eJournals Internationales Verkehrswesen 74/4

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2022-0072
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2022
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Push & Pull: Aktueller Forschungsstand

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2022
Martina Hekler
Fabian Drews
Carsten Gertz
Oliver Schwedes
Der Artikel zeigt eine Bestandsaufnahme der wissenschaftlichen Forschung zu Push- und-Pull-Maßnahmen. Es wird ein maßnahmenübergreifender Ansatz von verkehrspolitischen und -planerischen Maßnahmen aufgezeigt, um daraus Schlussfolgerungen für die weitere Forschung abzuleiten. Die Bestandsaufnahme erfolgt im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschungsprojekts Push & Pull.
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Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 20 POLITIK Wissenschaft Push & Pull: Aktueller Forschungsstand Ergebnisse einer Literaturanalyse der internationalen Diskussion Verkehrspolitik, Verkehrsplanung, Push, Pull Der Artikel zeigt eine Bestandsaufnahme der wissenschaftlichen Forschung zu Pushund-Pull-Maßnahmen. Es wird ein maßnahmenübergreifender Ansatz von verkehrspolitischen und -planerischen Maßnahmen aufgezeigt, um daraus Schlussfolgerungen für die-weitere Forschung abzuleiten. Die Bestandsaufnahme erfolgt im Rahmen des von der-Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschungsprojekts Push & Pull. Martina Hekler, Fabian Drews, Carsten Gertz, Oliver Schwedes A uf den Anstieg der Energiepreise als Folge des russischen Angriffskriegs hat die Bundesregierung mit den beiden zeitlich begrenzten Maßnahmen 9-Euro-Ticket und Tankrabatt das Ziel einer finanziellen Entlastung der Bürger: innen verfolgt. Diese sozialpolitisch motivierten Maßnahmen setzten verkehrspolitisch die seit den 1970er Jahren praktizierte Parallelförderung von öffentlichem Verkehr und privatem KFZ-Verkehr fort. Vor dem Erfahrungshintergrund der 50 Jahre währenden Parallelfinanzierung war zu erwarten, dass die sozialpolitisch motivierte Kombination von zwei Pull-Maßnahmen, die im Ergebnis sowohl den privaten KFZ-Verkehr wie auch den öffentlichen Verkehr fördern, nicht zu der verkehrspolitisch gewünschten Verlagerung im Sinne einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung beitragen würde. Die Ergebnisse am Ende des ungeplanten dreimonatigen „Experiments“ haben dies mittlerweile bestätigt. Das aktuelle Beispiel ist Ausdruck einer in Deutschland seit Jahrzehnten fehlenden Kombination von Maßnahmen, die den Umweltverbund fördern (Pull) und gleichzeitig durch Restriktionen bei der privaten KFZ-Nutzung (Push) eine Verkehrsverlagerung anregen. Vielmehr bestehen in der Verkehrspolitik erhebliche Vorbehalte gegenüber Push-Maßnahmen, von denen angenommen wird, dass sie in weiten Teilen der Bevölkerung unbeliebt sind und womöglich eine Wiederwahl gefährden. Es ist die Diskrepanz zwischen der wissenschaftlichen Einsicht in die Notwendigkeit Push-und- Pull-Maßnahmen zu kombinieren, um zukünftig eine nachhaltige Verkehrsentwicklung gestalten zu können einerseits und die fehlende Akzeptanz großer Teile der Bevölkerung andererseits, an der Verkehrspolitik und -planung bis heute scheitern. Das Forschungsprojekt Push & Pull, das durch die DFG von 2022 bis 2025 gefördert wird, will die Wirksamkeit von Push-und-Pull-Maßnahmen in der Verkehrspolitik und -planung erforschen. Den Ausgangspunkt bildet die erwähnte Einsicht in die Notwendigkeit der proaktiven Gestaltung einer Verkehrswende. Der Forschungsansatz beinhaltet zum einen die Erfassung unterschiedlicher Wirkungsebenen von Push-und-Pull-Maßnahmen. Zum anderen wird die Wahrnehmung von Push-und-Pull-Maßnahmen durch unterschiedliche gesellschaftliche und politische Akteure sowie die Akzeptanz in der Gesellschaft erforscht. Ziel des Forschungsprojekts ist es, Planungsempfehlungen und konkrete Handlungsansätze für einen nachhaltigen Verkehr in Deutschland zu formulieren. Begriffsklärung Push und Pull In der deutschen und internationalen Verkehrsforschung findet seit den 1990er Jahren eine Debatte zu Push und Pull als gezielte Kombination verkehrspolitischer Maßnahmen statt. In Deutschland nehmen Müller et al. (1992) [1] die undifferenzierte Parallelförderung von motorisiertem Individualverkehr (MIV) und öffentlichem Verkehr zum Anlass, zwischen Push-und-Pull- Maßnahmen zu unterscheiden und mit ihnen den öffentlichen Verkehr zu unterstützen. Push-Maßnahmen werden dabei als solche definiert, die den KFZ-Verkehr weniger attraktiv gestalten, während Pull-Maßnahmen den öffentlichen Verkehr stärken. Im US-amerikanischen Kontext finden hierfür überwiegend die Begriffe Carrots und Sticks Anwendung. Während mit Carrots (Pull) Menschen zu attraktiven Angeboten hingezogen werden sollen, dienen Sticks (Push) dazu, Menschen von bisher genutzten Verkehrsmitteln in Richtung der Alternativen zu drängen. Nach Meyer (1999) [2] werden als Carrots z. B. Verbesserungen für den öffentlichen Verkehr, Ridesharing-Angebote oder Park and Ride benannt, mit Sticks sind primär fiskalische Maßnahmen, wie z. B. Parkraummanagement oder Mautgebühren, verbunden. Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 21 Wissenschaft POLITIK Holz-Rau (2018) [3] setzt sich kritisch mit dem Begriffspaar Push und Pull auseinander. Aufgezeigt wird, dass in der Verkehrspolitik und -planung ein und dieselbe Intervention gleichzeitig Push- und Pull-Effekte aufweisen können. Er argumentiert daher, dass nicht von Push-und-Pull-Maßnahmen gesprochen, sondern das jeweilige Wirkungsspektrum ganzheitlich betrachtet werden sollte. Demgegenüber wird im Forschungsprojekt Push & Pull an der begrifflichen Unterscheidung festgehalten. In der folgenden Definition wird die Planungsintention zum Kriterium dafür gewählt, ob es sich um eine Push- oder Pull-Maßnahme handelt. Bei der Anlage von z. B. Fahrradstreifen handelt es sich somit eindeutig um eine Pull-Maßnahme, weil die Intention der Planung darin besteht, den Radverkehr attraktiver zu gestalten. Dass es dazu notwendig ist, den KFZ-Verkehr weniger attraktiv zu gestalten, indem Flächen entzogen werden, ist in der Regel eine notwendige Folge des Flächenmangels. Wäre es hingegen von der Planung intendiert gewesen, den KFZ-Verkehr durch Flächenentzug weniger attraktiv zu gestalten und wäre entschieden worden, dass die neuen Flächen für den Radverkehr genutzt werden, würde es sich um ein Maßnahmenpaket aus Push-und-Pull-Maßnahmen handeln. Push-Maßnahmen werden im Forschungsprojekt vor dem Hintergrund der Fachdiskussion als restriktive Maßnahmen definiert, die direkt verhaltensbeeinflussend sind und die Wirkungsrichtungen Verkehrsverlagerung und Verkehrsvermeidung verfolgen. Push-Maßnahmen sind also jene Interventionen, die ihre Wirkung über Restriktionen entfalten und dabei unterschiedliche Wirkungsmechanismen (u. a. finanziell, ordnungsrechtlich) haben können. Pull-Maßnahmen sind hingegen Interventionen, deren Wirkung auf Angebotsverbesserung und Freiwilligkeit basiert und damit abhängig von der Akzeptanz der Nutzerinnen und Nutzer ist. Im Projektverständnis ist der Push- und Pull-Ansatz auf Maßnahmenpakete ausgerichtet, deren gezielte Kombination eine größere Wirksamkeit in Hinblick auf Verkehrsverlagerung und Verkehrsvermeidung erzielt. Eine Push- und Pull-Strategie beinhaltet damit auch den Verzicht auf Pull-Maßnahmen für den MIV. Methodisches Vorgehen der Bestandsaufnahme Die methodische Vorgehensweise der Bestandsaufnahme basiert auf einer Analyse der Fachliteratur nach van Wee & Banister (2016) [4] zur Wirkung, Wahrnehmung und Akzeptanz verkehrspolitischer und -planerischer Maßnahmen sowie politischen Strukturen. Ein Überblick über die verwendeten Datenbanken, die Kombination der Suchbegriffe und die Anzahl der Ergebnisse ist in Tabelle 1 dargestellt. Das Literatur-Screening teilte sich in drei Phasen: In einer ersten Phase wurden die insgesamt 400 Artikel anhand ihres Titels überprüft. Die zweite Phase konzentrierte sich auf die Abstracts und abschließend wurden die verbleibenden Artikel vollständig gescreent. Somit verbleiben 39 Artikel für die weitere Analyse sowie 19 Artikel, die durch das Schneeballsystem identifiziert wurden. Literaturschau im Überblick Aus der Literatur zu verkehrspolitischen und -planerischen Maßnahmen geht hervor, dass insgesamt Einigkeit über die Bedeutung von Push-und-Pull-Maßnahmen vorhanden ist, um die nachhaltige Mobilität global voranzubringen und definierte Klimaziele zu erreichen. Insgesamt konnten keine kritischen Artikel identifiziert werden, die die Bedeutung von Push und Pull in Frage stellen. Auch bei der Tatsache, dass es sich als schwierig erweist, Push-Maßnahmen einzuführen bzw. umzusetzen, zeigt die deutsche und internationale Forschung ein ähnliches Bild. Die Literaturschau zeigt auch, dass Push- Maßnahmen meist auf politischen und öffentlichen Widerstand treffen und somit tendenziell auf eine geringere (öffentliche) Akzeptanz. Es wird zudem deutlich, dass die meisten verkehrspolitischen und -planerischen Maßnahmen isoliert nur eine begrenzte Wirkung haben. In der Forschung scheint daher Einigkeit darüber zu bestehen, dass Maßnahmenpakete das Potenzial haben können, meist wirksamer zu sein, da verkehrspolitische Maßnahmen die Wirkung anderer sektoraler Maßnahmen, z. B. zur Siedlungsentwicklung, ergänzen und verstärken können. Die räumliche Einordnung der Literatur liegt vor allem auf Westeuropa, den USA sowie vereinzelt auf Asien. Im Ergebnis zeigt sich, dass unterschiedliche Planungssysteme mit ihren verschiedenen politischen Kulturen und Strukturen einen wesentlichen Einfluss auf verkehrspolitische und -planerische Maßnahmen nehmen können. Es braucht also eine Anpassung an den jeweiligen räumlichen, kulturellen und strukturellen Kontext, um den Besonderheiten in Planungs-, Entscheidungs- und Umsetzungsprozessen gerecht zu werden. Ergebnisse Aus den Ergebnissen der Bestandsaufnahme werden hier drei übergeordnete Thesen abgeleitet. Eine vertiefte Betrachtung unterschiedlicher Einzelmaßnahmen erfolgt hier nicht, da zunächst ein maßnahmenübergreifendes Verständnis aufgezeigt werden soll. In Bezug auf das methodische Vorgehen der analysierten Literatur lässt sich insgesamt feststellen, dass vielfältige methodische Ansätze genutzt werden, sowohl quantitative als Datenbank Treffer Begriffe Jahr Web of Science 160 TOPIC (carrot* or pull) and (stick* or push) and (transport or transportation or mobility) and (policy* or policies or planning) 2022-1994 Scopus 229 TITLE-ABS-KEY (carrot* or pull) and (stick* or push) and (transport or transportation or mobility) and (policy* or policies or planning) 2022-1973 deutschsprachige Fachzeitschriften (u. a. Internationales Verkehrswesen, Der Nahverkehr) 11 Push, Pull, Maßnahme(n), Klimaziel(e), Verkehrswende, Verkehrspolitik, Verkehrsverlagerung 2022-2010 Tabelle 1: Suchstrategie (Durchführung: Mai bis Juni 2022) Quelle: Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 22 POLITIK Wissenschaft auch qualitative und Mixed-Methods-Ansätze (siehe Tabelle 2). Nur mit Veränderungen der politischen Kultur und Strukturen ist eine Reduzierung des KFZ-Verkehrs möglich. Politische Kulturen und Strukturen in unterschiedlichen räumlichen Kontexten und deren Einfluss auf verkehrspolitische und -planerische Maßnahmen wird in der Forschung durch Fallstudienanalysen, aber auch durch Mixed-Methods-Ansätze untersucht. Die Entwicklung eines Politikpakets für eine Umstellung zu nachhaltiger Mobilität zeigt für den österreichischen Kontext, dass es eine ausgewogene Kombination zwischen hoher Wirksamkeit und Effektivität von Maßnahmen und Umsetzbarkeit braucht. Für die Umsetzbarkeit ist ein hohes Maß an (öffentlicher) Akzeptanz für Maßnahmen und verfügbaren Ressourcen zu deren Finanzierung erforderlich. Insgesamt zeigt sich, dass viele Maßnahmen international bereits umgesetzt und nur wenige wirklich innovativ sind. Daher sind eher eine gut geplante Politikgestaltung und eine Kombination aus unterschiedlichen Maßnahmen für eine Reduktion der Emissionen des Personenverkehrs notwendig. Jedoch neigen politische Entscheidungsträger eher zu technischen Lösungen (Thaller et al. 2021 [13]). Auch eine vergleichende Fallstudienanalyse zur Verkehrsplanung zweier schwedischer Städte (Lund und Eskilstuna) zeigt, dass ein Aufbau veränderter Institutionen innerhalb der Stadtverwaltung erreicht werden kann, in dem sich Planungsroutinen und -normen u. a. in öffentlichen Verwaltungen allmählich ändern, so dass verkehrspolitische Maßnahmen zur Einschränkung bzw. Reduzierung des KFZ-Verkehrs zur normalen Vorgehensweise in der Verkehrsplanung gehören (Hrelja und Rye 2022-[7]). Eine weitere Fallstudienanalyse der schwedischen Städte Göteborg und Stockholm macht zudem deutlich, dass die Verwaltungsstrukturen durch Mitarbeiter: innen teilweise als zu komplex empfunden werden, da zu viele verschiedene Fachämter an der Ausgestaltung von Maßnahmen beteiligt sind. Dadurch werden Entscheidungen der Stadtverwaltung durch die Bevölkerung teilweise als widersprüchlich angesehen. Ein grundsätzliches Problem stellt in diesem Zusammenhang der Widerstand der Bevölkerung gegen umfassende Veränderungen, wie z. B. die avisierte Reduzierung des KFZ-Verkehrs, dar (Pettersson et al. 2021 [8]). Insgesamt zeigt sich, dass die politische Kultur und die politischen Strukturen eine hohe Relevanz im Kontext verkehrspolitischer und -planerischer Maßnahmen aufweisen. Mit dem Ansatz der Fallstudien wird versucht, komplexe Phänomene (viele Akteure, unterschiedliche Zielsetzungen, unterschiedliche Perspektiven usw.) gesamthaft zu untersuchen. Maßnahmenpakete sind ein wichtiger Baustein für einen nachhaltigen urbanen Verkehr. Mit einem Maßnahmenpaket werden unterschiedliche Ziele verfolgt, um die Wirksamkeit einzelner Maßnahmen zu verbessern. Eine Untersuchung von Hindernissen und Erfolgsfaktoren für einen nachhaltigen urbanen Verkehr mittels eines Fallstudienansatzes von drei norwegischen Städten zeigt, dass die Umsetzung von Maßnahmenpaketen insgesamt die wichtigste Strategie ist. Die Studie zeigt auch, dass kontextuelle Faktoren, wie die Größe der Stadt, die Struktur der Politikpakete und die Aufteilung der Rollen und Zuständigkeiten in Bezug auf Flächennutzungs- und Verkehrspolitik zwischen nationalen, regionalen und lokalen Behörden, einen Einfluss darauf haben kann, welche Art von Hindernissen bei der Gestaltung und Umsetzung politischer Maßnahmen wahrscheinlich auftreten wird (Bardal et al. 2020 [5]). Eine weitere Fallstudienanalyse der Städte München, Berlin, Hamburg, Wien und Zürich im Zeitraum der letzten 25 Jahre zeigt verschiedene Strategien zur Förderung nachhaltiger Mobilität auf. München, Berlin und Hamburg haben über einen weitaus längeren Zeitraum in die Förderung des Radverkehrs investiert als Wien und Zürich. Alle fünf Städte haben ähnliche Maßnahmen zur Förderung des Zufußgehens sowie einer kompakten, gemischten Bebauung und zur Reduzierung der KFZ-Nutzung ergriffen. Die Parkraumbewirtschaftung zur Reduzierung des KFZ-Verkehrs ist hier die wichtigste Maßnahme (Buehler et a. 2017 [6]). Eine Metaanalyse vier US-amerikanischer Städte ergibt, dass Maßnahmenpakete für den Modal Shift vom MIV zu Rad- und Fußverkehr wirksamer sind, als die Umsetzung von Einzelmaßnahmen. Zudem ist die Umsetzung von Pull- Maßnahmen, u. a. für Rad- und Fußverkehr, verhältnismäßig einfach, während Push-Maßnahmen für den KFZ-Verkehr in der Bevölkerung wenig akzeptiert und daher nur schwer durchsetzbar sind (Piatkowski et al. 2019 [12]). Eine Stated-preference-Befragung der Bevölkerung Pekings zeigt auf, dass Push-Maßnahmen die Intention zur Nutzung von ÖPNV, Fahrrad, Taxi oder Carpooling signifikant erhöhen. Eine Kombination von Push-und- Pull-Maßnahmen erhöht jedoch nicht zwangsläufig die Wirksamkeit, sondern kann auch gegenteilige Effekte auslösen. Eine zu komplexe Kombination aus Push-und- Pull-Maßnahmen kann demnach zu schwer vorhersehbaren Wirkungen führen, die vor Umsetzung der Maßnahmenpakete schwierig abzuschätzen sind (Wang et al. 2022 [10]). Eine zusammenfassende Übersicht betrachteter Maßnahmen ausgewählter Autoren findet sich in Tabelle 3. Was gesellschaftlich akzeptabel ist, ist nicht zwingend wirksam. Die Akzeptanz der Bevölkerung für verkehrspolitische und -planerische Maßnahmen ist ein zentraler Faktor für deren erfolgreiche Implementierung. So wird die Akzeptanz von drei verkehrspolitischen Maßnahmen einzeln und in Kombination in einer Fragebogenstudie un- Methoden (Auswahl) Autoren (Auswahl) Fallstudien Bardal et al. (2020) [5], Buehler et al. (2017) [6], Hrelja & Rye (2022) [7], Pettersson et al. (2021) [8] Stated-preference-Befragung und Fragebogenstudien Eriksson et al. (2008) [9], Wang et al. (2022) [10], Wicki et al. (2019) [11] Mixed-Methods Piatkowski et al. (2019) [12], Thaller et al. (2021) [13] Tabelle 2: Übersicht verwendeter Methoden Quelle: Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 23 Wissenschaft POLITIK tersucht, an der schwedische KFZ-Fahrer teilnahmen. Die Ergebnisse zeigen, dass Pull-Maßnahmen im Vergleich zu Push-Maßnahmen als wirksamer, gerechter und akzeptabler empfunden werden. Hingegen werden Maßnahmenpakete, die Push-und-Pull-Maßnahmen kombinieren, als ungerecht und inakzeptabel empfunden. Insgesamt zeigt sich aber, dass die Akzeptanz für Maßnahmenpakete höher ist als für einzelne Push-Maßnahmen (Eriksson et al 2008 [9]). Die Stated-preference-Befragung aus dem Jahr 2018 in Deutschland, den USA und China zeigt, dass die Akzeptanz von Push-und-Pull-Maßnahmen deutliche räumliche Unterschiede aufweist. So werden bei den Befragten in China höhere Zustimmungswerte für strengere Maßnahmenpakete erreicht als bei denen in den USA oder Deutschland, was insbesondere auf einen Einfluss der jeweiligen politischen Kultur hindeutet. Insgesamt zeigt sich auch hier, dass Push-Maßnahmen in der Öffentlichkeit weniger Akzeptanz erfahren als Pull-Maßnahmen und infolgedessen einen negativen Einfluss auf die Unterstützung von Maßnahmenpaketen haben. Die öffentliche Akzeptanz von Push-Maßnahmen wird dabei jedoch hauptsächlich durch deren Härte bestimmt. So erhalten Push-Maßnahmen wie temporäre Zufahrtsbeschränkungen an maximal drei Tagen in der Woche für private KFZ ähnlich hohe Zustimmungswerte bei den Befragten wie Pull-Maßnahmen und sogar höhere Zustimmungswerte als Informationskampagnen (Wicki et al. 2019 [11]). Es zeigt sich insgesamt, dass die weniger wirksamen Pull-Maßnahmen von der Bevölkerung eher akzeptiert werden als die verhältnismäßig wirksameren Push-Maßnahmen. Maßnahmenpakete können so auch für die (öffentliche) Akzeptanz förderlich sein. Schlussfolgerungen und Möglichkeiten für weitere Forschung Ganzheitlicher Ansatz im Sinne eines Policy-Cycle Die Ergebnisse der Bestandsaufnahme zeigen, dass ein ganzheitlicher Ansatz im Sinne eines Policy-Cycle bestehend aus Agenda Setting, Implementation, Impact und Akzeptanz in der Literatur nicht zu finden ist. Der ganzheitliche Ansatz des Policy-Cycle ist jedoch notwendig, da auf diese Weise vor allem kulturelle und politische Besonderheiten und die damit verbundenen Entscheidungsabläufe differenzierter analysiert werden können. Insgesamt erscheint es notwendig, verkehrspolitische Prozesse in allen Phasen zu verstehen. Mit dem Ansatz des Policy-Cycle soll im Forschungsprojekt Push & Pull der ganzheitliche prozessuale Charakter verkehrspolitischer und -planerischer Maßnahmen mit Fokus auf Deutschland untersucht werden, auch hinsichtlich der Wirkungszusammenhänge auf unterschiedlichen Ebenen (national, regional, lokal). Verkehrspolitische und -planerische Maßnahmen Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass verkehrspolitische und -planerische Maßnahmen differenziert in Abhängigkeit der spezifisch kontextbedingten Situation zu denken, planen und umzusetzen sind. Somit zeigt sich, dass es keine Einheitslösung gibt. Das Forschungsprojekt Push & Pull will untersuchen, wie ein sinnvolles Zusammenspiel von Push-und-Pull-Maßnahmen für Deutschland aussehen kann. Dabei werden vor allem die Aspekte Wirksamkeit, Wahrnehmung und Akzeptanz von Push-und-Pull-Maßnahmen vertieft analysiert. Im Sinne der integrierten Verkehrsplanung und -politik ist es zudem notwendig, benachbarte Disziplinen mit ihren Maßnahmen in die Analyse einzubeziehen. Politische Kulturen und Strukturen in der Verkehrsplanung Es lässt sich feststellen, dass die jeweils unterschiedlichen Planungssysteme und die dazugehörigen unterschiedlichen politischen Kulturen und Strukturen einen wesentlichen Einfluss auf verkehrspolitische und -planerische Prozesse haben und somit von Bedeutung für eine erfolgreiche Erarbeitung und Umsetzung von Push-und- Pull-Maßnahmen sind. Im Forschungsprojekt Push & Pull soll daher u. a. für Deutschland berücksichtigt werden, welchen Einfluss die jeweilige politische Kultur und die entsprechenden politischen Strukturen in der Verkehrsplanung sowie der Aufbau von Verwaltungen und Institutionen auf die Erarbeitung und Umsetzung von Maßnahmen haben und welche Hindernisse dabei bestehen können. Methodisches Vorgehen In Bezug auf das methodische Vorgehen der analysierten Literatur lässt sich insgesamt feststellen, dass vielfältige methodische Ansätze genutzt werden. Das Forschungsprojekt Push & Pull greift den Mixed-Methods- Ansatz auf. Mit einer qualitativen Meta-Analyse sollen unterschiedliche Wirkungsebenen erfasst werden, die Maßnahmen Autoren u. a. autofreie Fußgängerzonen, Verkehrsberuhigung (u. a. Geschwindigkeitsbegrenzung auf 10 km/ h, Verbreiterung der Gehwege, kürzere Wartezeiten an Fußgängerampeln, Parkraumbewirtschaftung Buehler et al. (2017) [6] Steuererhöhung auf fossile Brennstoffe, Verbesserung öffentlicher Verkehrsmittel, Subvention von erneuerbaren Brennstoffen Eriksson et al. (2008) [9] Integrierte Verkehrs- und Flächennutzungsplanung, Parkraumbewirtschaftung, Umwandlung von Straßenraum für nachhaltige Verkehrsträger, Angebotsausweitung öffentlicher Verkehrsmittel Hrelja & Rye (2022) [7] Echtzeitinformationen im ÖPNV, neue Park & Ride-Angebote, Verbesserung der Verknüpfung verschiedener ÖPNV-Angebote, City-Maut, Zufahrtsbeschränkungen, Parkgebühren Wang et al. (2022) [10] Steuer auf fossile Brennstoffe, Reduzierung der Subventionen für Autoindustrie, Emissionsgrenzwerte für Neuwagen, Umweltzonen in der, finanzielle Unterstützung für den ÖPNV, öffentliche Informationskampagnen Wicki et al. (2019) [11] Tabelle 3: Übersicht betrachteter Maßnahmen ausgewählter Autoren Quelle: Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 24 POLITIK Wissenschaft von Push-und-Pull-Maßnahmen ausgehen. Für die Erfassung der Wahrnehmung von Push-und-Pull-Maßnahmen aus Sicht der drei zentralen gesellschaftlichen Akteure Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft werden Experteninterviews, Fokusgruppen und Bürgerwerkstätten durchgeführt. Um Aussagen zur Akzeptanz treffen zu können, wird auch eine Stated-preference-Befragung (Conjoint) durchgeführt. Fazit Generell wird in Deutschland weiterhin an Parallelfinanzierungen (MIV und ÖV) festgehalten, wie die aktuellen Beispiele 9-Euro-Ticket und Tankrabatt zeigen. Aber für die notwendige Verkehrswende braucht es seitens der Politik eine Abkehr, davon lediglich in Wahlperioden zu denken. Ganzheitliche Lösungsansätze für komplexe Fragestellungen im Verkehrsbereich sind demnach notwendig. Anknüpfend daran wird im Forschungsprojekt Push & Pull versucht, umfassende Erkenntnisse zur Wirksamkeit, Wahrnehmung und Akzeptanz von Pushund-Pull-Maßnahmen zu erlangen und daraus abgeleitete Planungsempfehlungen und konkrete Handlungsansätze für die Erarbeitung und Umsetzung von Push-und- Pull-Maßnahmen(paketen) zu entwickeln. ■ QUELLEN [1] Müller, P.; Schleicher-Jester, F.; Schmidt, M.-P.; Topp, H. (1992): Konzepte flächenhafter Verkehrsberuhigung in 16 Städten. Grüne Reihe 24 des Fachgebietes Verkehrswesen der Universität Kaiserslautern zusammen mit dem Umweltbundesamt, Fachgebiet II 3,4. [2] Meyer, M. D. (1999): Demand management as an element of transportation policy: using carrots and sticks to influence travel behavior. In: Transportation Research Part A, Vol. 33, S. 575-599. DOI: 10.1016/ S0965-8564(99)00008-7 [3] Holz-Rau, C.; Scheiner, J. (2018): Raum und Verkehr - Welche Interventionen können zur Reduzierung klimawirksamer Verkehrsemissionen beitragen? In: Straßenverkehrstechnik, Nr. 1, S. 19-28. [4] Van Wee, B.; Banister, D. (2016): How to Write a Literature Review Paper? In: Transport Reviews, Vol. 36, Nr. 2, S. 278-288. DOI: 10.1080/ 01441647.2015.1065456 [5] Bardal, K. G.; Gjertsen, A.; Reinar, M. B. (2020): Sustainable mobility: Policy design and implementation in three Norwegian cities. In: Transportation Research Part D, Vol. 82, S. 1-15. DOI: 10.1016/ j.trd.2020.102330 [6] Buehler, R.; Pucher, J.; Gerike, R.; Götschi, T. (2017): Reducing car dependence in the heart of Europe: lessons from Germany, Austria and Switzerland. In: Transport Reviews, Vol. 37, Nr. 1, S. 4-28. DOI: 10.1080/ 01441647.2016.1177799 [7] Hrelja, R.; Rye, T. (2022): Decreasing the share of travel by car. 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(2019): In search of politically feasible policy-packages for sustainable passenger transport: insights from choice experiments in China, Germany, and the USA. In: Environmental Research Letters, Vol. 14, Nr. 8, S. 1-17. DOI: 10.1088/ 1748-9326/ ab30a2 [12] Piatkowski, D. P.; Marshall, W. E.; Krizek, K. J. (2019): Carrots versus Sticks: Assessing Intervention Effectiveness and Implementation Challenges for Active Transport. In: Journal of Planning Education and Research, Vol. 39, Nr. 1, S. 50-64. DOI: 10.1177/ 0739456X17715306 [13] Thaller, A.; Posch, A.; Dugan, A.; Steininger, K. (2021): How to design policy packages for sustainable transport: Balancing disruptiveness and implementability. In: Transportation Research Part D, Vol. 91, S. 1-12. DOI: 10.1016/ j.trd.2021.102714 Carsten Gertz, Prof. Dr.-Ing. Professor für Verkehrsplanung, Institut für Verkehrsplanung und Logistik, Technische Universität Hamburg gertz@tuhh.de Oliver Schwedes, Prof. Dr. Professor für Verkehrspolitik, Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung, Institut für Land- und Seeverkehr, Fakultät Verkehrs- und Maschinensysteme, Technische Universität Berlin oliver.schwedes@tu-berlin.de Fabian Drews, M.A. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung, Institut für Land- und Seeverkehr, Fakultät Verkehrs- und Maschinensysteme, Technische Universität Berlin fabian.drews@tu-berlin.de Martina Hekler, Dr. Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Verkehrsplanung und Logistik, Technische Universität Hamburg martina.hekler@tuhh.de Brief und Siegel für Wissenschafts-Beiträge Peer Review - sichtbares Qualitätsinstrument für Autoren und Leserschaft P eer-Review-Verfahren sind weltweit anerkannt als Instrument zur Qualitätssicherung: Sie dienen einer konstruktiv-kritischen Auseinandersetzung mit Forschungsergebnissen, wissenschaftlichen Argumentationen und technischen Entwicklungen des Faches und sollen sicherstellen, dass die Wissenschaftsbeiträge unserer Zeitschrift hohen Standards genügen. 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