eJournals Internationales Verkehrswesen 74/4

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2022-0084
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2022
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Digitaler Streckenatlas

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Thomas Langkamm
Digitalisierung hat die Weiterentwicklung des Schienenverkehrs in den letzten Jahren so sehr geprägt wie kaum ein anderes Thema. Die vielen Papierberge sind fast vollständig verschwunden. Das Ziel der „Digitalen Bahn“ ist dennoch lange nicht erreicht. Denn hierfür müssen nun sämtliche Prozesse zu einem integrierten Gesamtsystem verbunden werden. Damit dies gelingt, braucht es Übersicht. Die kann eine Art digitaler Streckenatlas liefern, der sämtliche Streckendaten detailliert und vollständig dokumentiert.
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Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 66 Digitaler Streckenatlas Was die Bahn vom Bauwesen lernen kann Digitale Bahn, Train Management, Infrastrukturdaten, Digitaler Streckenatlas, Schienenverkehr Digitalisierung hat die Weiterentwicklung des Schienenverkehrs in den letzten Jahren so sehr geprägt wie-kaum ein anderes Thema. Die vielen Papierberge sind fast vollständig verschwunden. Das Ziel der „Digitalen Bahn“ ist dennoch lange nicht erreicht. Denn hierfür müssen nun sämtliche Prozesse zu einem integrierten Gesamtsystem verbunden werden. Damit dies gelingt, braucht es Übersicht. Die kann eine Art digitaler Streckenatlas liefern, der sämtliche Streckendaten detailliert und vollständig dokumentiert. Thomas Langkamm V erbesserte Pünktlichkeit, energieoptimiertes Fahren oder optimal genutzte Zugflotten: All dies sind Versprechen der Digitalisierung. Ausgeschöpft ist ihr Potenzial noch nicht. Denn hierfür bedarf es des lückenlosen Zusammenspiels zwischen den vielen verschiedenen, wenn inzwischen auch digitalisierten Prozessen. Wohin die Reise gehen kann, zeigt z. B. die Verknüpfung von modernen Stellwerken und neuer Sicherungstechnik. Sie ist die Grundlage für den Einsatz fortschrittlicher Zugbeeinflussungssysteme (ETCS), die schnell und effizient auf Ressourcenkonflikte reagieren. Das heißt, automatisiert erkennen sie technische Defekte oder Verspätungen und bewerten ihre Auswirkungen. Vorteile vernetzter Einzelsysteme Ein weiteres Beispiel aus der Praxis: die vollständige Vernetzung von Werkstattplanung, Fahrzeugdisposition und Störungsmanagement im Fahrplan. Das Train Management System PSItraffic/ TMS des Berliner Softwareherstellers PSI Transcom integriert bspw. Fahrzeug- und Werkstattdisposition mit einem Train Control System (TCS) oder Zuglenksystem, das Züge vollautomatisch lenkt und Konflikte auf (Teil-) Fahrstraßenebene ermittelt. Ihr lückenloses Zusammenspiel führt zu einer gleichmäßigeren Auslastung der Werkstatt, reduziert Aufwände bei der Fahrzeugzuführung und sorgt für eine höhere Fahrzeugverfügbarkeit in der Disposition. Erkennt das System Konflikte, z. B. bei veränderter Zugreihenfolge oder notwendiger Umfahrung von gesperrten Gleisen, errechnet das System unter Berücksichtigung aller Folgefahrten, Anschlüsse und Werkstattbestellungen Lösungsvorschläge. Für Fahrdienstleiter und Disponenten, die unter erheblichem Zeitdruck Entscheidungen treffen müssen, bedeutet dies eine erhebliche Entlastung. Matterhorn-Gotthard-Bahn Foto: PSI Transcom TECHNOLOGIE Digitalisierung Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 67 Digitalisierung TECHNOLOGIE Denn im Konfliktfall müssen sie nun nur noch die gewünschte Lösung auswählen. An „BIM“ ein Beispiel nehmen Fest steht: Um alle vorhandenen Systeme auf diese Art zu vernetzen, braucht es Überblick. Die Baubranche zeigt mit Building Information Modeling (BIM), wie es geht: Mithilfe dieser Arbeitsmethode werden alle relevanten Bauwerksdaten und entsprechender Software digital modelliert, kombiniert und erfasst und somit von Anfang an das Gebäude und seine spätere Bewirtschaftung integriert geplant. Zwar sind die Anforderungen des Bahnbetriebs deutlich komplexer und heterogener als in der Baubranche, das Ziel einer vollständigen Datenerfassung und vernetzten Planung aller beteiligten Bereiche ist aber dasselbe: Indem sie angestrebte Synergien von Beginn an identifizieren, erhöhen sie die Effizienz des Gesamtsystems und schließen doppelte und fehleranfällige Datenpflege in verschiedenen Einzelprojekten kategorisch aus. Technische Modernisierung setzt also die digitale und präzise (Neu-)Erfassung der gesamten Infrastruktur voraus. Zukunftslösungen basieren auf Synergien Anders als in der Vergangenheit, genügt es bspw. bei der Planung eines neuen Stellwerks nicht mehr, lediglich Informationen zum Schienennetz und zu den Signalpositionen einzubeziehen. Gleiches gilt für die Erstellung einer digitalen Fernsteuerung, für die Modernisierung der Zuglenkung oder bei der Einführung eines automatischen Fahrbetriebs. Ihre Vernetzung hebt enorme Potenziale, setzt aber die gesamte Projektierung in elektronischer Form voraus. Dies betrifft auch Daten, die nicht selten tief in der Stellwerksprojektierung verborgen sind. Dazu zählen z. B. Informationen zu Durchrutschwegen, zum Flankenschutz und zu den sich daraus ergebenden Fahrstraßenausschlüssen. Mit einfließen müssen darüber hinaus auch sämtliche Daten aus flankierenden Fremdsystemen. Auf folgende Fragen muss ein integriertes System Antworten liefern, um sämtliche Abhängigkeiten berücksichtigen zu können: •• Wann kann eine Fahrstraße gestellt werden, ohne andere Züge zu behindern? •• Wird der gerade eingefahrene Zug rechtzeitig wieder abfahren, um die Strecke für den nächsten Zug freizugeben? •• Welche Umfahrungen sind bei verspätungsbedingten Konflikten möglich und sinnvoll? •• Unter welchen Bedingungen wird die Zugreihenfolge geändert, wenn teils verspätete Züge von verschiedenen Linien auf eine gemeinsam genutzte Strecke einfahren? •• Wo befinden sich Gefahrenstellen, an denen ggf. langsamer gefahren werden muss? •• Welche Beschleunigung ist - unter Berücksichtigung der Gleisplangeometrie wie Steigungen und Kurvenradien - optimal, um die Ankunftszeit bei minimalem Energieverbrauch einzuhalten? •• Welche Anschlüsse sollen gehalten werden, wie viel Spielraum gibt es dafür und welche Umsteigezeiten sind erforderlich? •• Wann muss ein Halt um einige Sekunden verlängert werden, um einen Anschluss bei einem leicht verspäteten Zubringer zu halten? Aufwändige Suche nach Informationen In heutigen Modernisierungsprojekten führt die Erfassung der Infrastruktur immer wieder gleich zu Beginn zu massiven Verzögerungen und Kostensteigerungen. Gibt es überhaupt aktuelle Gleispläne, in denen alle später veränderten oder modernisierten Infrastrukturelemente vermerkt sind? Sind die Daten zu Kurvenradien und Steigungen detailliert genug? Sind die Bedingungen zur Stellung von Fahrstraßen (Durchrutschwege, ggf. in verschiedenen Varianten, mit entsprechendem Flankenschutz) dokumentiert? Und sind all diese Daten fehlerfrei? Antworten zu finden, ist mit erheblichen Aufwänden verbunden. Denn die Informationen sind über etliche Quellen verteilt, z. B. Gleispläne, Stellwerkprojektierung, Projektierung der Leitsysteme, Geo-Informationssysteme, Fahrplan- und Anschlusssicherung sowie Fahrgastinformation. Nicht selten widersprechen sich die ermittelten Daten teilweise und erfordern eine Prüfung und Konsolidierung. Weitere Verzögerungen sind die Folge. Gerade bei großen Gleisnetzen braucht es schließlich Monate oder sogar Jahre, um alle Gleisplandaten zu erfassen. Strukturierte Herangehensweise macht den Unterschied Weil Verkehrsunternehmen auf dem Weg zur „Digitalen Bahn“ um diesen Schritt nicht mehr herumkommen werden, kommt es umso mehr auf eine strukturierte Herangehensweise an, die Überraschungen vermeidet und viel Zeit einsparen kann. Bewährt hat sich das folgende Vorgehen: Zunächst wird die technische Infrastruktur auf Basis der Gleisplanunterlagen erfasst. Darauf folgt die Integration und Prüfung der Stellwerksdaten (Fahrstraßen, Zeitverhalten). Die Definition der makroskopischen Netzelemente - von Bahnsteiggleisen und Haltepositionen als Basis externer Fahrplan- und Fahrgastsysteme sowie Anschlusssicherung - verknüpfen das Schienennetz mit den Softwarekomponenten, die eine weniger detaillierte Netzmodellierung verwenden. Um ein automatisches Routing auch bei Störungen zu ermöglichen, werden Regel- und Alternativfahrwege hinterlegt. Der letzte Schritt umfasst die Anreicherung durch weitere externe Daten, z. B. GPS-Koordinaten und Fangbereiche für Bahnhöfe/ Gebiete. Durch sie lassen sich Position und Geschwindigkeit von Zügen innerhalb eines Gleisabschnitts bestimmen, wodurch wiederum das TCS präzise Positionsinformationen ohne aufwendige Schnittstellen zur On-Board-Technik erhält. Voraussetzungen für eine erfolgreiche Datenerfassung 1. Datenerfassung im Standardformat Für die Datenerfassung empfehlen sich verbreitete und ausgereifte Standardformate wie railML oder EULYNX. Durch sie liegen die Daten vollständig und widerspruchsfrei in einem gut dokumentierten Format vor, was ihre Wiederverwertbarkeit in Nachfolgeprojekten sicherstellt. Selbst wenn später zu integrierende Software diesen Standard nicht unterstützt, ist eine Konvertierung in das jeweils gewünschte Format kostengünstig und leicht möglich. Für die eine oder andere Konvertierung stehen zudem schon Softwarelösungen zur Verfügung. 2. Verwendung eines grafischen Editors Ein Bild sagt mehr als tausend Worte: Während Excel-Tabellen oftmals vollständige Daten enthalten, z. B. Gleisabschnitte, Weichen- und Signaltabellen, lassen sich mithilfe eines grafischen Programms Inkonsistenzen zwischen den verschiedenen Datenquellen erheblich schneller und zuverlässiger identifizieren. Dabei sind eigens für Gleispläne konzipierte Editoren generischen CAD-Zeichenprogrammen deutlich überlegen. So lässt sich bspw. eine Fahrstraße in mehreren Varianten (verschiedene Durchrutschwege mit entsprechend verschiedenen Flankenschutzbedingungen) und inklusive zahlreichen Detailinformationen (Auflösegruppen oder zusätzliche Stellbedingungen) mit vernünftigem Aufwand handhaben. Empfehlenswert ist zudem ein Editor, der über Simulationswerkzeuge verfügt, mit denen sich die Stellwerksprojektierung praxisnah überprüfen lassen. Von Vorteil sind auch die unterschiedlichen Sichten auf das Netz, etwa die Aufteilung in Isolierabschnitte, Bahnhofsbereiche, Stellwerksbereiche, makroskopische Gleise oder Gleisbereiche mit Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 68 TECHNOLOGIE Digitalisierung spezialisierten Nutzungsarten. Zwar basieren diese Strukturen auf demselben Gleisnetz, lassen sich aber aufgrund der Vielfalt der Informationen nicht in einer einzelnen Darstellung integrieren. 3. Integration verschiedener Sichten Die Integration der verschiedenen Sichten und Detailstufen der verknüpften Systeme ist eine Aufgabe, die häufig unterschätzt wird. Sinnvoll ist, schon früh im Prozess zu klären, welche Datenquellen bei der Netzerfassung zu integrieren sind, welche Abnehmer es für die Daten gibt und worin sich verwendete Datenmodelle unterscheiden. Auch wenn verschiedene Abnehmer ggf. stark abweichende Sichten definieren, die das Netz in der gewünschten, meist weniger detaillierten Form darstellen, sollte das Gleisnetz immer im größtmöglichen Detailgrad erfasst werden. Ein einzelner Gleisplan muss z. B. folgende Sichten erzeugen: Verknüpfung von Fahrplan und Stellwerk Fahrplansysteme kennen oftmals nur eine „makroskopische“ Topologie des Netzes - Stationsgleise und die sich aus den Linienfahrten ergebenden Fahrmöglichkeiten. Für die Zuglenkung gilt es diese Vorgaben in eine detaillierte Gleisplantopologie zu überführen. Soll bspw. ein Zug von einem zum nächsten Bahnhof geleitet werden, muss das Zuglenksystem dieser Vorgabe (Gleis 1 im aktuellen Bahnhof nach Gleis 3 im benachbarten Bahnhof ) eine Abfolge von Fahrstraßen zuweisen, die zugleich keine Konflikte mit anderen Zügen oder Streckensperrungen erzeugt. Integration von Zuglenkung und Stellwerk Auch bei der Topologie von Zuglenksystemen, die fälschlicherweise häufig mit der Stellwerksicht gleichgesetzt wird, ist einiges zu beachten. Bei geteilten Bahnsteiggleisen oder für permissives Fahren zerfallen Gleisabschnitte, in denen sich verschiedene Züge befinden können, in mehrere Teile. Ähnliches gilt für Abstellanlagen, die nach klassischer Bauweise noch ohne Achszähler oder Isolierstöße gebaut sind. Integration funkbasierter Ortungssysteme In einen vollständigen digitalen Streckenatlas gehören zudem alle Daten funkbasierter Ortungssysteme - einschließlich GPS. Diese arbeiten mit räumlichen Koordinaten, die auf Gleisabschnitte, z. B. Bahnhofsbereiche abgebildet werden müssen. Akkurate Erfassung aller Signalpositionen Selbst Systeme, die prinzipiell mit Daten von gleicher Detailtiefe arbeiten, basieren in der Regel auf unterschiedlichen Logiken. So kennt das Stellwerk bspw. Abschnitte, die durch Isolierstöße oder Achszähler getrennt sind, und deren Grenzen davorstehende Signale sichern. Überfährt ein Zug ein Signal, dann befindet er sich aus Sicht des Stellwerks bereits in dem nächsten Abschnitt, obwohl das Signal tatsächlich einige Meter vor der Abschnittgrenze steht. Das Gleisplanmodell muss deshalb für einige Objekte neben der wirklichen Position in der Lage sein, „virtuelle“, abnehmerspezifische Positionen zu verwalten. Die „Digitale Bahn“ kann kommen Es ist angerichtet: Dank der rasanten technologischen Entwicklung der letzten Jahre stehen inzwischen alle benötigten Softwarelösungen und Standards zur Verfügung, die für einen zuverlässigen und sicheren Datenaustausch der „Digitalen Bahn“ notwendig sind. Die Basis der durchgängigen, vollintegrierten Planung schafft ein digitaler Streckenatlas. Zwar ist die vollständige Erfassung der Infrastruktur mit einigem Aufwand verbunden, eine strukturierte Herangehensweise vermeidet jedoch Überraschungen. ■ Thomas Langkamm Projektleiter, PSI Transcom GmbH, Berlin tlangkamm@psi.de Gleisplaneditor von NEAT_Trackplan editor Foto: NEAT