Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2022-0086
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2022
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Ist meine Mobilitätsentscheidung eine Frage der Moral?
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2022
Henning Tegner
Inwieweit ist eine einzelne Mobilitätsentscheidung, wie die Freizeitfahrt mit einem Diesel-SUV, moralisch zu beurteilen? Nachdem Walter Sinnott-Armstrong 2005 eine entsprechende individuelle moralische Verantwortung verneint hat, hat dies in philosophischen Fachkreisen eine intensive, bis heute anhaltende Diskussion ausgelöst. Der Beitrag spiegelt diese Diskussion an Ergebnissen der ökonomischen Ethik und schlägt vor, die moralische Beurteilung des individuellen Mobilitätsverhaltens auf eine Ebene zu richten, die weder ausschließlich auf der derjenigen einzelner Wahlhandlungen, noch ausschließlich auf der ordnungsökonomischen Ebene liegt.
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FORUM Standpunkt Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 74 Ist meine Mobilitätsentscheidung eine Frage der Moral? Ethik, Klimaschutz, Mobilitätsverhalten, Moral Inwieweit ist eine einzelne Mobilitätsentscheidung, wie die Freizeitfahrt mit einem Diesel-SUV, moralisch zu beurteilen? Nachdem Walter Sinnott-Armstrong 2005 eine entsprechende individuelle moralische Verantwortung verneint hat, hat dies in philosophischen Fachkreisen eine intensive, bis heute anhaltende Diskussion ausgelöst. Der Beitrag spiegelt diese Diskussion an Ergebnissen der ökonomischen Ethik und schlägt vor, die moralische Beurteilung des individuellen Mobilitätsverhaltens auf eine Ebene zu richten, die weder ausschließlich auf der derjenigen einzelner Wahlhandlungen, noch ausschließlich auf der ordnungsökonomischen Ebene liegt. Henning Tegner S ind meine persönlichen Mobilitätsentscheidungen eine Frage der Moral? 1 Bereits die Fragestellung stört mich - weder freue ich mich auf moralinsaure Belehrungen, noch nützt mir eine moralische Aufladung meiner alltäglichen Handlungsmuster. Dabei ist grundsätzlich nicht zu bestreiten, dass das Verkehrssystem, das ich alltäglich nutze, einen erheblichen Beitrag zum Klimawandel leistet, und dass sich Veränderungen hin zur Verkehrswende 2 langsamer einstellen als erwartet und erforderlich. Insofern ist die Frage wohl berechtigt, ob mir als Einzelnem eine (moralische) Verpflichtung zukommt, meine Mobilitätsentscheidungen nach den Anforderungen des Klimaschutzes auszurichten. Unbestritten ist sie nicht, wie sich zeigen wird. Gehen wir der Einfachheit halber zunächst von der These aus, dass eine solche Verpflichtung besteht. Beim Einstieg in die Untersuchung helfen drei Kritiker dieser These. Mit einigen ihrer Argumente soll hier die Auseinandersetzung gesucht werden, ohne dass dadurch ein abschließendes Urteil möglich wird. Die Auseinandersetzung wird ergänzt um einige wichtige Argumentationslinien aus dem Zweig der Zukunftsethik. Die Untersuchung würde vermutlich im Unentschiedenen und damit in großer Verwirrung enden, wenn sie nicht die Möglichkeiten einbezieht, die dem Einzelnen durch seine Einflussmöglichkeiten auf das kollektive Verhalten zukommen, bis hin zur Einflussnahme auf politischen Entscheidungen. 1. Moralische Überforderung des Einzelnen? Gibt es vor dem Hintergrund des ernstzunehmenden Klimawandels eine strenge moralische Pflicht, 3 auf eine einzelne Mobilitätsaktivi- 1 Der Text gibt die persönliche Auffassung des Verfassers wieder. Anders als das stilistische Ich suggerieren mag, lassen die nachfolgenden Ausführungen allerdings nicht auf die realen Handlungen des Autors rückschließen. 2 In Anlehnung an Agora Verkehrswende erfordert eine Verkehrswende einerseits eine Energiewende im Verkehr bzw. Antriebswende und andererseits eine Mobilitäts- oder Modalwende. Die Frage nach dem „richtigen“ Mobilitätsverhalten, um die es in diesem Beitrag geht, betrifft den zweiten Baustein der Verkehrswende. 3 Unter strenger moralischer Pflicht verstehe ich im Sinne Birnbachers „vollkommene Pflichten“, die mit einem korrespondierenden moralischen Recht (im Sinne eines Anspruchs) Dritter einhergeht, von mir nicht geschädigt zu werden, vgl. Birnbacher (2014), S.95. Demgegenüber ist die Ausübung „unvollkommener Pflichten“ zwar verdienstlich bzw. tugendhaft, aber nicht geschuldet. Die - nicht durchgängig trennscharfe Unterscheidung zwischen perfekten (vollkommenen) und mittleren (unvollkommenen) Pflichten findet sich erstmals bei Cicero. Entsprechend unterscheidet Kant zwischen Rechts- und Tugendpflichten - erstere geschuldet, zweitere verdienstlich, vgl. Höffe (2018), S. 104 oder Trillhaas (1970), S. 85 ff., 92 tät, nehmen wir eine Fahrt mit dem Diesel-PKW, zu reinen Vergnügungszwecken zu verzichten? Unter dem Titel „It’s not my fault“ 4 geht Walter Sinnott-Armstrong dieser Frage nach und vermutet, dass die meisten Umweltschützer wohl genau dies bejahen würden. In seiner Analyse legt Sinnott-Armstrong vor allem einen konsequentialistischen sowie einen pflichtenorientieren Kriterienkatalog an. 5 Mit dem konsequentialistischen Blick auf die Wirkungen des eigenen Mobilitätshandelns käme die Vergnügungsfahrt demnach zweifellos nicht in Betracht, wenn sie anderen ernsthaft schaden würde. Dies sei jedoch zu verneinen, da eine einzelne Fahrt keinen messbaren Einfluss auf den Klimawandel hat, der nach Sinnott- Armstrongs Auffassung ohnehin bereits eingetreten ist. Des Weiteren könne die Fahrt auch nicht auf indirektem Wege zu hinreichend weiteren schädigenden Handlungen führen, indem etwa meine einzelne Vergnügungsfahrt andere dazu verführt, es ebenso zu tun. Denn einerseits sei mein Einfluss auf das Verhalten bei anderen doch sehr begrenzt, andererseits würden auch Nachahmungsaktivitäten am Ende quantitativ nicht ins Gewicht fallen. Des Weiteren, so Sinnott-Armstrong, lasse sich auch keine Pflicht zur Vermeidung der Vergnügungsfahrt aus dem Grund herleiten, dass ein entsprechender Verzicht vernünftigerweise auch von allen anderen Gesellschaftsmitgliedern zu erwarten wäre. Besteht das Risiko einer Überbeanspruchung natürlicher Ressourcen durch solche Fahrten (und andere Aktivitäten), dann bedürfe es zwingend eines übergeordneten Koordinationsmechanismus, der in ff. Diesseits des Bereichs vollkommener Pflichten liegt auch das Handeln im Adiaphoron, also in dem „freien“, nicht vom moralischen Gesetz beschatteten Raum, der keine moralischen Handlungen erfordert, jedoch die Klugheit, zwischen den Alternativen die richtigen Wertungen vornehmen zu können, vgl. z.B. Trillhaas (1970), S. 75 ff. Klugheit wäre demnach die Tugend des richtigen Bewertens von Handlungen. Für das Verständnis dieses Beitrags ist die Unterscheidung zwischen moralischem Gebot (=-Pflicht) und moralisch Wünschenswertem von wesentlicher Bedeutung. 4 Vgl. Sinnott-Armstrong (2005). 5 Der Konsequentialismus beurteilt die Sittlichkeit einer Handlung nach den Konsequenzen, wie es von der utilitaristischen Ethik gefordert wird, während die Pflichtenethik nach Maßstäben absoluter Pflichten sucht, wie sie sich in Kants kategorischem Imperativ ausdrücken, vgl. z.B. Höffe (2018), S. 61 ff., 65 ff. Geht es um die Frage einer direkten oder auch indirekten körperlichen Schädigung anderer, führen beide Modelle zum gleichen moralischen Gebot, diese zu unterlassen. Der Beitrag verfolgt nachgehend in Anlehnung an die in der sog. Zukunftsethik“ vorherrschende Methodik vor allem den konsequentialistischen Strang, vgl. z.B. Meyer (2018), S. 55 ff. Die Untersuchung aus dem Blickwinkel der Pflichtenethik verdient eine gesonderte Betrachtung. Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 75 Standpunkt FORUM diesem Fall - wie der Bau einer Brücke - vom Staat darzubringen sei. Die erforderliche Koordinationsleistung dem bzw. den Einzelnen aufzubürden wäre demnach in praktisch-organisatorischer wie ökonomischer Hinsicht unangebracht und ein Verzicht auf Verschwendung wohl wünschenswert, jedoch nicht streng moralisch geboten. 6 Am Ende seien ohnehin nur die großen Staaten in der Lage, den Klimawandel zu verlangsamen, und hierzu wären sie auch entsprechend verpflichtet. In diesem Sinne sieht auch Dieter Birnbacher als ein Vertreter der Zukunftsethik die Akteure der Weltpolitik in der Hauptverantwortung, den Klimawandel zu bekämpfen. Dem Individuum komme, soweit es keine exponierte, mit Macht ausgestattete Position als Entscheiderin innehat, lediglich eine indirekte Verantwortung für den Klimaschutz zu. Um ihr überhaupt Verantwortung zuweisen zu können, müssten drei Voraussetzungen erfüllt sein: 7 •• Wissen über die Ausgangssituation - auch der Pläne anderer Akteure - und über die Folgen des eigenen Handelns; •• Freiheit zum Handeln oder Unterlassen; •• Feasibility: Möglichkeit, die Effekte auf den Klimawandel zu beeinflussen. 8 Gehen wir einmal davon aus, dass einerseits das Wissen um den Klimawandel bei mir als Mensch im Mobilitätsdilemma grundsätzlich vorhanden ist und sich der CO 2 -„Fußabdruck“ einer einzelnen Autofahrt mithilfe eines marktüblichen Klimarechners ermitteln lässt, und dass weiterhin die Pläne anderer Akteure in der akuten Dilemmasituation keine Rolle spielen. Des Weiteren bestehe die vollständige Freiheit, die Fahrt zu unternehmen oder auch zu unterlassen. Somit verbleibt zur Überprüfung der dritte Punkt - die Frage nach meiner Möglichkeit, auf „die Effekte“ (des mobilitätsbedingten Klimawandels) Einfluss zu nehmen. Verfüge ich also über die Möglichkeit, mit einer einzelnen Mobilitätsentscheidung Einfluss auf die Entwicklung des Weltklimas zu nehmen? In der Zukunftsethik wird diese Frage als „Problem der minimalen Beiträge“ behandelt - in dieser Konstellation ist meine individuelle Handlung mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht diejenige, die das „Faß zum Überlaufen bringt“. 9 Ich kann zudem nicht annehmen, dass ausgerechnet mein Verhalten andere dazu animiert, gemeinsam ein Zuviel an Treibhausgas-Emissionen (THG-Emissionen) zu verursachen. Selbst die Einschätzung, dass ich mich mit meiner Fahrt zum „Komplizen“ klimaschädigender Akteure mache, 10 geht wohl fehl, weil sich von meiner einzelnen Fahrt mit dem SUV nicht auf ein generelles, aktiv bejahendes, schädliches Klimaverhalten schließen lässt, auch wenn dieser Rückschluss - so die Vermutung des Verfassers - für manchen Dritten wohl von verführerischer Einfachheit wäre. 11 Insofern ist Birnbacher wohl zuzu- 6 Hiermit kommt Sinnott-Armstrong der Argumentationslinie der nachfolgend in Abschnitt 2 eingeführten ökonomischen Ethik sehr nahe. In seiner zusammen mit Ewan Kingston 2018 verfassten Replik auf die zahlreichen Entgegnungen zu seinem Aufsatz aus 2005 spielt diese Linie allerdings keine Rolle mehr. 7 Vgl. Birnbacher (2016), S. 132 f. 8 Diesen Aspekt sieht auch Homann (2014) S. 107. 9 In der Gegenposition zu Sinnott-Armstrong reichen geringe Wahrscheinlichkeiten aus, um einen „kleinen Beitrag“ als moralisch relevant zu beurteilen, vgl. Kagan (2011), insb. S. 118 ff.: „Do I make a Difference? I might.“ (S. 141), oder in den Worten Birnbachers: „Jede einzelne unterlassene Autofahrt […] leistet einen Beitrag zur Reduzierung der Emissionen, auch wenn dieser Effekt erst in der Kumulation […] signifikant wird.“, Birnbacher (2016), S. 141 ff. Aus Sicht des Verfassers ist es im Übrigen sachgerecht, unter der Problematik des minimalen Beitrags das Beispiel einer einzelnen Autofahrt zu verhandeln, nicht jedoch das Beispiel einer Fernflugreise mit signifikant höheren Emissionen. 10 Zur moralischen Einordnung der Komplizenschaft in der Bioethik vgl. Birnbacher (2016), S. 144 ff. 11 Es könnte von Dritten eine „expressive Signifikanz“ vermutet werden: Meine SUV-Fahrt zeige doch, dass mir der Klimaschutz egal wäre. Tatsächlich läge diese Vermutung wohl dann nahe, wenn ich beispielsweise in gesonderter Handlung einen Social Media-Account anlege, den ich mit Selfies meiner luxuriösen Fahrten füttere. stimmen, dass beim Einzelnen keine moralische Verantwortung für die Klimafolgen zu suchen und zu finden ist, erst recht nicht für die Folgen einer einzigen Vergnügungsfahrt. Indes ist die Frage nach der Reichweite meines persönlichen „minimalen“ Beitrags durchaus weiterführend und daher zu einem späteren Zeitpunkt erneut aufzugreifen. Eine klar ablehnende Positionierung lässt sich auch bei Karl Homann finden, der die Grenzen der Individualmoral dort zieht, wo das Können der Einzelnen (im Sinne einer wirksamen Einflussnahme) endet. Jenseits dieser Grenzen sei es Aufgabe der Rechts- und Wirtschaftsordnung, dem Einzelnen die richtigen Anreize zu setzen. Bleibt dies aus und werde vom Einzelnen gleichwohl ein bestimmtes moralisches Handeln erwartet, untergrabe dies letztlich die Bereitschaft zum moralischen Handeln überhaupt. In diesem Sinne arbeitet auch Pies aus, dass in der (moralischen) Erwartung an das Individuum, seine Motivation doch so zu ändern, dass es den gesamtwirtschaftlichen Zielen dienlich wird, ein moralistischer 12 bzw. normativistischer Fehlschluss liegen würde. Mit anderen Worten: Selbst wenn ein solcher individueller Verzicht aus übergeordneter moralischer Sicht wünschenswert wäre, wäre eine entsprechende Erwartung an den Einzelnen solange verfehlt, wie die Anreizstruktur nicht so spezifiziert ist, dass alle Mobilitätsteilnehmer einen Anreiz erhalten, auf Freizeit- (oder andere) Fahrten partiell zu verzichten. Folgen wir dieser Argumentationslinie, so deutet sich als Zwischenergebnis an, dass mir als Mensch im beschriebenen Mobilitätsdilemma keine strenge moralische Pflicht zukommt, meine geplante Vergnügungsfahrt zu unterlassen. 2. Klärung der Dilemma-Situation Es lohnt der Überprüfung, wie das eingangs beschriebene Mobilitätsdilemma methodisch überhaupt einzuordnen ist. Hierfür bieten die ökonomische Ethik und die philosophisch dominierte Zukunftsethik unterschiedliche Ansätze: das sogenannte Gefangenendilemma und das „contributors´dilemma“ bzw. Problem der kleinen Beiträge („tiny contributions“). Das aus der spieltheoretischen Literatur bekannte Gefangenendilemma beschreibt im Grundmodell die Situation zweier „Spieler“, die aufgrund einer verfehlten Anreizstruktur proaktiv den anderen „Spieler“ schädigen, um der Schädigung ihrer eigenen Position proaktiv zuvorzukommen. 13 Am Ende stehen also beide Spieler schlechter da. Abstrakt gesprochen entsteht aufgrund der Dilemmastruktur ein Ergebnis, das ursprünglich niemand beabsichtigt hat und das weder aus individueller Sicht noch aus gemeinsamer Betrachtung beider Spieler gewollt ist. Damit beschreibt das Gefangenendilemma eine spezifische Form des institutionellen Versagens. In der Literatur zur ökonomischen Ethik wird eine solche Dilemmasituation häufig u. a. dadurch charakterisiert, dass zwischen den Beteiligten eine strategische Interaktion bzw. eine Interdependenz der einzelnen Handlungen besteht, 14 zudem kennzeichnet sich die Situation durch ein Zugleich von gemeinsamen und konfligierenden Interessen der Handelnden. 15 Wie bereits oben herausgearbeitet, liegt eine echte Interdependenz individueller Handlungen im eingangs beschriebenen Mobilitäts-Dilemma indes kaum vor, und es ist im Hinblick auf die optima- 12 Vgl. Pies (2022), S. 31 f. Tatsächlich kann Moralismus als inhaltlich überzogene Moralforderung verstanden werden, vgl. Mieth/ Rosenthal (2021), S. 37 ff. Um nicht in diese Diskussion zu geraten, neigt der Verfasser zur Verwendung des Begriffs „normativistischer Fehlschluss“, vgl. Suchanek (2007), S. 31. 13 Vgl. Homann (2014), S. 67 ff., 143. 14 Vgl. Suchanek (2007), S. 55 oder Homann (2014), S. 218. 15 Vgl. Homann (2014), ebenda. FORUM Standpunkt Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 76 le Erreichung der Klimaschutzziele auch keinesfalls (im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips) erforderlich, dass ich auf jedwede Vergnügungsfahrt mit dem PKW verzichte. Am Ende ist eine einzelne Autofahrt für Dritte so belanglos, dass auch ein Zugleich von gemeinsamen und konfligierenden Interessen in dieser Hinsicht nicht erkennbar ist. Mit anderen Worten: Die einzelne Fahrt ist einfach zu unmerklich, um eine echte Interaktion auszulösen. Etwas anders nähert sich daher die Zukunftsethik der skizzierten Dilemma-Situation mit der oben skizzierten Konstellation der „kleinen Beiträge“ (tiny contribution) bzw. dem Begriff des „contributors´ dilemma“. Demnach ist der Beitrag jeder einzelnen so geringfügig, dass sie allein nichts bewirken kann, sondern nur, wenn es ihr alle anderen in hinreichendem Maße gleichtun. 16 Der Ökonomin ist dies als Problematik eines öffentlichen Gutes bzw. Kollektivguts bekannt, das vom Einzelnen zwar nur marginal genutzt bzw. verbraucht wird, dessen erstmalige Bereitstellung 17 jedoch erst dann gesichert werden kann, wenn alle Nutzer zu einem angemessenen Beitrag zu dessen Erstellung und Erhalt herangezogen werden. 18 Im Gegensatz zum Gefangenendilemma handelt es sich also um eine extrem schwache Interaktion der Nutzer; 19 gleichwohl - und nur dies hat unsere Situation mit dem Gefangenendilemma gemein - bedarf es zusätzlicher institutioneller Vorkehrungen, um das gesamtgesellschaftliche (öffentliche) Gut einer THG-Minderung im Mobilitätssektor zu erreichen. 20 Wir erhalten somit auf zwei Wegen das Ergebnis, dass meine Freizeitfahrt in moralischer Hinsicht keinem strengen Verbot unterliegt: 1. Im Ergebnis der philosophischen Analyse im Sinne von Sinnott- Armstrong, aber auch im Sinne der Vertreterinnen der Zukunftsethik, ist mein negativer Beitrag so insignifikant, dass sich kein „Sollen“ begründen lässt, die Fahrt zu unterlassen. 2. Aus Sicht der ökonomischen Ethik „kann“ ich allein mangels geeigneter institutioneller Arrangements nicht einmal ansatzweise eine Zielerreichung bewirken, und „soll“ daher folgerichtig nicht verpflichtend aufgefordert sein, die Fahrt zu unterlassen. Ungeachtet dieses Zwischenergebnisses bleibt es unbestreitbar, dass die Begrenzung der Erderwärmung auch mithilfe einer Verkehrswende ein wichtiges Kollektivgut darstellt, das für alle Menschen - zumindest der jüngeren sowie der nachfolgenden Generationen - eine bereits heute verspürbare, zunehmend lebenswichtige Bedeutung hat. Es stellt sich somit die Frage, ob das individuelle Mobilitäts-Dilemma mit dem von Sinnott-Armstrong beschriebenen Szenario hinreichend erfasst wird. Gibt es der konkreten Verkehrsmittelwahl vorgelagerte mobilitätsbezogene Entscheidungen, mit denen eine Einzelperson das Erdklima beeinflussen kann? 16 Als eine von vielen Gegenpositionen vgl. Barnett (2018), mit ähnlicher Argumentation Birnbacher (2016), S. 142. 17 Das neu bereitzustellende öffentliche Gut entspricht in unserem Fall der gesamtgesellschaftlich hinreichenden Reduktion von THG-Emissionen. 18 Vgl. Blankart (2011), S. 60 ff. 19 Wenn Homann (2018), S. 67 und auch Suchanek (2007), S. 59, die Problematik des öffentlichen Gutes als Anwendungsfall der GD-Situation subsumieren, scheinen sie diesem Unterschied weniger Bedeutung zuzumessen, stattdessen verweisen sie auf die Gemeinsamkeit der fehlgeleiteten Anreizstruktur, die optimale Lösungen sowohl in der GD-Struktur als auch in der Problematik des öffentlichen Guts verhindert. 20 Bleibt ein solches Arrangement aus, bleibt beim Einzelnen das schale Gefühl, er selbst trage Opfer, alle anderen jedoch nicht, vgl. Roser/ Seidel (2015), S. 142, Bayertz (2014), S. 22. Oder in den Worten von Hösle besteht das Gefühl der Zwecklosigkeit individueller Aktionen, „wenn es nicht gelingt, dafür zu sorgen, dass der Gute nicht mehr der Dumme ist“, vgl. Hösle (1994), S. 122. 3. Ist Individualmoral grundsätzlich Klima-irrelevant? Um es vorweg zu nehmen - aus Sicht des Verfassers kommt dem Einzelnen durchaus die Möglichkeit zu, mit seinem Mobilitätsverhalten einen wirksamen Einfluss auf das Weltklima zu nehmen. Und hierzu muss nicht der entscheidungsmächtige Mensch bemüht werden, der an den Stellhebeln der Macht sitzt, oder derjenige, der zum zivilen Ungehorsam greift, um etwa mit seinem Fahrzeug oder gleich seinem eigenen Körper Verkehrsblockaden auszuüben. 1. Der erste Schritt ist in der Literatur durchaus anerkannt, hat aber letztlich nur einen indirekten Bezug zur individuellen Mobilität: Er besteht darin, jeden Einfluss zu nutzen, den ich auf Meinungsbildung und Politik nehmen kann, damit diese wirksame Maßnahmen zum Klimaschutz ergreift. 21 In diesem Sinne argumentiert auch Birnbacher, dass der Einzelne, wenn schon nicht das Klima, dann vielleicht doch das Meinungsklima beeinflussen kann. 22 Des Weiteren geeignet erscheinen auch symbolisch wirkende Aktionsformen wie Proteste, 23 Fahrradaktionen, Einsatz für den Ausbau von Radwegen usw., um zu verdeutlichen, dass ich mich als Einzelner nicht zum Komplizen einer wirkungslosen Klimapolitik mache. 2. Hier soll es jedoch um einen anderen Aspekt gehen: Dazu muss ich mir als Individuum zunächst vergegenwärtigen, dass mein gesamter Lebensstil durchaus erhebliche negative Auswirkungen auf nachfolgend lebende Menschen hat. Um es drastisch zu formulieren: Der Lebensstil eines durchschnittlichen US-Amerikaners kostet in der Zukunft etwa zwei Menschenleben. 24 Selbst wenn ich in meiner Argumentation so weit nicht gehen mag, kann ich doch mit Birnbacher zur Annahme zu kommen, dass die Folgen des Klimawandels künftige Personen in ihren Menschenrechten erheblich verletzen. 25 Dies wäre schon Anlass genug, meinen Lebensstil zu überdenken. Nun emittiert der „Durchschnittsdeutsche“ nur etwa 60 % der THG eines Amerikaners, 26 und der Anteil der mobilitätsbedingten Emissionen daraus beträgt im Schnitt etwa ein Fünftel - gleichwohl: Mein individuelles Mobilitätsverhalten hat in Summe ein beträchtliches Potenzial, nachfolgend lebende Menschen gravierend zu schädigen, also in einem Ausmaß, das weder als moralisch irrelevant noch als moralisch unverbindlich klassifiziert werden kann. Was folgt daraus für die Individualmoral? Verantwortung besteht nach Feldhaus in der Einheit von (vollkommener) Pflicht und Klugheit. 27 Wie kann ich als Mobilitätsteilnehmender von heute also dieser Verantwortung gerecht werden? 1. Im Ergebnis dieser Analyse lässt sich aus den gravierenden Folgen meines heutigen Tuns für zukünftige Menschen eine vollkommene Pflicht zur Prüfung und Justierung meines eigenen Lebens- und damit auch meines Mobilitätsstils herleiten, um daraus - potentiell signifikant - resultierende Schädigungen 21 So auch Sinnott-Armstrong (2005), S. 304. Auch dieser Aspekt wird in seinem Aufsatz mit Kingston aus dem Jahr 2018 übrigens nicht mehr erwähnt. 22 Vgl. Birnbacher (2016), S. 147. 23 Dito, S. 146. 24 Vgl. Nolt (2011), S. 9. 25 Birnbacher (2016), S. 96. In diesem Sinne auch das Bundesverfassungsgericht (2021), Rn. 147; hinsichtlich der Gefährdung von Leben und Gesundheit auch Rn. 148. 26 Kingston/ Sinnott-Armstrong (2018) gehen soweit zu sagen, dass schon der Ansatz „des durchschnittlichen Amerikaners“ moralisch nicht trägt, weil es ihn nicht gibt, vgl. dort S. 173 f. Nun macht es wenig Mühe, sich im Internet mithilfe eines Emissionsrechners selbst ein Bild vom eigenen Emissionsbeitrag zu machen. Mehr noch - angesichts dieser Schadensdimensionen kann es auch als moralische Pflicht angesehen werden, sich angemessen zu informieren. Andernfalls wäre ein ganz erhebliches „moralisches Schlupfloch“ eröffnet, vgl. Zoller (2015), S. 997, aber auch bereits Jonas (2020), S. 64. 27 Vgl. Feldhaus (1998), S. 281. Internationales Verkehrswesen (74) 4 | 2022 77 Standpunkt FORUM nachfolgend lebender Menschen möglichst zu minimieren. 28 Diese moralische Entscheidung kann mir niemand abnehmen. Sie ist nicht nur ausschließlich Last, sondern auch ein wichtiger Baustein eines guten, gelingenden Lebens in eigener freier Entscheidung: 29 Autonomie und Rationalität sind vereinbar, „wenn die Präferenzen vom Entscheider selbst geformt werden“ 30 können. 2. In der praktischen „klugen“ Umsetzung meines angestrebten Lebensstils kann ich darüber hinaus mein Anreizsystem autonom justieren, indem ich zum Zweck der Selbstbindung 31 geeignete „investive Pflöcke“ einschlage: Verzichte ich auf den Kauf eines SUV oder eines PKW generell, wird mir das eingangs skizzierte Dilemma eines mobilen Menschen in der geschilderten Reinform schon nicht mehr begegnen. Ich kann stattdessen ein gutes, leichtgängiges Fahrrad kaufen, eine Bahncard 100 oder eine ÖPNV-Jahreskarte. Dass die Verfügbarkeit eines Verkehrsmittels die Häufigkeit seiner Nutzung durch Ständigkeit ersetzt, 32 ist ein der Verkehrswissenschaft seit Langem bekanntes Phänomen. 3. Im Sinne der Klugheit setze ich nun die mir zur Verfügung stehenden Verkehrsmittel so ein, dass sie meiner Mobilitätsstilentscheidung im Sinne meiner Kosten-Nutzen-Betrachtung optimal entsprechen. Ich könnte noch einen Teilschritt weiter gehen und nach dem Gebot der Übelminimierung handeln: 33 Dann wäre die Bedienung meines Mobilitätsbedürfnisses nur gerechtfertigt, wenn ich die negativen Nebenwirkungen auf das geringstmögliche Maß bringe: Gibt es zum Beispiel eine angenehme und finanziell vertretbare ÖPNV-Alternative, ein gleich attraktives, weniger weit entferntes Ziel, kann ich meine CO 2 - Emissionen großzügig kompensieren? 34 Je weiter sich meine geplante Mobilitätsaktivität über die Bagatellgrenze eines „minimalen Beitrags“ erhebt, etwa in Gestalt eines Interkontinentalflugs, desto dringlicher greift das Gebot zur Übelabwägung und ggf. -minimierung. 4. Eine Mitverantwortlichkeit für das Gelingen des staatlichen Handelns macht meine Eigenschaft als Staatsbürger aus. 35 Bei Wahlen mit der Stimmabgabe ein Ja zum staatlichen Klimaschutz zu signalisieren und auf Veränderungen zu drängen, damit das Tempo des Klimawandels gebremst wird, 36 ist das eine. Angemessene, rechtsordnungskonforme Maßnahmen 37 der Regierung gegen den Klimawandel aktiv mitzutragen, auch wenn diese für mich im Einzelnen durchaus belastend sein können, ist 28 In diesem Sinne sieht Singer (2013), S. 447 in der Umweltethik einen Anlass, Verschwendung grundsätzlich zu überdenken, was auf einen erheblichen Verzicht auf üblich erscheinende Konsumgewohnheiten hinausläuft. 29 Vgl. auch Höffes Ausführungen zur Tugend der Besonnenheit, in der sich personale, kollektive und globale Dimensionen überlagern, vgl. ders. (2018), S. 86 f. Bayertz geht darüber hinaus und erkennt sowohl in der antiken Glücksethik als auch bei Cicero die Pflicht, tugendhafte Handlungsdispositionen einzunehmen, vgl. Bayertz, (2014), S. 91 f., 167 ff. 30 Weikard (1999), S. 52. 31 Vgl. Bayertz (2014), S. 170. 32 Vgl. Feldhaus (1998), S. 191. 33 Zum Verhältnis von Übelminimierung und Übelabwägung vgl. SRU (1994), S. 59 ff. 34 Am Ende muss mir bewusst sein, dass mein Verzicht auf gleiche minimale Weise dazu beitragen kann, dass aufgrund sozialer bzw. ökonomischer Rückkopplungseffekte an meiner Stelle ein anderes Individuum die Emissionen für sich in Anspruch nehmen kann, vgl. Roser/ Seidel (2015), S. 137. Meine einzige Möglichkeit, mich wirksam dagegen zu wehren ist so einfach wie ökonomisch radikal: Ich verzichte nicht nur auf meine Autofahrt, sondern nehme zugleich eine finanzielle CO 2 -Kompensation äquivalent zur vermiedenen Fahrt vor. Das Gebot der Klugheit erfordert diesen dritten Teilschritt nicht mehr, es steht mir gleichwohl frei, ihn zu tun. 35 Vgl. den Tugendansatz von Höffe (2018), S. 92 f. oder die ordnungsökonomische Herleitung bei von Broock (2012), insb. Kap. 4, 5, oder mit der kritischen Distanz der Ethik aus protestantischer Sicht auch Trillhaas (1970), S. 429. 36 Vgl. Roser/ Seidel (2015), S. 143; Singer (2013), S. 417. 37 Vgl. die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts (2021), Rn. 192 ff. aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Henning Tegner, Dr. Geschäftsführer, KCW GmbH, Berlin tegner@kcw-online.de das andere. Am Ende kennt niemand besser als ich die Mittel und Wege, mit denen ich mich - bei aller gegebenen Unsicherheit - möglichst effektiv für den Klimaschutz einsetzen kann - sei es privat, professionell oder politisch aktiv. Die eigenen Kräfte und Möglichkeiten dabei nicht zu überschätzen, die eigenen Stärken dagegen wirksam zur Entfaltung zu bringen, 38 entspricht dem Gebot der verantwortungsvollen Klugheit. ■ Der Autor dankt Lara Eiser für den kritischen Austausch und zahlreiche Vorarbeiten. LITERATUR Barnett, Z. (2018): No free Lunch: The Significance of Tiny Contributions, in: Analysis 18 (1), S. 3-13 Bayertz, K. (2014): Warum überhaupt moralisch sein? 2. Aufl., München Blankart, C.B. (2011): Öffentliche Finanzen in der Demokratie, 8. Aufl., München Birnbacher, D. (2016): Klimaethik. Nach uns die Sintflut? , Stuttgart Bundesverfassungsgericht (2021): Beschluss des Ersten Senats vom 24. März 2021, - 1 BvR 2656/ 18 -, Rn. 1-270 Feldhaus, S. (1998): Verantwortbare Wege in eine mobile Zukunft. Grundzüge einer Ethik des Verkehrs, Hamburg Hösle, V. (1994): Philosophie der ökologischen Krise. Moskauer Vorträge, 2. Aufl., München Homann, K. (2014): Sollen und Können. Grenzen und Bedingungen der Individualmoral, Wien Jonas, H. (2020): Das Prinzip Verantwortung, 8. Aufl., Frankfurt/ Main Kingston, E., Sinnott-Armstrong, W. (2018): What´s Wrong with Joyguzzling, in: Ethical Theory and Moral Practise 21, S. 169-186 Meyer, K. (2018): Was schulden wir künftigen Generationen. Herausforderung Zukunftsethik, Stuttgart Mieth, C.; Rosenthal, J. (2021): Spielarten des Moralismus, in: Neuhäuser, C.; Seidel, C. (Hrsg.): Kritik des Moralismus, 2. Aufl., Berlin 2021, S. 35-60 Nolt, J. (2011): How Harmful Are the Average American´s Greenhouse Gas Emissions? , in: Ethics, Policy and Environment 14, H.1, S. 3-10 Pies, I. (2022): 30 Jahre Wirtschafts- und Unternehmensethik: Ordonomik im Dialog, Berlin Psychologists for Future (2022): Postkarten „Psychische Mechanismen“, www.psychologistsforfuture.org/ wpcontent/ uploads/ 2021/ 08/ Psy4F_Postkarten-psychMechanismen.pdf, Abruf 09.09.2022 Roser, D.; Seidel, C. (2015): Ethik des Klimawandels, 2. Aufl., Darmstadt Seneca, L.A. (1971): Über die Seelenruhe, in: Ders. Philosophische Schriften, Band 2, Darmstadt, S. 101-173 Singer, P. (2013): Praktische Ethik, 3. Aufl., Stuttgart Sinnott-Armstrong, W. (2005): It´s not my Fault, in: Sinnott-Armstrong, W.; Howarth, R. (Hrsg.): Perspectives on Climate Change: Sciene, Economics, Politics, Ethics, Milford, S. 285-307 SRU - Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (1994): Umweltgutachten 1994. Für eine dauerhaft-umweltgerechte Entwicklung, BT-Drs. 12/ 6995 vom 08.03.1994 Suchanek, A. (2007): Ökonomische Ethik, 2. Aufl., Tübingen Trillhaas, W. (1970): Ethik, 3. Aufl., Berlin von Broock, M. (2018): Spielzüge - Spielregeln - Spielverständnis. Eine Investitionsheuristik für die Soziale Ordnung, Marburg Weikard, H.-P. (1999): Wahlfreiheit für zukünftige Generationen. Neue Grundlagen für eine Ressourcenökonomik, Marburg Zoller, D. (2015): Moral Responsibility for Distant Collective Harms, in: Ethical Theory and Moral Practise 18, S.-995-1010 38 So auch der Rat von Seneca (1971), S. 131, oder auch der „Psychologists for Future“ (2022), Folie 12.
