht anderweitig erklärbaren Nachfrageanstiege auf das integrierte Ticketsystem zurückgeführt Kurzfristig +3,4 % Bus +5,3 % U-Bahn Langfristig +7/ 15 % Abrate et al. (2009) 69 Transportunternehmen in Italien Retrospektiv, Paneluntersuchung Kurzfristig +2,7 % ÖPNV Langfristig +12,7 % ÖPNV NEA (2003) Rom 1995-1997 Retrospektiv, parameterlos, längere Zeitreihen betrachtet +6 % ÖPNV Manchester 1999- 2001 +4 % (nur Bus) Hamburg 1967-2002 +19 % ÖPNV Paris 1975-1993 +33 % ÖPNV Stockholm 1973-2001 +25 % ÖPNV Eisenkopf et al. (2013) EU-weit Nicht-repräsentative SP- Nutzerbefragung aus EU-Staaten, hier: vollständige Durchtarifierung unterstellt Wechselwillige Non-User ÖPNV 1,3 % (Bus) 1,6 % (Bahn) Niedersachsen Tarif GmbH (2022) Niedersachsen Schätzung +2,8 % (Bartarif) +2,1 % (Zeitkarten) Tabelle 1: Untersuchungen zu Effekten von Durchbuchbarkeit und Durchtarifierung Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 76 MOBILITÄT ÖPNV Die weitere Potenzialabschätzung ist in Tabelle 3 dokumentiert. Für die Eingrenzung des Marktsegments in SPNV konnte auf Eckdaten des Deutschlandtarifverbunds zugegriffen werden. Die Hochrechnung der Ergebnisse kommt zu dem Schluss, dass jährlich rd. 29 Mio. Bahnreisen im SPNV profitieren würden und basierend darauf je 1,7 Millionen Reisende bei ÖSPV und Regionalverkehr dazugewonnen werden können. Die Ergebnisse für den SPFV deuten, ausgehend von relevanten 62 Mio. Reisen, auf einen Zuwachs von 1 Mio. Reisen jährlich hin. Der Verlagerungseffekt vom MIV erbringt zusätzlich 3,4 Mio. beförderte Personen jährlich, wobei auch hier die Auswirkungen auf die Fahrgelderlöse und Zusatzkosten für ÖSPV, SPFV und SPNV noch getrennt zu betrachten wären. Fazit Ein Fahrschein für Bus und Bahn - das ist die prägende Idee für das Erfolgsmodell „Verkehrsverbund“. Dennoch gibt es wie gezeigt noch für viele Verkehrsbeziehungen kein einfaches vertriebliches bzw. sogar tarifliches Angebot. Die Schwäche des öffentlichen Verkehrs ist, dass Verwaltungsgrenzen zum Teil mehr Einfluss auf die Angebotsgestaltung haben als der eigentliche Kundennutzen. Der Gesetzgeber hat es bisher nicht vermocht, die in § 12 Absatz 1 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG) vorgegebene „direkte Abfertigung“ bzw. „durchgehende Tarifierung“ auch intermodal festzuschreiben. Soweit diesbezügliche Markteingriffe als vertretbar angesehen werden, könnte der Bund z. B. im Zuge der Verhandlungen für höhere Regionalisierungsmittel dies als eine Forderung in die Verhandlung einbringen und im Regionalisierungsgesetz verankern. Mit Blick auch auf neue, multimodale Angebote wäre es wünschenswert, wenn der Gesetzgeber alle öffentlich-finanzierten Verkehrsunternehmen verpflichten würde, Daten und technische Standards bereitzustellen, damit auch weitere Mobilitätsanbieter eine direkte Abfertigung ermöglichen können. Mit dem 2020 gegründeten Deutschlandtarifverbund besteht nun auch eine Organisation, die diese verbundbzw. länderübergreifenden Aufgaben koordinieren könnte. Die Schweiz kann hier, wie bereits angeführt, als Blaupause dienen. Entscheidungsvorbereitend wurde die Relevanz einer bundesweiten tariflichen bzw. vertrieblichen Verknüpfung im Beitrag analysiert, wobei die zugehörige Kostenbetrachtung noch aussteht. Die Untersuchung kommt zum Schluss, dass rund 65 Mio. beförderte Personen jährlich von einem derartigen Angebot profitieren könnten. Gleichzeitig ergibt sich neben einem erreichbaren Nachfragepotenzial von weiteren 6,1 Mio. beförderten Personen ein schwer abzuschätzender, aber positiver kommunikativer Effekt, wenn in Deutschland Bus und Bahn immer mit einem Fahrschein nutzbar sind. Das 9-Euro-Ticket hat sehr gut gezeigt, welche Aufmerksamkeit das Themenfeld „Bus und Bahn“ in einem bundesweiten Kontext erzielen kann. Angestoßen durch das 9-Euro-Ticket gibt es aktuell eine große (fach-)öffentliche Diskussion über Tarif- und Vertriebssysteme. Gleichzeitig wächst bei vielen Unternehmen, Aufgabenträgern und der Politik eine Bereitschaft, bestehende Systeme zu verändern. Dieses „strategische Fenster“ sollte genutzt werden, um auch die Integration des ÖSPV in den Deutschlandtarif voranzubringen. In vielen Diskussionen wird derzeit auf das unterschiedliche ÖPNV-Angebotsniveau zwischen Stadt und Land hingewiesen. Hier besteht in der Tat ein großer Handlungsbedarf für attraktivere öffentliche Mobilität im ländlichen Raum. Von der Integration des ÖSPV in den Deutschlandtarif würden insbesondere Menschen außerhalb der Verbundgebiete profitieren. Es Stufe Annahmen Monetärer Wert anhand Bsp. (ii) 1 bereits weitgehend realisiert 0,00 EUR 2 Zeitaufwand bei der Ticketbuchung 1 min x Stressfaktor 17 2,5 x Value of Time 12 EUR/ h 0,50 EUR 3 Sicherheitsäquivalent bei 2 % Wahrscheinlichkeit des Anschlussverlusts (nur Wiederbeschaffung des SPFV-Fahrscheins ohne Kosten der Reisezeitverlängerung) 8,91 EUR 4 Reduktion ÖSPV-Kosten aufgrund Kilometeranstoßes 2,00 EUR Tabelle 2: Nutzerkostenersparnis am Beispiel „User“ Fall (i) Reiner SPNV, Verbund-übergreifend bzw. überregional, ohne Zeitkarten, Mehrtageskarten, pauschale QDL- und Ländertickets ≈ 59 Mio. befP/ Jahr (Quelle: DTV) Anmerkung: 67 % der Reisen haben an Startund/ oder Zielort City-Gleichstellung, rund 15 % davon sogar an beiden Enden der Reise (Quelle: DTV) Annahme: Für 50 % des Restes ist die Anschlussmobilität nicht durch den SPNV lösbar (kein Zu-/ Abgang über Nahverkehrshalte), aber ÖSPV-relevant ≈ 29 Mio. befP/ Jahr Nachfragezuwachs bei 15 % mittlerer Ersparnis bei mittelfristiger direkter Preiselastizität ε P,dir =-0,4 = + 1,7 Mio. befP/ Jahr 18 „User“ Fall (ii) SPFV 2019: 151 Mio. befP/ Jahr 19 Gemäß MiD 2017 ca. 40 % der Reisenden (60 Mio befP) auch im ÖSPV unterwegs, nur beschränkt (Annahme: 40 %) durch City-Ticket abgedeckt, da: - nur die größten 130 Städte einbezogen - erst ab 100 km Reisestrecke - keine Anschlussgarantie (Zugbindung! ) - bisher nicht voll in Fahrplan-/ Tarifauskunft integriert ≈ 36 Mio. befP/ Jahr Nachfragezuwachs + 1 Mio. befP/ Jahr bei 10 % mittlerer Ersparnis und ε P,dir = -0,33 20 „Non-User“ 820 Mio. befP/ Jahr MIV Fahrer/ Mitfahrer ab 50km Entfernung, davon 30 % relevant für ÖSPV-Verknüpfung und 1,4 % bereit aufgrund Durchtarifierung modal zu verlagern ≈ +3,4 Mio. befP/ Jahr Tabelle 3: Abschätzung der Nachfragepotenziale von Durchbuchbarkeit und Durchtarifierung zu Fuß Fahrrad Pkw Carsharing-Fahrzeug Stadtbus/ Regionalbus U-Bahn/ Stadtbahn Straßenbahn Taxi Schiff/ Fähre Fernbus im Linienverkehr Flugzeug 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% SPNV MiT 2017 SPFV MiT 2017 Anteil der Fahrgäste Bild 4: SPFVvs. SPNV-Wege in Kombination mit weiteren Verkehrsmitteln Quelle: Autoren Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 77 ÖPNV MOBILITÄT wäre daher eine geeignete Maßnahme, da sie kurzfristig und zu tendenziell eher geringen Kosten umsetzbar ist und eine sehr positive Kommunikationswirkung bietet. Worauf also noch warten? ■ 1 „Verkehrsverbund übergreifende Ticketangebote sind nach wie vor Mangelware.“ (BM Dr. Wissing, Quelle: Ntv, 2022) 2 Vgl. PTV (2022) 3 Pütz / Schönfelder (2018), S.10 4 Die Hälfte der Bundesländer verfügt bereits über einen Landestarif (im Falle Berlin-Brandenburg sogar sich über zwei Länder erstreckend). Bis auf zwei Bundesländer planen alle restlichen einen solchen. 5 Unternehmen im ÖSPV müssen ungefähr doppelt so viel (0,23EUR/ Pkm vs. 0,11 EUR/ Pkm) pro Leistungseinheit einnehmen wie im SPNV. (Saenger, 2022, S. 70) 6 REJSEKORT & REJSEPLAN A/ S (2021) 7 Rat der Europäischen Union (2021), S.48 8 Eisenkopf et al. 2013, Finger et al. 2019, Bekiaris et al. 2020 9 Weidmann et al. (2007) 10 Eidgenössische Finanzkontrolle (2019) 11 Weigele et al. (2022) 12 Sauter-Servaes & Nash (2009) 13 IRG-Rail (2021) 14 RAILTEAM B.V. (2021) 15 Saenger (2022) 16 Vgl. u.a. Maciosek / Sierpinski (2017) 17 Vgl. TfL (2013) 18 Vgl. u.a. Fearnley/ Bekken (2005) 19 DB Fernverkehr AG (2020) 20 Vgl. u.a. Bastians (2009) QUELLEN Abrate, G.; Piacenza, M.; Vannoni, D. (2009): The Impact of Integrated Tariff Systems on Public Transport Demand: Evidence from Italy, Regional Science and Urban Economics, 39(2), S. 120-127. Bastians, M. (2009): Preiselastizitäten im öffentlichen Personenverkehr - Anwendungspotenziale und ihre Übertragbarkeit im räumlichen Kontext, Kiel. Bekiaris, E.; Loukea, M.; Panou, M.; Földesi, E.; Jammes, T. (2020): Seamless Accessibility of Transportation Modes and Multimodal Transport Across Europe: Gaps, Measures and Best Practices, in: Müller B.; Meyer G.: Towards User-Centric Transport in Europe 2. Springer, S. 43-59. DB Fernverkehr AG (Hrsg.) (2020): Geschäftsbericht 2019, Berlin. DLR (Hrsg.) (2017): Mobilität in Tabellen (MiT 2017), Berlin. Eidgenössische Finanzkontrolle (2019): Prüfung der IT-Plattform NOVA für den öffentlichen Verkehr, Bern. 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