Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2022-0064
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Neues Wohnen - neue Mobilität?
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Jonas Krombach
Christoph Singelmann
Benjamin Heldt
Rebekka Oostendorp
Andrea Weninger
Gerald Franz
Bei der Planung neuer Wohnquartiere werden innovative Mobilitätskonzepte zum Standard. Neue Mobilitätsangebote wie integriertes Car- und Bikesharing sollen zu einem nachhaltigeren Mobilitätsverhalten der zukünftigen Bewohner:innen beitragen. Allerdings ist in der Praxis zu beobachten, dass nach Bezug der Wohnanlagen vielerorts die Nutzung der Angebote hinter den Erwartungen zurückbleibt. Dieser Artikel führt die wichtigsten Erkenntnisse zweier Projekte aus Wien und Berlin zusammen und gibt konkrete Empfehlungen, wie Mobilitätsmaßnahmen in Wohnquartieren zum gewünschten Erfolg führen können.
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Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 86 Neues Wohnen - neue Mobilität? Perspektiven aus der Praxis auf Mobilitätsmaßnahmen im-Wohnbau Wohnbau, Wohnquartiere, Mobilitätsmaßnahmen, Mobilitätskonzepte, Mobilitätsverhalten Bei der Planung neuer Wohnquartiere werden innovative Mobilitätskonzepte zum Standard. Neue Mobilitätsangebote wie integriertes Car- und Bikesharing sollen zu einem nachhaltigeren Mobilitätsverhalten der zukünftigen Bewohner: innen beitragen. Allerdings ist in der Praxis zu beobachten, dass nach Bezug der Wohnanlagen vielerorts die Nutzung der Angebote hinter den Erwartungen zurückbleibt. Dieser Artikel führt die wichtigsten Erkenntnisse zweier Projekte aus Wien und Berlin zusammen und gibt konkrete Empfehlungen, wie Mobilitätsmaßnahmen in Wohnquartieren zum gewünschten Erfolg führen können. Jonas Krombach, Christoph Singelmann, Benjamin Heldt, Rebekka Oostendorp, Andrea Weninger, Gerald Franz V or dem Hintergrund der angestrebten Ziele der Verkehrsverlagerung Richtung Umweltverbund, Klimaschutz, Flächen- und Energieeffizienz setzen Städte seit einigen Jahren auf die frühzeitige Verankerung von Mobilitätsmaßnahmen bei Wohnungsbauvorhaben. Im deutschsprachigen Raum steigt die Anzahl an autoreduzierten Wohnquartieren mit innovativen Mobilitätsangeboten wie Car- und Bikesharing, hochwertigen Fahrradabstellräumen und -anlagen sowie Quartiersgaragen. Allerdings ist das Potenzial für eine nachhaltige Integration der Mobilität bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Bei den umgesetzten Projekten handelt es sich bislang oft um Pilotprojekte unterschiedlicher Größe [1]. Kleinere Projekte, wie beispielsweise das „Stellwerk 60“ (Köln-Nippes), die „Autofreie Mustersiedlung Floridsdorf“ (Wien), das Projekt „Kalkbreite“ (Zürich) oder das „Hunziker Areal“ (Zürich), sind meist von engagierten Baugruppen, Vereinen oder Genossenschaften initiiert worden. Größere autoreduzierte Quartiersentwicklungen wie das „Quartier Vauban“ (Freiburg), die „Lincoln-Siedlung“ (Darmstadt), die Wohnanlage „Domagkpark“ (München), das Wohnquartier „Waterkant“ Berlin, die §Biotope City“ (Wien) oder die „Bruno-Marek-Allee“ im Nordbahnviertel (Wien) sind hingegen in viel komplexere Zusammenhänge mit einer Viel- Bild 1: Car-Sharing in der Bruno-Marek-Allee in Wien Foto: Rosinak & Partner, UIV MOBILITÄT Verkehrsplanung Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 87 Verkehrsplanung MOBILITÄT zahl unterschiedlicher Akteure (Wohnungsunternehmen, Projektentwickler, Kommunen, Mobilitätsanbieter, Bürger: innen) eingebettet. Studien, die die Nutzung bzw. den Erfolg der besonderen Mobilitätsangebote der Wohnanlagen analysieren, liegen in einer geringen Anzahl vor (z. B. [2, 3, 4]). Die Evaluationen im Rahmen der Projekte MMWplus (Wien) [5] und Move Urban (Berlin) [6, 7] zeigen jedoch, dass die Nutzung der neuen Mobilitätsangebote durch die Bewohner: innen in den betrachteten Wohnbauprojekten noch lange nicht in dem Maße erfolgt, das benötigt wird, um die gesteckten Nachhaltigkeitsziele, aber auch wirtschaftlichen Ziele der Betreiber zu erreichen. Ähnliche Tendenzen sind auch bei den anderen oben erwähnten Evaluationsstudien festzustellen. Es stellt sich also die Frage, wie Mobilitätsmaßnahmen noch besser umgesetzt und kommuniziert werden können, sodass sie durch die Bewohner: innen und Anrainer: innen angenommen und die intendierten Wirkungen erzielt werden. Ziel dieses Beitrages ist es deshalb, aus den wesentlichen Erkenntnissen der Projekte MMWplus und Move Urban eine Synthese zu bilden und Handlungsempfehlungen abzuleiten. Hintergrund Der Beitrag basiert auf Ergebnissen von zwei praxisorientierten Forschungsprojekten aus Deutschland und Österreich zu Mobilitätsmaßnahmen in neuen Wohnquartieren, die beide Ende 2021 abgeschlossen wurden [5, 6]. Im Projekt MMWplus wurden drei ausgewählte Neubausiedlungen in Wien untersucht, die vielfältige Mobilitätsangebote aufweisen und vor kurzem bezogen wurden: die Wohnanlage ERnteLAA (190 WE), Wohnanlagen an der Bruno-Marek-Allee (400 WE) und die Wohnanlage Biotope City (1.000 WE). Im Zuge des Projektes fanden Experteninterviews mit beteiligten Akteuren und Mobilitätsbefragungen mit Bewohner: innen statt. Ziel des Projektes war es, mit einer detaillierten Analyse und der Integration der Nutzerperspektive, Erkenntnissen aus der Verhaltensbiologie und Ansätzen der Verkehrsökonomie Maßnahmen zu identifizieren, die zur Erhöhung der Treffsicherheit von Mobilitätsangeboten im Wohnungsbau führen. Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) untersuchte im Projekt Move Urban die Wirkungen flächeneffizienter integrierter Siedlungs- und Mobilitätskonzepte am Beispiel des randstädtischen Neubaugebietes Waterkant Berlin, in dem während der Projektlaufzeit bereits 361 von zukünftig über 2.000 Wohnungen entstanden und bezogen wurden. Für die Evaluation wurden u. a. eine Expertenbefragung und Stakeholder-Workshops sowie Befragungen von und Interviews mit Bewohner: innen durchgeführt. Lessons Learned Mit dem Ziel, die Diskrepanz zwischen Vision und Wirklichkeit für zukünftige Projekte zu reduzieren, wurden aufbauend auf den Erfahrungen der beiden betrachteten Projekte fünf Themenfelder für eine erfolgreiche Umsetzung von Mobilitätsmaßnahmen in Wohnquartieren identifiziert (siehe Bild-3), die im Folgenden vorgestellt werden. 1. Ein solides Grundgerüst schaffen Wie bereits in anderen Veröffentlichungen [8, 9] beschrieben, zeigt sich auch bei MMWplus und Move Urban, dass sich der Erfolg von autoreduzierten Quartieren anhand von drei übergeordneten Voraussetzungen auf Quartiersebene festmachen lässt. Die erste Grundvorrausetzung ist eine sehr gute ÖPNV-Erschließung. Die zweite ist ein sicheres und lückenloses Fuß- und Radwegenetz und die dritte ist die Nutzungsdurchmischung oder „Stadt der kurzen Wege“ (z. B. Wohnen, Arbeiten, Einkaufen …). Das Vorhandensein aller drei Grundvoraussetzungen - bereits beim Einzug der ersten Bewohner: innen - ist essenziell, damit auch die übrigen mobilitätsbezogenen Maßnahmen ihre volle Wirkung entfalten können. Aus den Befragungen der beiden Projekte lässt sich ableiten, dass auf der Grundstücksebene vor allem drei Maßnahmen besonders relevant sind. Zum einen ist dies die Reduktion von Pflichtstellplätzen am Areal, da das Vorhandensein wohnungsnaher Parkplätze PKW-orientiertes Verhalten begünstigt. Ein dynamischer Stellplatzschlüssel, Bild 2: Projekt Move Urban im randstädtischen Neubaugebiet Waterkant Berlin Foto: DLR Bild 3: Lessons learned: Fünf Themenfelder für eine erfolgreiche Umsetzung von Mobilitätsmaßnahmen in Wohnquartieren Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 88 MOBILITÄT Verkehrsplanung welcher je nach räumlichen und verkehrlichen Rahmenbedingungen variiert, sollte Standard werden. Somit wird ermöglicht, dass Quartiere in zentraler Lage (z. B. mit guter ÖPNV-Erschließung) nur noch ein Mindestmaß an Pflichtstellplätzen nachzuweisen müssen. Optimalerweise sind die Stellplätze in Sammel(hoch)garagen oder Quartiersgaragen untergebracht. Eine weitere essenzielle Maßnahme ist das Vorhandensein qualitativ hochwertiger Fahrradabstellanlagen. Die Verwendung von Anlagen wie Felgenklemmen oder Hängesystemen sollte über Vorgaben in den Baugesetzen gänzlich ausgeschlossen werden. Gleiches gilt für die Sicherstellung einer guten Zugänglichkeit - das Fahrrad sollte schneller und komfortabler erreicht werden als das eigene Auto. Die dritte Maßnahme sind die sogenannten Sharing-Mobility-Angebote, darunter besonders Car- und Bikesharing. Drei Grundvoraussetzungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit für eine erfolgreiche Nutzung: (1) die Einbindung in ein übergeordnetes städtisches Sharing-System mit einem vielfältigen Fahrzeugangebot, das auf die Bedürfnisse der Bewohner: innen abgestimmt ist, (2) eine Platzierung des Angebots an prominenter Stelle und einfache Ausleihvorgänge sowie (3) die Begleitung des Angebots durch kommunikative Maßnahmen. 2. Planung frühzeitig steuern Von der Idee der Entwicklung eines Wohnquartiers bis zu dessen Fertigstellung können oft mehrere Jahre vergehen. Akteure verfolgen unterschiedliche Planungsansätze, die sich nach diversen Rahmenbedingungen und Anforderungen richten. Folgende vier Punkte innerhalb von Planungsprozessen sollten im Hinblick auf die Umsetzung und Förderung nachhaltiger Mobilitätsformen in neuen Wohnquartieren angepasst werden: •• Gesamtstädtisch geltende Stadtentwicklungspläne, Mobilitätskonzepte (z. B. SUMP) oder Klimaschutzprogramme (mit oftmals konkreten Zielwerten bspw. zum Modal Split) werden teilweise nur in Ansätzen oder viel zu spät in Planungsprozessen beachtet. •• Konkrete Mobilitätsmaßnahmen, die öffentliche oder private Flächen benötigen, werden zu spät - nach Festsetzung von Bebauungsplänen oder Entwürfen für Gebäude - eingeplant und sollten frühzeitig reserviert werden (z. B. Flächen für Mobilitätsstationen, Rampenanlagen für Fahrradräume, Stromversorgung etc.). •• Die (Mit)Finanzierung von Maßnahmen wird häufig zu spät oder gar nicht geregelt und muss dann im Nachhinein verhandelt werden, was oftmals erfolglos ist. Sie sollte daher bereits frühzeitig geklärt werden (z. B. über Baurechte, städtebauliche Verträge, Mobilitätsfonds, etc.) [10]. •• Teile von Mobilitätskonzepten werden erst nach der Besiedelung von Gebieten umgesetzt, was dazu führt, dass gewohnte, autozentrierte Mobilitätsroutinen der Bewohner: innen nicht aufgebrochen werden können (z. B. Dulden des Abstellens von Kfz im Straßenraum in ersten Besiedlungsphasen, wenngleich ein Mobilitätskonzept das Abstellen in bereits errichteten Sammelgaragen vorsieht). 3. Mobilität ins Zentrum stellen Damit Bürger: innen Mobilitätsangebote akzeptieren und letztlich nutzen, müssen sie diese kennen und im Idealfall positive Erfahrungen gesammelt haben [11]. Daher sollte das Thema „Information“ ebenfalls frühzeitig im Planungsprozess Berücksichtigung finden und in ein übergeordnetes Mobilitätsmanagement eingebettet werden. In der Waterkant Berlin wurden Informationen zu den Mobilitätsangeboten hauptsächlich über eine Broschüre per Posteinwurf bereitgestellt. Im Ergebnis kennt weniger als die Hälfte der Befragten das Mobilitätskonzept gut, und für noch weniger Personen spielte es überhaupt eine Rolle bei der Wohnstandortentscheidung. Entsprechend bleibt auch die Nutzung der Angebote, insbesondere z. B. des stationsbasierten Carsharings, deutlich hinter den Erwartungen zurück. Der Bekanntheitsgrad der Mobilitätsangebote ist in den untersuchten Wiener Wohngebieten zum Befragungszeitpunkt deutlich höher. Allerdings kannten auch dort viele das Angebot vor Wohnungsbezug nicht und einzelne Angebote wie Car- und Bikesharing werden nur von wenigen Personen wahrgenommen und genutzt. Daran zeigt sich, dass gezielte Informationskampagnen wichtig für die Bekanntheit und Akzeptanz der Angebote sind. Das Projekt MMWplus gibt Empfehlungen für die Kommunikation von Mobilitätsmaßnahmen. Mobilitätsangebote sollten als Teil der Wohnanlage schon bei der Wohnungssuche und -vergabe bekannt gemacht werden. Möglichkeiten sind, Mieter: innen bei Einzug automatisch für Mobilitätsangebote anzumelden oder als Anreiz Gutscheine zur Verfügung zu stellen. Am wichtigsten ist jedoch die kontinuierliche Information der Bewohner: innen über verschiedene Kanäle bereits vor dem Einzug durch z. B. Informationsschreiben, Websites, Apps, persönliche und telefonische Beratung sowie betreute Aktionsstände vor Ort zum Ausprobieren der Mobilitätsangebote. Insbesondere die aktive Ansprache verschiedener Zielgruppen, beispielsweise Personen mit/ ohne eigenen PKW, ältere oder kostensensible Personen kann Verhaltensänderungen bewirken. Bei der Implementierung der Mobilitätsangebote ist die Einrichtung einer zentralen Koordinationsstelle (räumlich und personell) zu empfehlen - das sogenannte Mobilitätsmanagement. Dieses macht durch die aktive und zielgruppenorientierte Ansprache der relevanten Akteure und unter Einbindung der Bürger: innen auf die Vorzüge der Mobilitätsangebote aufmerksam. So kann Mobilitätsmanagement dazu beitragen, dass die Nutzung alternativer Angebote mit positivem Image und guten Erfahrungen verbunden und dadurch letztlich die Nutzungsbereitschaft bei den Quartiersbewohner: innen erhöht wird. Wichtig ist hierbei die Berücksichtigung zweier Ebenen: Bei Wohnungsunternehmen bzw. bei den Kommunen sollte die übergeordnete Planung und Implementierung sowie das Monitoring von Angeboten stattfinden. Auf Quartiersbzw. Objektebene kann das Management Partnerschaften mit Dienstleistern wie Concierges, Freizeiteinrichtungen oder Gastronomie eingehen, die operative Prozesse verwalten und als direkte Ansprechpartner vor Ort fungieren. Wichtig sind auch eine sichtbare Platzierung und einheitliche Gestaltung der Angebote im öffentlichen Raum. 4. Über das Gebiet hinausdenken - Insellösungen vermeiden Mobilitätskonzepte im Wohnungsbau werden zunächst für ein abgegrenztes Gebiet geplant, wirken jedoch in vielfältiger Weise Die Projekte im Überblick Das Projekt Mobilitätsmaßnahmen im Wohnbau - plus (MMWplus) wurde vom Klima- und Energiefonds Österreich im Jahr 2021 beauftragt und finanziert. Die Projektauftragnehmer waren Rosinak & Partner ZT GmbH und UIV Urban Innovation Vienna GmbH. Als Subauftragnehmerin war Dr. Elisabeth Oberzaucher (Verhaltensbiologin) ebenfalls in das Projekt involviert. Das Projekt Move Urban wurde vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen der Umsetzung der Leitinitiative Zukunftsstadt von 12/ 2017 bis 12/ 2021 gefördert und von der Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz Berlin geleitet. Weitere Projektpartner waren die DLR-Institute für Verkehrsforschung und Verkehrssystemtechnik, das Institut für Klimaschutz, Energie und Mobilität e.V. (IKEM), die Professur für Infrastrukturwirtschaft und -management der Bauhaus-Universität Weimar (BUW) und die Gewobag Wohnungsbau AG Berlin. Internationales Verkehrswesen (74) 3 | 2022 89 Verkehrsplanung MOBILITÄT darüber hinaus. Zum einen ist zu berücksichtigen, dass ca. drei Viertel der Wege an der eigenen Wohnung starten oder enden [12]. Das Angebot an Dienstleistungen und Nahversorgung des täglichen Bedarfs, Sozial-, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen sowie an verfügbaren Mobilitätsoptionen direkt am Wohnort ist also von zentraler Bedeutung. Gleichwohl ist die individuelle Mobilität nicht auf das Wohnquartier beschränkt, sondern die Bewohner: innen sind zur Erfüllung ihrer Bedürfnisse in der gesamten Stadt oder auch darüber hinaus unterwegs. Bei der Planung der Maßnahmen und Angebote ist daher die Anbindung an das gesamte Verkehrssystem von zentraler Bedeutung. Insellösungen nur für ein Quartier (z. B. bei Sharing-Angeboten) sind nicht zielführend. In immer mehr Städten übernehmen beispielsweise ÖPNV-Anbieter (z. B. die Wiener Linien) die Rolle des Betreibers von Sharing-Angeboten und integrieren sie dadurch in den ÖPNV. Zum anderen können die in einem Quartier umgesetzten Maßnahmen das Mobilitätsangebot auch für Bewohner: innen angrenzender Wohngebiete erweitern, z. B. wenn Sharing-Angebote von allen genutzt werden können oder eine neue Buslinie oder S-Bahn-Station die ÖPNV-Anbindung in einem größeren Radius (über das Wohnbauvorhaben hinaus) erheblich verbessert. Es müssen allerdings auch mögliche unerwünschte Effekte berücksichtigt werden, beispielsweise wenn ein reduzierter Stellplatzschlüssel die Parkplatzproblematik in angrenzenden Gebieten verschärft. Außerdem sollte das Potential der Übertragbarkeit stärker ausgeschöpft werden. Lösungen, die für ein Wohnquartier erfolgreich entwickelt wurden, können unter Berücksichtigung der lokalen Rahmenbedingungen modifiziert auch in anderen Quartieren umgesetzt werden. 5. Evaluierung ist wichtig Viele aktuelle Mobilitätskonzepte zeichnen sich durch eine große Vielzahl und thematische Bandbreite unterschiedlicher Maßnahmen und anspruchsvolle Ziele aus. Erfahrungen aus der Praxis zeigen aber, dass aufgrund von bestehenden technischen, finanziellen, planungsrechtlichen oder anderen Rahmenbedingungen die Konzepte oftmals im Verlauf der Umsetzung nicht wie ursprünglich geplant implementiert werden können und Abstriche bei den tatsächlich realisierten Maßnahmen gemacht werden müssen. In der Regel sind diese Änderungen nicht öffentlich dokumentiert, so dass andere Projekte davon lernen könnten. Wichtig wäre es daher, solche Projekte und die Prozesse von Planungsbeginn bis zum Einzug der Bewohner: innen und darüber hinaus zu dokumentieren, zu evaluieren und öffentlich verfügbar zu machen, um typische Hemmnisse und Treiber für eine erfolgreiche Umsetzung zu identifizieren. Hierzu zählt beispielsweise, die Erfahrungen und Meinungen der Bewohner: innen regelmäßig einzuholen und die Projekte zu begleiten. Die Erhebung von Daten (z. B. Bewohnerstruktur, Wahrnehmung, Akzeptanz und Nutzung vorhandener und neuer Angebote, verkehrliche Wirkungen, …) ist dabei ein zentraler Punkt, um die Situation vorher und nachher miteinander vergleichen (z. B. mithilfe von Panelbefragungen) und damit die Wirksamkeit der umgesetzten Maßnahmen bewerten zu können. Gleichzeitig können eine begleitende Evaluation und Datenerhebung notwendige Anpassungen bei den Maßnahmen und Angeboten identifizieren und argumentativ stützen - sowohl im jeweils evaluierten Projekt als auch für zukünftige Vorhaben. Fazit Durch das Zusammenführen wesentlicher Erkenntnisse der Projekte MMWplus und Move Urban konnten fünf zentrale Themenfelder für eine erfolgreiche Umsetzung von Mobilitätsmaßnahmen in Wohnquartieren identifiziert werden. Die Themenfelder zeigen, dass für den Erfolg von Mobilitätsmaßnahmen eine ganzheitliche Betrachtung wichtig ist, die bereits bei den ersten Planungsschritten beginnt und sich bis in den Betrieb einer Wohnanlage bzw. des Quartiers zieht. Mobilitätsangebote im Wohnbau sind dynamisch zu betrachten. Sie sind stets flexibel an die sich ändernden Bedürfnisse der Bewohner: innen anzupassen. Kommunikation mit den Nutzer: innen sowie regelmäßige Evaluationen sind daher essenziell. ■ LITERATUR [1] VCD (2022): Mobilitätslösungen - Beispielhafte Mobilitätskonzepte in Wohnquartieren. Berlin. https: / / intelligentmobil.de/ mobilitaetsloesungen (Abruf 18.07.2022) [2] Heuer, M.; Lange, J.; Linck, H.; Loose, W.; Nobis, C.; Schieder, A.; Sperling, C. (2003): Umsetzungsbegleitung des Verkehrskonzeptes im Stadtteil Freiburg-Vauban. Freiburg [3] Klein, M.; Klinger, T.; Lanzendorf, M. (2021): Nachhaltige Mobilität in Lincoln. Evaluation des Mobilitätskonzeptes und Veränderungen im Mobilitätsverhalten der Bewohner*innen der Lincoln-Siedlung in Darmstadt. Arbeitspapiere zur Mobilitätsforschung Nr. 25. Frankfurt a.M. [4] Grütter, M.; Bock, S., von Grünigen, S.; Ott, W. (2016): Evaluation Kalkbreite. Energieforschung Stadt Zürich, Bericht. 29, Forschungsprojekt FP-2.5.1 [5] Krombach, J.; Weninger, A.; Franz, G.; Singelmann, C.; Oberzaucher, E. (2021): Mobilitätsmaßnahmen im Wohnbau - plus. Programm des Klima- und Energiefonds: Nachhaltige Mobilität in der Praxis. Wien [6] Gehrke, M. et al. (2022): Ergebnisband „Move Urban“ (in Veröffentlichung) [7] Oostendorp, R.; Oehlert, J.; Heldt, B.; (2019): Mobilitätsangebote in Wohnquartieren. Erfahrungen und Bewertung aus Sicht von öffentlicher Verwaltung, Wohnungsunternehmen und Planungspraxis - Ergebnisse einer Expertenbefragung. In: Arbeitsberichte zur Verkehrsforschung. Berlin. ISSN: 2513-1699 [8] Krombach, J.; Gerike, R.; Koszowski, C.; Weninger, A. (2021): Mobility measures and the housing sector. Evaluation of the impact of mobility measures in newly planned residential areas. In: Internationales Verkehrswesen, 73 (3) 2021, S. 68-71 [9] Bauer, U.; Gies, J.; Schneider, S.; Bunzel, A.; Walter, J. (2022): Mobilitätskonzepte in neuen Wohnquartieren. Mobilität sichern, Flächen und Emissionen sparen, Wohnqualität schaffen. Hrsg.: Bayerisches Staatsministerium für Wohnen, Bau und Verkehr - Referat Öffentlichkeitsarbeit. München [10] Franz, G. (2019): Leitfaden Mobilitätsmaßnahmen im Wohnbau. Werkstattbericht 184. Hrsg.: Stadt Wien - Stadtteilplanung und Flächenwidmung (MA 21). Wien. ISBN: 978-3-903003-55-2 [11] Bamberg, S.; Farrokhikhiavi, R. (2009): Breaking habitualised car use with a ‘soft policy’ measure? - Effects of a dialogue marketing campaign on new citizens’ daily mobility. In: European Transport Conference, Leiden, Netherlands. [12] Infas; DLR; IVT; infas 360 (2018): Mobilität in Deutschland (im Auftrag des BMVI). www.mobilitaet-in-deutschland.de (Abruf: 19.07.2022) Andrea Weninger, Dipl.-Ing. Geschäftsführerin, Rosinak & Partner ZT GmbH, Dornbirn (AT) office@rosinak.at Gerald Franz, MA Stv. Leiter Stadtentwicklung und Mobilität, UIV Urban Innovation Vienna GmbH (UIV), Wien (AT) franz@urbaninnovation.at Rebekka Oostendorp, Dr. rer. nat. Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR), Berlin (DE) rebekka.oostendorp@dlr.de Christoph Singelmann, Dipl.-Ing. Junior Expert Stadtentwicklung und Mobilität, UIV Urban Innovation Vienna GmbH (UIV), Wien (AT) singelmann@urbaninnovation.at Benjamin Heldt, Dipl.-Geograph Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Verkehrsforschung, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR), Berlin (DE) benjamin.heldt@dlr.de Jonas Krombach, Dipl.-Ing. Projektingenieur, Rosinak & Partner ZT GmbH, Wien (AT) office@rosinak.at
