Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2023-0004
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2023
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The Gender Mobility Data Gap
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2023
Viviane Weinmann
Die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung widmen der Gleichstellung der Geschlechter und ihrer Bedeutung für eine verbesserte Teilhabe, Sicherheit und Chancen für Frauen und Mädchen eine besondere
Aufmerksamkeit. Im Verkehrssektor ist die Verwirklichung der Geschlechtergerechtigkeit eine Frage der Zugänglichkeit und Sicherheit für Frauen und Mädchen bei der Nutzung von Mobilitätsangeboten. Eine
Herausforderung im Vorantreiben der Geschlechtergerechtigkeit besteht darin, die geschlechtsspezifischen Datenlücken zu schließen. In vielen Fällen sind die Daten und Informationen zu allen Aspekten des täglichen Lebens, einschließlich Mobilität, nicht nach dem Geschlecht aufgeschlüsselt oder basieren, wie Caroline Criado-Perez schreibt, auf einer „standardmäßigen männlichen“ Erfahrung.
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POLITIK Mobilitätsdaten Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 12 The Gender Mobility Data-Gap Ein Exkurs zur geschlechterspezifischen Datenlücke im-Verkehrssektor Gender Data Gap, Geschlechtergerechtigkeit, Mobilitätsdaten Die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung widmen der Gleichstellung der Geschlechter und ihrer Bedeutung für eine verbesserte Teilhabe, Sicherheit und Chancen für Frauen und Mädchen eine besondere Aufmerksamkeit. Im Verkehrssektor ist die Verwirklichung der Geschlechtergerechtigkeit eine Frage der Zugänglichkeit und Sicherheit für Frauen und Mädchen bei der Nutzung von Mobilitätsangeboten. Eine Herausforderung im Vorantreiben der Geschlechtergerechtigkeit besteht darin, die geschlechtsspezifischen Datenlücken zu schließen. In vielen Fällen sind die Daten und Informationen zu allen Aspekten des täglichen Lebens, einschließlich Mobilität, nicht nach dem Geschlecht aufgeschlüsselt oder basieren, wie Caroline Criado-Perez schreibt, auf einer „standardmäßigen männlichen“ Erfahrung. Viviane Weinmann M änner und Frauen haben häufig unterschiedliche Mobilitätsbedürfnisse, die sich aus verschiedenen sozioökonomischen, kulturellen und persönlichen Faktoren ergeben. Einige Beispiele für solche Unterschiede sind: •• Frauen nutzen häufiger öffentliche Verkehrsmittel als Männer, da sie häufiger für die Betreuung oder Pflege von Kindern oder anderen Familienmitgliedern verantwortlich sind und deshalb einen vielseitigeren Tagesablauf haben. •• Frauen sind häufiger von sexueller Belästigung und Gewalt im öffentlichen Raum betroffen, was ihre Wahl von Verkehrsmitteln und Wegen beeinflussen kann. •• Frauen haben häufiger geringere Einkommen als Männer, was den Besitz eines PKW oder die Nutzung eines Fahrservices zu einer größeren Herausforderung macht. Was ist die geschlechtsspezifische Datenlücke? Die geschlechterspezifische Datenlücke im Verkehrssektor bezieht sich auf die Tatsache, dass Daten über Verkehrsnutzung und -bedürfnisse häufig quantitativ gesammelt und analysiert werden. Planungs- und Entscheidungskriterien orientieren sich beispielsweise primär an der Gesamtanzahl von Menschen, die sich von A nach B bewegen. Diese Daten werden i.d.R nicht nach dem Geschlecht oder demographischen Faktoren aufgeschlüsselt. Darüber hinaus berücksichtigen quantitative Datenerhebungen oftmals nicht, dass individuelle Mobilitätsentscheidungen durch persönliche Erfahrungen und Erwartungen in Bezug auf bestimmte Verkehrsträger sowie durch individuelle Fähigkeiten und Ressourcen (z. B. Alter, Einkommen, körperliche Fähigkeiten) massiv beeinflusst werden. Erst qualitative Erhebungsmethoden wie Nutzer*Innen-Befragungen oder Fokus- Gruppen können erweiterte Einblicke in diese Mobilitätsentscheidungen geben. Warum sollten wir die geschlechtsspezifische Datenlücke schließen? Eine geschlechterspezifische Datenlücke im Verkehrssektor kann dazu führen, dass die Verkehrsinfrastruktur und -dienstleistungen für eine Geschlechtergruppe unzureichend oder ineffizient sind, was zu sozialer Ungerechtigkeit und einer unzureichenden Nutzung der Verkehrsinfrastruktur führen kann. Hierzu einige Denkanstöße: Trip Chaining - Fahrten zur Erbringung unbezahlter Betreuungsleistungen wie Kindertransporte und Besorgungen („Mobility of Care“) werden oft durch eine Kombination mehrerer Verkehrsträger zurückgelegt, auch bekannt als Fahrtenverkettung („Trip Chaining“). In vielen Städten weltweit wird diese Verkettung durch fehlende Tarifverbünde und unabgestimmte Fahrpläne erschwert. Mobility of Care - Frauen bewegen sich oft in Begleitung kleiner Kinder; dem liegt ein komplexerer Entscheidungsprozess, was Verkehrsträger oder die Routenwahl angeht, zugrunde. Wie geeignet ist der Weg für einen Kinderwagen? Wie kann ich das Autonomiebedürfnis meines Kindes und unzureichende Verkehrssicherheit in Einklang bringen? Individuelle Sicherheit - Eine im Jahr 2021 durchgeführte IPSOS-Studie ergab, dass 80% der Frauen weltweit in irgendeiner Form Belästigung im öffentlichen Raum erlebt haben. Die Angst vor Belästigung wirkt sich direkt auf die Mobilitätsentscheidungen von Frauen und Mädchen aus und bleibt, wenn sie nicht gemeldet wird, von den Verkehrsbehörden unberücksichtigt. Aber inwiefern geben quantitative Datenerhebungen beispielsweise sinnvoll Auskunft über dysfunktionale oder fehlende Beschwerdemechanismen? Datenforschungsstudie in drei afrikanischen Städten Im vergangenen Jahr initiierte die Initiative „Women Mobilize Women“ (WMW) im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) eine Datenforschungsstudie, um die geschlechtsspezifische Datenerfassung in Mobilitätsdaten POLITIK Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 13 drei afrikanischen Städten (Nairobi, Lagos und Gauteng) methodisch zu pilotieren und Qualität und Verfügbarkeit der nach dem Geschlecht aufgeschlüsselten Datenlage zu verbessern. In vielen afrikanischen Ländern haben Frauen geringere Bildungs- und Beschäftigungschancen als Männer. Sie sind häufiger von Armut und sozialer Ungerechtigkeit betroffen, was ihre Mobilitätsoptionen erheblich einschränkt (auch besser bekannt unter „Transport Poverty“). Frauen in Afrika nutzen deshalb häufiger öffentliche Verkehrsmittel oder gehen zu Fuß. In vielen afrikanischen Ländern sind Frauen häufiger von sexueller Belästigung und Gewalt im öffentlichen Raum betroffen. Durchgeführt wurde die Studie über den WMW Implementierungspartner WhereIs- MyTransport. Dabei wurden insgesamt vier aufeinander aufbauende quantitative und qualitative Methoden zur geschlechtersensiblen Datenerhebung getestet: 1. Desktop-Recherche und 23 Vorab-Interviews: Die Forscher*Innen sammelten Literatur und Studien aus lokalen und internationalen Quellen zur Überprüfung. Diese Einblicke ermöglichten es ihnen, bestehende Bedingungen, frühere Datenerfassungsansätze und Ergebnisse besser zu verstehen und aufzudecken, wo Datenlücken in den derzeit verfügbaren Datensätzen bestehen. Die gewonnen Erkenntnisse flossen in die Ausgestaltung der Fragebögen für die Haupterhebung ein. 2. Umfragen: 335 In-persona- und Online- Umfragen wurden durchgeführt. Die Schwerpunkte lagen auf: Geschlecht, Alter, körperliche Einschränkungen, Arbeit und Einkommen, Haushalt und Erfahrungen mit öffentlichen Verkehrsmitteln, Wahl der Verkehrsmittel, Kosten, Schmerzpunkte und Erfahrungen mit (sexueller) Belästigung. 3. Feldforschung: Sechs „Ride Alongs“ und Hausbesuche wurden durchgeführt, bei denen Forscher*Innen die Frauen auf ihren täglichen Wegen - Tür zu Tür - begleiteten und die Hindernisse notierten, denen sie bei der Nutzung von Verkehrsmitteln begegneten (siehe Bild 1). Während der gesamten Reise wurden Frauen interviewt, um einen detaillierten Einblick in ihre Entscheidungen zu erhalten. So konnten auch Aspekte, die den Teilnehmer*Innen selbst möglicherweise nicht bewusst waren, wie z. B. die Reaktion auf Belästigungen aufgegriffen werden. 4. Forschungslabor: Interaktive Gruppensitzungen mit etwa acht bis 15- Teilnehmer*Innen, bei denen alle gebeten wurden, ihre Transporterfahrungen zu diskutieren. Diese wurden von lokalen Forscher*Innen in lokaler Sprache durchgeführt. Zusammen erörterten sie Mobilitäts- und Entscheidungsmuster, die Frauen und Mädchen bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel begegneten. Die Studie bietet einen methodischen Ansatz dazu, wie Daten geschlechterspezifisch gesammelt werden können, um einen Raum für geschichten- und erfahrungsbasierte Daten zu schaffen. Das heißt: Wer nimmt teil (Befragte und fragende Personen), welche Arten von Daten werden gesammelt und wie werden diese Daten analysiert? Das übergeordnete Ergebnis der Studie ist, dass Frauen keine homogene Gruppe sind. Ihre Bedürfnisse und Schmerzpunkte sind je nach Alter, Beruf, Haushaltsstruktur und Einkommensniveau sehr unterschiedlich: •• Die Höhe des Einkommens beeinflusst die Verkehrsmittelwahl. Wohlhabendere Frauen nutzen mit größerer Wahrscheinlichkeit Fahrdienste, während Frauen mit geringerem Einkommen informelle öffentliche Verkehrsmittel nutzen, da sie in den hohen Kosten alternativer öffentlicher Verkehrsmittel „gefangen“ sind. •• Das Alter wirkt sich auf die Art der erlebten Vorfälle aus. Jüngere Frauen sprechen eher über Erfahrungen mit verbaler und sexueller Belästigung. •• Erschwinglichkeit und standardisierte Tarife haben für Frauen einen hohen Stellenwert. Während die Sicherheit für die meisten Teilnehmer ein vorrangiges Anliegen ist, können Bedenken hinsichtlich der Erschwinglichkeit oder nicht standardmäßiger/ regulierter Tarife manchmal Vorrang haben. Die detaillierten Ergebnisse und Einblicke in die diversen Mobilitätsbedürfnisse werden in der Studie umfänglich aufbereitet. Zusammenfassung Die geschlechtsspezifische Datenlücke im Verkehrswesen zu schließen, bedeutet zum einen, ihre Existenz anzuerkennen, und zum anderen, qualitative Dimensionen bei der Datenerhebung und -analyse aktiv einzubeziehen. Ziel ist es eine pluralistischere Verkehrsplanung zu etablieren und die Beschränkung auf quantitativem und geschlechtsneutralem Parameter, die sich in diversen planerischen Richtlinien oder Regelwerken wiederfinden, aufzuweichen. Die Schließung der geschlechtsspezifischen Datenlücke ist eine Grundvoraussetzung für eine inklusivere Planung und Gestaltung von Verkehrsinfrastruktur und -dienstleistungen. Es gilt sicherzustellen, dass Mobilität für alle Menschen zugänglich und sicher gestaltet ist. ■ QUELLEN UND LINKS Caroline Criado-Perez (2000): Unsichtbare Frauen: Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert. btb Verlag, München. Chantal Lailvaux, Louise Ribet, Tam Lunt (2022): Decoding women’s transport experiences: A study of Nairobi, Lagos and Gauteng. WhereIsMyTransport. Studien-Report: https: / / womenmobilize.org/ wp-content/ uploads/ 2022/ 09/ WIMT_Gender-Data-Report_2022.pdf Projektwebseite mit allen Fragebögen, Datensätzen jeder Stadt und Bewegungsprofilen: https: / / genderdata.womenmobilize.org/ Poster „6 Principles to Bridge the Gender Data Gap in Mobility“ mit Leitlinien, wie eine geschlechterspezifische Datenerhebung ermöglicht wird: https: / / genderdata.womenmobilize.org/ wp-content/ uploads/ 2022/ 11/ 221124_WMW_Gender_Data_Poster_Final.pdf Viviane Weinmann Verkehrsplanerin, Sektorvorhaben Nachhaltige Mobilität, Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH, Eschborn viviane.weinmann@giz.de Bild 1 : Ride-Along- Interview in einem Danfo mit einer Mutter aus Lagos, Nigeria Quelle: Where Is My Transport, 2022