Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2022-0081
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GGG-Klassen für Fahrzeuge
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Konrad Otto-Zimmermann
Sophie Elise Kahnt
Jori Milbradt
Carsten Sommer
Werden alle Personen-Individualfahrzeuge nach Merkmalen von Größe, Gewicht und Geschwindigkeit (GGG) erfasst und nach objektiven Schwellenwerten in sieben Klassen eingeteilt, so können die S-Klassen
(XXS, XS, S) als Feinmobilität bezeichnet werden. Die GGG-Klassen sind geeignet, stadträumlich relevanten Planungen, Infrastrukturbemessungen und Verkehrsregelungen zugrunde gelegt zu werden. Dies
erlaubt eine sachgerechte Differenzierung, wo das gegenwärtig eine Bemessungsfahrzeug „PKW“ zur längerfristigen Festschreibung von flächen- und kostenintensiven Verkehrsanlagen führt.
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Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 57 GGG-Klassen für Fahrzeuge Klassifizierung nach Größe, Gewicht und Geschwindigkeit und die Begründung von Feinmobilität Feinmobilität, Fahrzeug-Klassifizierung, GGG-Klassen, Bemessungsfahrzeug Werden alle Personen-Individualfahrzeuge nach Merkmalen von Größe, Gewicht und Geschwindigkeit (GGG) erfasst und nach objektiven Schwellenwerten in sieben Klassen eingeteilt, so können die S-Klassen (XXS, XS, S) als Feinmobilität bezeichnet werden. Die GGG-Klassen sind geeignet, stadträumlich relevanten Planungen, Infrastrukturbemessungen und Verkehrsregelungen zugrunde gelegt zu werden. Dies erlaubt eine sachgerechte Differenzierung, wo das gegenwärtig eine Bemessungsfahrzeug „PKW“ zur längerfristigen Festschreibung von flächen- und kostenintensiven Verkehrsanlagen führt. Konrad Otto-Zimmermann, Sophie Elise Kahnt, Jori Milbradt, Carsten Sommer I mmer mehr Kommunen möchten die Gebühren für das Abstellen von Kraftfahrzeugen im öffentlichen Straßenraum an den realen Kosten orientieren und nach Parklast staffeln. Unter Parklast ist die Inanspruchnahme von öffentlichem Raum und Belastung anderer Stadtfunktionen durch abgestellte Fahrzeuge zu verstehen. Indikatoren für Parklast sind insb. Länge, Breite, Höhe, Seitenprofil, Fläche, Raumnahme (Außenvolumen) und Gewicht. Es besteht örtlich auch Bedarf an größendefinierten Zufahrtsregelungen für sensible Stadtbereiche wie z. B. historische Altstädte mit schmalen Gassen, Umgebungen von Kindergärten und Schulen oder Klinikkomplexen. Geht’s nicht feiner? - Motivation Vielfach wird kritisiert, dass das Dienstwagenprivileg [1] den Trend zu großen und hoch motorisierten Fahrzeugen fördert und es daher auf eine bestimmte Obergröße beschränkt oder nach Größenordnungen gestaffelt werden sollte. Dies hat das Fachgebiet Verkehrsplanung und Verkehrssystem der Universität Kassel, das Freiburger Kreativstudio The Urban Idea, den Verkehrsclub Deutschland (VCD) e.V. und die Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung e.V. dazu veranlasst, eine gestaffelte Klassifizierung von Fahrzeugen nach Größe, Gewicht und Geschwindigkeit zu entwickeln. Die heutige Gigantomanie im Fahrzeugbestand führt nicht selten zu skurrilen Anblicken, wenn beispielsweise Tür, Schaufenster und Lichtreklame eines Restaurants vom Geländewagen des Inhabers verdeckt werden, oder zu unerträglichen Belastungen, etwa wenn der Ausblick aus Erdgeschoss-Fenstern durch PKW mit enormem Seitenprofil versperrt wird. Parkende Großmobile blockieren Sichtbeziehungen im Straßenraum und zerstückeln diesen (Bild-1). Die weithin geteilte Skepsis gegenüber immer größeren Personenfahrzeugen drückt sich in einer verbreiteten SUV-Kritik aus [1]. Diese richtet sich gegen die Maßlosigkeit, die Automobilhersteller und Kunden zu einer Zeit praktizieren, die von Klimaschutz, Ressourcenschonung, Flächenschonung und „menschlichem Maß“ gekennzeichnet sein sollte. Die Kritik wendet sich aber auch gegen die vergleichsweise hohe kinetische Energie, die Respekt fordernde und sogar Angst einflößende Wuchtigkeit, die von Bordsteinen und Schrammborden nicht abzuweisenden großen Räder, die zum Teil aggressive Formensprache der Frontpartie, die Verstellung des Blicks über den Straßenraum, den stärkeren Reifen- und Straßenabrieb durch höheres Gewicht und andere Merkmale (Bild 2) [3]. Was gegen Bild 1: Vom Straßenraum bleibt die Gehschlucht. Foto: Autoren Verkehrsplanung MOBILITÄT Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 58 MOBILITÄT Verkehrsplanung SUV ins Feld geführt wird, trifft weitgehend auch auf Vans, Kleinbusse und Lieferfahrzeuge zu. Es wird daher gefordert, dass Produktions-, Kauf- und Nutzungsanreize sowie Infrastruktureinrichtungen und Verkehrsregelungen auf das ökonomische Prinzip - erweitert um das ökologische Prinzip - ausgerichtet werden sollten. Danach werden Mobilitätsbedürfnisse und Transportzwecke mit der •• kleinsten, leichtesten, energiesparendsten und kostengünstigsten sowie •• emissionsärmsten, raumsparendsten, leisesten und ressourcenschonendsten Beförderungsoption befriedigt [4]. Dies kann als Ökomobilität bezeichnet werden. Von fein bis grob - die Körnung von Fahrzeugen Zur Objektivierung der Diskussion und zur Schaffung von Verkehrsplanungs- und -Verkehrsordnungsparametern bedarf es einer nüchternen Betrachtung von Größe, Gewicht und Geschwindigkeit (GGG) von Fahrzeugen. Im Projekt „Feinmobilität“ [5] gehen wir von einer nahezu stufenlosen Körnung von Fahrzeugtypen aus (Bild 3) und vermeiden eine Vorprägung der Ergebnisse durch bestehende Einteilungen. Sowohl die Fahrzeugsegmentierung der europäischen Kommission und nach KBA als auch die Klassifizierung nach EG eignen sich nicht zur Kategorisierung des breiten Spektrums von Fahrzeugen für stadträumliche Regelungen (wie insb. Parkraumregelungen) und auch nicht als Bezugseinheiten für Geschwindigkeitsregelungen, da sie ausschließlich Kraftfahrzeuge umfassen. Noch weniger eignen sie sich als Basis für monetäre Anreize für Erwerb bzw. Nutzung von Verkehrsmitteln mit menschlichem Maß, weil sie die dafür relevanten Merkmale nicht ausreichend differenziert berücksichtigen. Daher erscheint eine neue Klassifizierung von Fahrzeugen notwendig. Benötigt wird eine Kategorisierung, auf die •• technische Regelwerke der Infrastrukturplanung, •• straßenrechtliche und straßenverkehrsrechtliche Bestimmungen sowie die •• Auslegung von baulicher Infrastruktur und •• kommunale Verkehrsflächenwidmungen aufsetzen können. Sie sollte einfach und verständlich aufgebaut sein und Größe, Gewicht und Geschwindigkeit (GGG) berücksichtigen. Wir brauchen eine Gesamtklassifizierung, die alle Fahrzeuge der Feinmobilität und nicht nur Kraftfahrzeuge in der heutigen Definition einschließt und die auf (stadt-)räumliche und ökologische Verträglichkeit ausgerichtet ist. Das bedeutet, dass nicht nur die Qualitäten für die Insassen, sondern auch die Qualitäten für die Menschen im Straßenraum und die Stadtqualität berücksichtigt werden. Dies schließt Wirkungen auf die folgenden Funktionen ein: •• Orientierung im Straßenraum, •• Sicherheitsempfinden im Straßenraum, •• Wohlbefinden und soziale Interaktionen von Menschen im Straßenraum, •• Begegnungsverkehr in schmalen Straßen, •• Flächenbedarf im Stand und im Fahrbetrieb. In einem Folgeschritt werden wir auch die Qualitäten für die Umwelt betrachten, insbesondere den Material- und Energieaufwand bei der Fahrzeugherstellung, die Recyclierbarkeit der Fahrzeuge und ihrer Komponenten, spezifische Energieverbräuche und Luftschadstoff-Emissionen beim Betrieb sowie den Straßen- und Reifenabrieb. Wir schlagen vor, Fahrzeuge des gesamten Spektrums an Bewegungsmitteln nach sieben Kategorien einzuteilen, die jedem aus der Bekleidungswirtschaft geläufig sind: XXS, XS, S, M, L, XL, XXL. Körnung operationalisieren - Merkmale, Schwellenwerte und Zuordnung zu GGG-Klassen Wir haben das Fahrzeugspektrum nach den folgenden Merkmalen untersucht: •• Größe: Länge, Breite, Höhe und Seitenprofil, Fläche (Grundfläche), Raumnahme (Außenvolumen), Wendekreis; •• Gewicht (Masse): Leergewicht (auch bei PKW ohne Fahrer), maximal zulässiges Gesamtgewicht; Nutzlast; •• Geschwindigkeit: Bauartbedingte Höchstgeschwindigkeit; •• Gewicht und Geschwindigkeit (in Kombination): Kinetische Energie. Für jedes dieser Merkmale haben wir Schwellenwerte für die Einteilung in die sieben Klassen definiert. Je nach Merkmal fällt die Reihung der Fahrzeuge und daher die Zuordnung zu einer Klasse unterschiedlich aus, weil beispielsweise ein kurzes Fahrzeug recht breit oder ein leichtes Fahrzeug recht hoch sein kann. Bild 3: Körnung von Personen-Individualfahrzeugen Darstellung: Projekt Feinmobilität 2021 Bild 2: Größenvergleich am Straßenrand Foto: Frank Walensky / pixabay Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 59 Verkehrsplanung MOBILITÄT Nach dem Durchspielen und Testen verschiedener Wege zur Fusionierung der Einzelzuordnungen zu einer Gesamteinstufung hat sich die folgende, vereinfachende Berechnungsregel als praktikabel herausgestellt: Zuordnung eines Fahrzeugs zu einer GGG-Klasse = 0,50 * Klassenzuordnung beim Merkmal „Raumnahme“ + 0,25 * Klassenzuordnung beim Merkmal „Wendekreis“ + 0,25 * Klassenzuordnung beim Merkmal „Kinetische Energie“ Die GGG-Klassenzuordnung von rund 100 Referenzfahrzeugen, die das Spektrum vom Rollschuh und Einrad bis zum Geländewagen, Lieferwagen und Wohnmobil abdecken, hat zu intuitiven und plausiblen Ergebnissen geführt. Das GGG-Klassifizierungssystem erlaubt die eindeutige Zuordnung jedes Fahrzeugs, ob für den Verkehr auf öffentlichen Straßen zugelassen oder nicht. Vom Feinsten - die Feinmobilität Die GGG-Klassifizierung erlaubt es, „Feinmobilität“ zu definieren. Zur Feinmobilität zählen wir Mobilität mit Verkehrsmitteln der S-Klassen (also der GGG-Klassen XXS, XS und S) im Spektrum „zwischen Schuh und Auto“ (Bild 4). Die Vielfalt von Feinfahrzeugen des Personen-Individualverkehrs und des leichten Güterverkehrs ist beeindruckend und wird jedes Jahr durch viele neue Fahrzeugkonzepte erweitert. Das Konzept der GGG-Klassen erleichtert es, für den jeweiligen Einsatzbereich die kleinste, leichteste, feinste Option im Spektrum aller Personen-Individualfahrzeuge und leichten Wirtschaftsfahrzeuge zu wählen. Es erlaubt einen differenzierteren Blick auf die Räderwelt, als es die heute oft in den Raum gestellten Alternativen „Auto oder Fahrrad“ bzw. „Lieferwagen oder Lastenrad“ nahelegen. Wir wollen der heute vorherrschenden Grobmobilität eine feinere Alternative entgegensetzen, die für nahezu Jede und Jeden sowie für fast alle Fahrt- oder Transportzwecke im Stadt- und Regionalverkehr taugt. Um für den Umwelt- und Klimaschutz relevante Verkehrsanteile von großen und schweren auf kleine und leichte Fahrzeuge zu verlagern, blicken wir auf die Gesamtfahrleistung, also auf die zurückgelegten Fahrzeugkilometer. 75 Prozent der Jahresfahrleistung von PKW entfallen auf Fahrten unter 100 Kilometer; 25 Prozent der Jahresfahrleistung entfallen auf Fahrten, die länger als 100 Kilometer sind, dies sind nur rund ein Prozent aller Fahrten. Die Hälfte der PKW-Fahrleistung wird zum Arbeitspendeln sowie für dienstliche Aktivitäten erbracht. Ein Viertel der Fahrleistung entfällt auf Freizeitaktivitäten [6]. Auch Fahrzeuge der Feinmobilität (Klassen XXS bis S) können bis zu vier Sitzplätze und bauartbedingte Höchstgeschwindigkeiten von bis zu 120 km/ h haben. Sie taugen damit grundsätzlich für Strecken bis 100 Kilometern, sind fernstraßentauglich sowie für Pendler-, Dienst- und Freizeitfahrten geeignet und könnten einen relevanten Anteil der Fahrleistung erbringen, wie es auch eine DLR-Studie zum Potential von elektrischen Klein- und Leichtfahrzeugen zeigt [7]. Fein voran - Fortführung der Arbeit am GGG-Klassifizierungssystem Das von uns mit unseren Partnern entwickelte System der GGG-Klassen stellt ein Handwerkszeug zur differenzierten Widmung von Raum, Flächen und Verkehrswegen für Zwecke des fließenden Verkehrs und zum Abstellen von Stehzeugen bereit. Es wird in einem Fachgespräch und weiteren Anwendungssimulationen validiert werden, bevor wir es im Detail veröffentlichen und zur Anwendung empfehlen werden. ■ QUELLEN [1] Agora Verkehrswende und Öko-Institut (2021): Dienstwagen auf Abwegen. Warum die aktuellen steuerlichen Regelungen einen sozial gerechten Klimaschutz im Pkw-Verkehr ausbremsen. www. oeko.de/ fileadmin/ oekodoc/ Agora-Verkehrswende-Dienstwagen_ auf_Abwegen.pdf (Abruf: 15.10.2022). [2] „SUV-Bashing“ mit Begriffen wie Dinosaurier, Stadtmonster, Blähmobil u. ä., siehe z. B. www.duh.de/ projekte/ suv-zerstoerenunsere-staedte/ [3] Ministerium für Verkehr Baden-Württemberg (o. J.): Ruhender Verkehr. Hinweispapier für die Straßenverkehrsbehörden, Bußgeldbehörden und Kommune in Baden-Württemberg, S. 8. https: / / vm. baden-wuerttemberg.de/ fileadmin/ redaktion/ m-mvi/ intern/ Dateien/ Brosch%C3%BCren_Publikationen/ 210415_VM_Ruhender_ Verkehr_DinA4_ES_web.pdf (Abruf: 16.10.22). Kocher, B. (2010): Stoffeinträge in den Straßenseitenraum - Reifenabrieb. In: Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen. Verkehrstechnik Heft V188, S. 7. https: / / bast.opus.hbz-nrw.de/ opus45bast/ frontdoor/ deliver/ index/ docId/ 60/ file/ V188.pdf (Abruf: 16.10.22). [4] Ideen zu Standards, Blatt Ökomobilität, hrsg. von The Urban Idea, Freiburg 2018. [5] Mobilität mit menschlichem Maß - Feinmobilität für Umwelt- und Klimaschutz, Stadt- und Lebensqualität. Projekt der Universität Kassel, Fachgebiet Verkehrsplanung und Verkehrssysteme (Prof. Dr. Carsten Sommer) in Zusammenarbeit mit The Urban Idea, Freiburg, gefördert durch die Deutsche Bundesstiftung Umwelt. Das Vorhaben hat auch die Arbeitsgruppe Feinmobilität des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) e.V. sowie den Arbeitskreis „Fahrzeugdimensionen/ Feinmobilität“ der Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung (SRL) e.V. fachlich begleitet und unterstützt. [6] infas, DLR, IVT und infas 360 (2018): Mobilität in Deutschland (im Auftrag des BMVI), S. 71-72. [7] Brost, M.; Gebhardt, L.; Ehrenberger, S.; Dasgupta, I.; Hahn, R.; Seiffert, R. (2021): The Potential of Light Electric Vehicles for Climate. Protection Through Substitution for Passenger Car Trips - Germany as a case study. Projectreport. www.dlr.de/ content/ de/ downloads/ 2022/ lev-studie.pdf (Abruf: 16.10.22). Jori Milbradt, B. A. Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Verkehrsplanung und Verkehrssysteme, Universität Kassel jorimilbradt@uni-kassel.de Carsten Sommer, Univ.-Prof. Dr.-Ing. Fachgebietsleitung Verkehrsplanung und Verkehrssysteme , Universität Kassel c.sommer@uni-kassel.de Sophie Elise Kahnt, M.Sc. Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Verkehrsplanung und Verkehrssysteme, Universität Kassel sophie.kahnt@uni-kassel.de Konrad Otto-Zimmermann, Dipl.-Ing., Mag. rer. publ. Kreativdirektor, The Urban Idea GmbH, Freiburg konrad@theurbanidea.com Bild 3: Abgrenzung der Feinmobilität gegenüber Mittel- und Grobmobilität Darstellung: Projekt Feinmobilität 2022
