eJournals Internationales Verkehrswesen 74/4

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2022-0080
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2022
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Ridepooling unter Einfluss des 9-Euro-Tickets

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2022
Christof Pfundstein
Tim Sadler
Nico Kuehnel
Felix Zwick
Das 9-Euro-Ticket hat die ÖPNV-Nachfrage im Sommer 2022 stark gefördert, und sowohl die Nutzung als auch der Nutzen des Tickets wurden in Politik und Gesellschaft kontrovers diskutiert. Dieser Beitrag bietet einen Blick auf die Nachfrage-Entwicklung bei privaten Mobilitätsdienstleistern während des Aktionszeitraums am Beispiel des Ridepooling-Dienstes Moia in Hamburg. Der Beitrag zeigt, dass die Moia-Nachfrage durch den günstigen ÖPNV nicht nachhaltig beeinträchtigt wurde und durch die geförderte Multimodalität als sinnvolle Ergänzung im öffentlichen Mobilitätsmix sogar profitieren könnte.
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Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 52 Ridepooling unter Einfluss des-9-Euro-Tickets Auswirkungen auf die Nachfrage von geteilten Mobilitätsdiensten am Beispiel von Moia Geteilte Mobilität, Ridesharing, ÖV, Öffentlicher Personennahverkehr, Mobilitätsverhalten Das 9-Euro-Ticket hat die ÖPNV-Nachfrage im Sommer 2022 stark gefördert, und sowohl die Nutzung als auch der Nutzen des Tickets wurden in Politik und Gesellschaft kontrovers diskutiert. Dieser Beitrag bietet einen Blick auf die Nachfrage-Entwicklung bei privaten Mobilitätsdienstleistern während des Aktionszeitraums am Beispiel des Ridepooling-Dienstes Moia in Hamburg. Der Beitrag zeigt, dass die Moia-Nachfrage durch den günstigen ÖPNV nicht nachhaltig beeinträchtigt wurde und durch die geförderte Multimodalität als sinnvolle Ergänzung im öffentlichen Mobilitätsmix sogar profitieren könnte. Christof Pfundstein, Tim Sadler, Nico Kuehnel, Felix Zwick D as zwischen Juni und August gültige 9-Euro-Ticket wurde als Entlastungsmaßnahme von der Bundesregierung eingeführt und ermöglichte deutschlandweit eine kostengünstige Mobilität im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Für 9 EUR pro Kalendermonat konnte eine Person deutschlandweit mit dem Regional- und Nahverkehr fahren. Neben der preislichen Komponente hat das Ticket komplexe regionale Tarifsysteme, die für ÖPNV-Nutzende zuweilen eine große Hürde darstellen können (vgl. [1]), deutschlandweit stark vereinfacht. Weltweit gibt es wenige bis keine Vorbilder für ein solch großflächiges günstiges ÖPNV-Ticket (vgl. [2]), wodurch das Ticket einen Pioniercharakter hat und als Blaupause für weitere Maßnahmen zur Förderung nachhaltiger Verkehrssysteme genutzt werden kann. Die Wirkung des Tickets wurde in Politik und Gesellschaft kontrovers diskutiert, und eine Nachfolgeregelung ist mit dem 49-Euro-Ticket ab Januar 2023 in Planung. Zahlreiche Studien haben sich mit der Wirkung des 9-Euro-Tickets auseinandergesetzt und bereits erste Ergebnisse veröffentlicht. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) hat im Auftrag von Foto: MOIA GmbH MOBILITÄT ÖPNV Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 53 ÖPNV MOBILITÄT Bund und Ländern herausgefunden, dass 52 Millionen 9-Euro-Tickets verkauft wurden, zu denen zusätzliche zehn Millionen Abonnent: innen kommen, die das Ticket automatisch erhalten haben (vgl. [3]). Dadurch hat sich die ÖPNV-Nutzung im Laufe des Sommers auf bzw. über das Vor-Corona- Niveau gesteigert und zu vielen Neukund: innen geführt (vgl. [3, 4, 5]). Die Resonanz zum Ticket wird als durchweg positiv beschrieben mit 88 % zufriedenen vom VDV befragten Nutzenden und 90 % Personen, die das Angebot im Hamburger Verkehrsverbund (HVV) als sehr attraktiv beschreiben (vgl. [3, 5]). Zur Bewertung verkehrlicher Effekte wurden die berichteten Verkehrsverlagerungen ausgewertet. In einer Befragung der TU München gaben 26 % der Befragten an, dass sie durch das Ticket weniger Auto und mehr ÖPNV fahren (vgl. [6]). Der VDV berichtet, dass 10 % der Käufer: innen auf mindestens eine ihrer täglichen Autofahrten verzichten (vgl. [3]). Der HVV berichtet, dass für 12 % der ÖPNV-Fahrten ohne das 9-Euro Ticket stattdessen der PKW genutzt worden wäre (vgl. [5]). Dieser Trend wird durch Auswertungen von Mobilfunkdaten des Statischen Bundesamts bestätigt, die einen Trend zu mehr Bahnreisen zwischen 30 und 300 km und gleichzeitig einen moderaten Rückgang im Straßenverkehr beobachten (vgl. [7]). 43 % der Befragten geben den Verzicht auf Autofahrten als Kaufgrund für das Ticket an, was als Konsequenz zu einem stärkeren multimodalen Verkehrsverhalten führte (vgl. [3, 4]). Insgesamt wird ein Trend hin zur Nutzung des umweltfreundlicheren ÖPNV deutlich, was aufgrund der Preisgestaltung erwartet wurde. Der VDV hat hochgerechnet, dass das 9-Euro-Ticket insgesamt zu rund 1,8- Mio. eingesparten Tonnen CO 2 im Aktionszeitraum geführt hat. 33 % der Befragten des VDV gaben an, das 9-Euro-Ticket aufgrund von umständlichen Verbindungen nicht gekauft zu haben, was verdeutlicht, dass der klassische öffentliche Verkehr für viele Personen noch kein passendes Angebot anbietet - eine Lücke, die von privaten Mobilitätsdiensten geschlossen werden könnte (vgl. [3]). Die Auswirkungen des 9-Euro-Tickets auf die Nutzung privater Mobilitätsdienste wie Carsharing, E-Scootersharing oder Ridepooling hat jedoch keine der genannten Studien untersucht. Diese Untersuchungslücke kann dieser Beitrag zur Wirkung des 9-Euro-Tickets auf den Ridepooling-Dienst Moia schließen. Moia ist ein privater Ridepooling-Dienst mit bis zu 500 Fahrzeugen in Hamburg und Hannover. Der Service in Hamburg ist der europaweit größte zusammenhängende Ridepooling-Service. Fahrgäste können eine Fahrt über eine Smartphone-App buchen und werden an virtuellen Haltestellen abgeholt und abgesetzt. Über einen Algorithmus werden Fahrten mit ähnlicher Route zusammengepoolt, sodass aus Kund: innensicht kleine Umwege gefahren werden, um weitere Personen mitzunehmen. Dadurch können Anzahl der Fahrzeuge und Verkehr verringert werden, was in zahlreichen wissenschaftlichen Studien bereits theoretisch (vgl. [8, 9]), aber auch auf Basis des Moia- Service belegt wurde (vgl. [10]). Moia ergänzt den ÖPNV in Hamburg und kooperiert eng mit der Stadt und ÖP- NV-Betreibern. So hat Moia im Frühjahr 2020 während der Corona-Pandemie im Auftrag der Stadt einen speziellen Nachtservice angeboten (vgl. [11]) und kooperierte dieses Jahr für einen Schienenersatzverkehr mit der Stadt und dem ÖPNV (vgl. [12]). In dieser Untersuchung beantworten wir die Frage, wie sich das 9-Euro-Ticket auf die Moia-Nachfrage in Hamburg ausgewirkt hat. Neben einer deskriptiven Analyse der Moia-Nachfrage vor und während des Aktionszeitraums bilden die Befragung von über 1.300 Moia Kund: innen und eine detaillierte Auswertung der Fahrthistorie dieser Personen die Grundlage für die Untersuchung. Dadurch ergibt sich ein umfangreiches Gesamtbild zur Entwicklung der Ridepooling-Nachfrage im Sommer 2022 und den Einfluss, den das 9-Euro-Ticket auf Moia hatte. So können Schlüsse gezogen werden, welche Wirkung ein sehr preiswerter ÖPNV auf aufstrebende Anbieter geteilter Mobilität haben und inwiefern neue Mobilitätsdienste in die zukünftige Entwicklung des Preissystems einbezogen werden sollten. Untersuchungsdesign Neben einer Auswertung der Moia-Nutzung im Zeitraum von März bis August 2022 dient eine Befragung von 1.345 Moia- Kund: innen Ende Juni als Grundlage der Untersuchung. Die für die Untersuchung hinsichtlich des 9-Euro-Tickets relevanten Fragen waren: •• Besitzen Sie ein 9-Euro-Ticket? •• Wann haben Sie Ihr 9-Euro-Ticket gekauft? (einschließlich der Option: „Ich habe es automatisch bekommen“) •• Was denken Sie, wie beeinflusst das 9-Euro-Ticket Ihr zukünftiges Moia-Verhalten? Auf der Grundlage der ersten beiden Fragen haben wir drei Nutzergruppen identifiziert: •• Gruppe A: Kund: innen, die das 9-Euro- Ticket automatisch zum 1. Juni erhalten haben, da sie bereits ein Abo besaßen. •• Gruppe P: Kund: innen, die im Laufe des Junis ein 9-Euro-Ticket proaktiv erworben haben. •• Kontrollgruppe: Kund: innen, die kein 9-Euro-Ticket erworben haben. Die Unterscheidung zwischen Gruppe A und Gruppe P ist nötig, da sich Gruppe P durch die proaktive Kaufentscheidung selbst einer Gruppe zugeordnet hat. Ein natürliches Experiment, das auf Gruppe A angewendet wird, kann auf Gruppe P nicht angewendet werden. Für Gruppe P greifen wir daher auf die Propensity Score Matching-Methode zurück. Für beide Gruppen wird die Moia-Nutzung vor und nach der Einführung des 9-Euro-Tickets am 1. Juni 2022 untersucht. Natürliches Experiment Bei einem natürlichen Experiment handelt es sich um eine Intervention von außen (d. h. ein bestehendes Ticket wird aufgrund eines Gesetzes in seiner Funktion erweitert), die, ähnlich wie ein kontrolliertes Experiment, eine Test-Gruppe betrifft und eine Kontrollgruppe ausspart. Anders als beim kontrollierten Experiment erfolgt die Gruppenzuteilung jedoch nicht zufällig, weswegen in einem natürlichen Experiment keine kausalen Effekte gemessen werden. Diese Vorgehensweise ist wissenschaftlich etabliert und wird auch im Mobilitätskontext angewandt (vgl. [13]). Für das natürliche Experiment ist es notwendig, zwei gleich lange Zeiträume zu wählen. Da unklar ist, ob Personen, die im Juni ein 9-Euro-Ticket erhalten haben, dies auch in den Folgemonaten erhalten haben, beschränken wir uns auf einen aktiven Zeitraum von einem Monat. Der Vergleichszeitraum ist auf Mai 2022 festgelegt, sodass saisonale Effekte berücksichtigt werden müssen. Als junges Unternehmen ist das Moia- Angebot im Juni 2022 nicht mit dem Angebot im Juni 2021 vergleichbar, insbesondere aufgrund Corona-bedingter Unterschiede im Mobilitätsverhalten und stetiger Serviceanpassungen. Propensity Score Matching (PSM) Für die Gruppe, die sich aktiv für den Kauf des 9-Euro-Tickets entschieden hat (Gruppe P), finden wir aufgrund des Selektionseffektes kein natürliches Experiment vor. Kund: innen wählen sich durch den 9-Euro- Ticket-Kauf selbst in Gruppe P, weswegen wir ein so genanntes PSM-Verfahren anwenden. Wir können Gruppe P nicht direkt mit der Kontrollgruppe vergleichen, da sie Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 54 MOBILITÄT ÖPNV - so die Annahme - andere Mobilitätsbedürfnisse hat, die zum Kauf des Tickets geführt haben. Die Idee des PSM-Ansatzes ist, auf Basis sozio-demographischer Daten aus der Befragung und Moia-Nutzungsverhalten nach empirischen Zwillingen zwischen Gruppe P und der Kontrollgruppe zu suchen. Je ähnlicher der daraus resultierende Propensity Score, desto ähnlicher sind sich die empirischen Zwillinge. Die Methodik ist wissenschaftlich etabliert und wird auch im Mobilitätskontext angewandt (vgl. [14]). Um eine Vergleichbarkeit des Service zwischen der Kontrollperiode und der aktiven Periode zu erhalten, wählen wir die Kontrollperiode von Dezember 2021 bis Ende Mai 2022. Die aktive Periode ist auch hier auf den Juni 2022 beschränkt. = veranschaulicht die beiden Ansätze und die jeweils verwendeten Zeiträume. Ergebnisse Deskriptive Servicestatistiken Bei der Betrachtung der monatlichen Moia-Fahrten in Bild 2 fällt auf, dass die Moia- Nutzung von Mai auf Juni erkennbar gesunken ist. Ob diese Korrelation auch kausal mit der Einführung des 9-Euro-Tickets zusammenhängt, ist aus dieser singulären Betrachtung nicht abschließend zu klären, da weitere Faktoren wie das Fahrzeugangebot (-1 % im Juni), Fahrtlängen (+4 % im Juni), Veranstaltungen, Temperaturen oder Niederschlag die Anzahl an Fahrten zusätzlich beeinflussen. Im Juli und August ist ein Anstieg der monatlichen Fahrten zu sehen, der auf Erholungseffekte hinweist. Ein - wenn auch kurzfristiger und schwacher - negativer Effekt des 9-Euro Tickets auf die Moia-Gesamtnachfrage kann nicht ausgeschlossen werden. Befragungsauswertung In der Befragung gaben 51 % der Befragten an, männlich zu sein, 49 % weiblich und sechs Befragte (0 %) gaben an, divers zu sein. Es wurden ausnahmslos volljährige Personen befragt, mit einem durchschnittlichen Alter von 45 Jahren. 74 % der Befragten gaben an, in Vollzeit zu arbeiten, 13 % in Teilzeit und 8 % der Befragten gaben an, im Ruhestand zu sein. Diese sozio-demographische Struktur deckt sich überwiegend mit einer vorherigen Befragung von über 10.000 Moia-Nutzenden (vgl. [12]), was die Annahme nahelegt, dass ein repräsentativer Ausschnitt der Moia-Kundschaft befragt wurde. 72 % aller Befragten gaben an, ein 9-Euro-Ticket zu besitzen. 298 Befragte konnten der Gruppe A, 367 Befragte der Gruppe P und 365 Befragte der Kontrollgruppe zugeordnet werden. Weitere Befragte gaben an, ihr Ticket zu einem späteren Zeitpunkt erworben zu haben oder haben keine Angabe gemacht. Von allen Befragten gaben 80 % an, dass das 9-Euro-Ticket keinen Einfluss auf ihre Moia-Nutzung hat. 20 % gaben an, dass sie Moia seltener oder deutlich seltener nutzen, während nur 1,6 % der Befragten angaben, dass sie Moia häufiger oder deutlich häufiger nutzen. Gruppe A: Ein natürliches Experiment Für die Gruppe A, die das 9-Euro-Ticket automatisch erhalten hat, betrachten wir zunächst die Vergleichs- und aktive Periode im Vergleich zur Kontrollgruppe. Bild 3 zeigt die durchschnittlichen wöchentlichen Moia-Fahrten pro Person von Dezember 2021 bis August 2022 für die Kontrollgruppe (graue Linie) und die Gruppe A (goldene Linie). Die gestrichelte Linie zeigt das Startdatum des 9-Euro-Tickets am 1. Juni. Es ist zu bedenken, dass lediglich abgefragt wurde, ob die Personen im Juni ein 9-Euro-Ticket automatisch erhalten haben. Die Moia-Nutzung von Gruppe A und der Kontrollgruppe scheint sehr ähnlich zu sein, wobei Gruppe A im Durchschnitt etwas mehr Moia-Fahrten aufweist. Dies deutet darauf hin, dass die Inhaber: innen von ÖPNV-Zeitkarten häufiger mit Moia fahren. Dies deckt sich mit den Erkenntnissen aus vorherigen Forschungsarbeiten, dass Moia-Nutzer: innen oftmals multimodale Personen sind, die im Wochenverlauf mehrere Verkehrsmittel wählen (vgl. [12]). Das Nutzungsverhalten beider Gruppen scheint sich nach der Einführung des 9-Euro-Tickets fortzusetzen. Kurz nach Einführung des 9-Euro-Tickets steigt die Moia- Variable Koeffizient Signifikanz Standardfehler Konstante -1,2245 *** 0,247 9-EUR-Ticket-Besitz 0,1205 0,093 Zeitraum-vor-9-EUR-Ticket -0,0453 0,072 Kombinierte Variable 0,1279 0,097 Kontrollvariablen nicht dargestellt Signifikanzniveau: *: p<0,1; **: p<0,05; ***: p<0,01 Tabelle 1: Modellergebnisse des natürlichen Experiments mit der Wahrscheinlichkeit, an einem bestimmten Tag ein Moia zu buchen, als abhängiger Variable Bild 2: Anzahl monatlicher Moia-Fahrten im Jahr 2022 Bild 1: Zeitliche Darstellung des natürlichen Experiments und des Propensity Score Matchings Alle Bilder: eigene Darstellungen Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 55 ÖPNV MOBILITÄT Nutzung der Kontrollgruppe für zwei Wochen über die Nutzung der Gruppe A. Bereits Ende Juni hat sich dieses Verhältnis allerdings wieder gedreht bzw. normalisiert. Mit Hilfe eines statistischen Modells, in das wir weitere Kontrollvariablen aufnehmen, ermitteln wir im Folgenden den „bereinigten“ Effekt des Tickets. Für das natürliche Experiment betrachten wir die Wahrscheinlichkeit, an einem bestimmten Tag eine Fahrt zu buchen, als abhängige Variable und den Zeitraum von Mai bis Ende Juni als Beobachtungszeitraum. Wir betrachten 9-EUR-Ticket-Besitz (= 1, wenn die Person in Gruppe A ist, 0, wenn sie in der Kontrollgruppe ist), Zeitraum-vor-9-EUR-Ticket (= 1, wenn das Datum in der Vergleichsperiode liegt, 0, wenn es in der aktiven Periode liegt) sowie den Interaktionseffekt zwischen den beiden Variablen als unabhängige Variablen und beziehen verschiedene Kontrollvariablen aus der Umfrage und dem Verhalten in der Vergleichsperiode ein. Die Auswirkungen dieser drei Variablen auf die Wahrscheinlichkeit, einen Trip zu buchen, sind in Tabelle 1 dargestellt. Der Koeffizient zeigt die Wirkung der genannten Variablen auf den Logit der logistischen Regression und damit der Wahrscheinlichkeit mit der dazugehörigen Signifikanz an. Aus Gründen der Lesbarkeit haben wir die zahlreichen Kontrollvariablen weggelassen, die in das Modell aufgenommen wurden, um die Wirkung unserer wichtigsten unabhängigen Variablen zu „bereinigen“. Im Modell wurde für keine der Gruppen eine signifikante Verhaltensänderung nach dem 9-Euro-Ticket festgestellt, und es gab weder vor noch während des 9-Euro-Ticket- Zeitraums einen signifikanten Unterschied zwischen Gruppe A und der Kontrollgruppe.Mit anderen Worten: Es gibt keine Hinweise darauf, dass sich die Gruppe der Kund: innen, die ein ÖPNV-Abonnement haben und damit automatisch das 9-Euro-Ticket erhalten (Gruppe A), von der Gruppe der Nicht-Abonnent: innen (Kontrollgruppe) hinsichtlich ihrer Moia-Nutzung unterscheidet. Gruppe P: Propensity Score Matching Die Idee hinter dem PSM-Ansatz ist es, empirische Zwillinge zwischen Gruppe P und der Kontrollgruppe zu finden, wodurch sichergestellt wird, dass vergleichbare Gruppen miteinander verglichen werden. Betrachtet man die durchschnittliche Moia- Nutzung der Gruppe P und der Kontrollgruppe in Bild 4, ist eine leicht höhere Moia-Nutzung der Kontrollgruppe zu erkennen. Zu Beginn der aktiven Periode ist eine geringere Moia-Nutzung in der Gruppe P zu erkennen, was dem grundsätzlichen Trend in der Kontrollperiode entspricht. Im Gegensatz zu Gruppe A haben in Gruppe P nicht alle das 9-Euro-Ticket im Voraus gekauft, was zu einem anderen Start des 9-Euro-Tickets führt. Daher wird keine gestrichelte Linie dargestellt. Um die Signifikanz der Auswirkungen des 9-Euro-Tickets zu ermitteln, wird in einem zweiten Schritt erneut ein statistisches Modell angewendet. Die abhängige Variable des Schätzungszeitraums ist als Anzahl an Fahrten pro Tag nach Aktivierung des Tickets bis zum 28. Juni, dem Ende unseres Beobachtungszeitraums, definiert. Es wird ein Zählmodell angewandt. Im Modell wird die binäre Variable (= 1, wenn die Person eine Fahrt gemacht hat, sonst 0) auf unsere neue abhängige Variable regressiert, wobei ausschließlich die Menge der Zwillingspaare berücksichtigt wird. Als Kontrollvariablen werden zusätzliche Kontrollvariablen verwendet, die bereits im Matching angewendet wurden. Der Effekt der Variable 9-EUR-Ticket-Besitz (= 1 für Personen in Gruppe P, 0 für Personen in der Kontrollgruppe) im zweiten Modell zeigt die strukturellen Unterschiede zwischen Gruppe P und der Kontrollgruppe. Die Variable 9-EUR-Ticket-Besitz-zum-Zeitpunkt (= 1 für Personen mit einem zum jeweiligen Zeitpunkt aktiven Ticket, sonst 0) gibt den Effekt des 9-Euro-Tickets an, nachdem es aktiviert worden ist. Die Ergebnisse des Modells sind in Tabelle 2 dargestellt. Beide untersuchten Variablen haben einen negativen Koeffizienten, der allerdings nicht signifikant ist. Wie bei der Gruppe A und der Kontrollgruppe ist also kein signifikanter Unterschied zwischen der Gruppe P und der Kontrollgruppe über den gesamten Zeitraum zu sehen. Signifikante Hinweise auf eine Verhaltensänderung durch das 9-Euro-Ticket sind nicht zu erkennen. Es gibt demnach keine Anhaltspunkte dafür, dass der finanzielle Anreiz zur Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel zu einer Verrin- Variable Koeffizient Signifikanz Standardfehler Konstante -1,9442 *** 0,678 9-EUR-Ticket-Besitz -0,2048 0,394 9-EUR-Ticket-Besitz-zum-Zeitpunkt -0,2068 0,390 Kontrollvariablen nicht dargestellt Signifikanzniveau: *: p<0,1; **: p<0,05; ***: p<0,01 Tabelle 2: Modellergebnisse des Propensity Score Matchings Bild 3: Durchschnittliche Anzahl wöchentlicher Moia-Fahrten vor und nach der Einführung des 9-Euro-Tickets Gruppe A und Kontrollgruppe. Für die Periode ab Juli ist der Besitz des 9-Euro- Tickets unklar. Bild 4: Durchschnittliche Anzahl wöchentlicher Moia-Fahrten vor und nach der Einführung des 9-Euro-Tickets Gruppe P und Kontrollgruppe. Für die Periode ab Juli ist der Besitz des 9-Euro- Tickets unklar. Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 56 MOBILITÄT ÖPNV gerung der Moia-Nutzung in den beobachteten Gruppen geführt hat. Diskussion Das 9-Euro-Ticket hat die Mobilitätslandschaft in Deutschland substanziell beeinflusst und zu intensiven Diskussionen über den verkehrlichen Nutzen der Maßnahme geführt. Aus der Sicht privater Mobilitätsanbieter gab es neben der grundsätzlichen Unterstützung preiswerter öffentlicher Mobilität auch die Befürchtung, einen Einbruch der eigenen Nachfrage zu erleben, da sie trotz ihres Potenzials, den Verkehr zu entlasten, von der öffentlichen Förderung nicht profitiert haben. Für den Ridepooling-Dienst Moia wurde im Juni, während der Anfangseuphorie des 9-Euro-Tickets, ein moderater Nachfragerückgang beobachtet, der neben dem 9-Euro-Ticket durch weitere Faktoren wie z. B. weniger eingesetzte Fahrzeuge oder saisonale Effekte zu erklären ist. Die Nachfrage erholte sich im Juli und August. Durch eine Befragung und Fahrtenanalyse von über 1.300 Moia-Kund: innen gibt diese Studie Einblicke in die Implikationen des 9-Euro- Tickets für die Moia-Nachfrage. Die Detailuntersuchung der Befragten hat ergeben, dass Bestandskund: innen, die ein 9-Euro- Ticket hatten, in der untersuchten Periode nicht signifikant weniger Moia gefahren sind als Bestandskund: innen, die kein 9-Euro-Ticket hatten. Dies zeigt, dass der Fahrpreis nur eines von vielen Kriterien für die Verkehrsmittelwahl ist und Moia weiterhin als Ergänzung auf Relationen genutzt wird, auf denen der klassische ÖPNV keine attraktive Verbindung anbieten kann. Hinzu kommt, dass Nutzende des 9-Euro-Tickets ein etwaig bestehendes Mobilitätsbudget vermehrt für Moia-Fahrten nutzen konnten. Existierende Studien zum 9-Euro-Ticket haben festgestellt, dass Nutzende des Tickets verstärkt multimodal unterwegs sind (vgl. [3, 4]), was ebenso auf Moia-Kund: innen zutrifft, welche Moia aktuell überwiegend als Ergänzung zum ÖPNV nutzen (vgl. [12]). Daher hat Moia ein Interesse daran, dass öffentliche multimodale Mobilität gestärkt wird. Dies kann sowohl mit einem breiten Produktportfolio an öffentlichen Angeboten als auch mit attraktiven Preismodellen dieser Produkte passieren. Moia kooperiert bereits heute mit dem ÖPNV in Hamburg und wurde in der Vergangenheit mehrfach sowohl tariflich als auch verkehrlich in das ÖPNV-System integriert (vgl. [11, 15]). Als fester Bestandteil des öffentlichen Verkehrssystems wird Moia in Zukunft seinen Ridepooling-Service als Linienbedarfsverkehr nach § 44 PBefG anbieten (vgl. [16]). Das Modellprojekt „Auf dem Weg zum Hamburg-Takt” (AWHT, vgl. [17]) fördert die zunehmende Integration Moias in den ÖPNV, um diesen durch eine technische und tarifliche Integration weiter zu stärken. Eine tarifliche Integration sollte auch bei zukünftigen ÖPNV-Zeitkarten-Angeboten wie dem geplanten 49-Euro-Ticket auf Ridepooling und weitere geteilte Mobilitätsanbieter ausgeweitet werden, um die Attraktivität des öffentlichen Systems zu erhöhen und Personen zugänglich zu machen, die bislang überwiegend mit dem privaten PKW unterwegs sind. ■ LITERATUR [1] Dziekan. K.; Zistel M. (2018): Öffentlicher Verkehr. In: Verkehrspolitik, 2. Ausgabe, S. 317-340. [2] Kębłowski, W. (2020): Why (not) abolish fares? Exploring the global geography of fare-free public transport. In: Transportation, Bd. 6, Nr. 47. [3] Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (2022): Bilanz zum 9-Euro-Ticket. www.vdv.de/ bilanz-9-euro-ticket.aspx (Abruf: 08.09.2022). 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