eJournals Internationales Verkehrswesen 75/1

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2023-0005
21
2023
751

Kritische Prozesse mit KI optimieren

21
2023
Cornelius Toussaint
Robert Kaletsch
Digitalisierung, der demographische und klimatische Wandel sowie ihre Auswirkungen auf Gesellschaften und Natur gehören zu den weltumspannenden Themen der zurückliegenden Jahre. Die Corona-Pandemie, diverse Naturkatastrophen und der Überfall auf die Ukraine rücken Security und Safety hinsichtlich der Bewegungsfreiheit, der Lieferketten und nicht zuletzt der Kritischen Infrastrukturen mehr und mehr in den Vordergrund. Beispielhaft für den Bereich der Kritischen Infrastrukturen steht der internationale Luftverkehr, der gleichzeitig durch die Faktoren Klimawandel, Demographie, Lieferketten und Digitalisierung unmittelbar beeinflusst ist.
iv7510015
Sicherheits-Strategie POLITIK Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 15 Kritische Prozesse mit KI-optimieren Künstliche Intelligenz verbessert die Passagier-Prognose im-Luftverkehr Gepäckabfertigung, Sicherheitskontrollen, Personalstand, Kontrollstellen-Planung Digitalisierung, der demographische und klimatische Wandel sowie ihre Auswirkungen auf Gesellschaften und Natur gehören zu den weltumspannenden Themen der zurückliegenden Jahre. Die Corona-Pandemie, diverse Naturkatastrophen und der Überfall auf die Ukraine rücken Security und Safety hinsichtlich der Bewegungsfreiheit, der Lieferketten und nicht zuletzt der Kritischen Infrastrukturen mehr und mehr in den Vordergrund. Beispielhaft für den Bereich der Kritischen Infrastrukturen steht der internationale Luftverkehr, der gleichzeitig durch die Faktoren Klimawandel, Demographie, Lieferketten und Digitalisierung unmittelbar beeinflusst ist. Cornelius Toussaint, Robert Kaletsch S ommer 2022, Reisezeit. Millionen emotional aufgeladener Passagiere trafen auf eine weltweit verbundene Infrastruktur mit hohen Interdependenzen. Personalbedingte Störungen der Prozesse am Flughafen haben an vielen Flughäfen zu erhöhten Wartezeiten beim Check-In, den Sicherheitskontrollen aber auch der Gepäckabfertigung geführt. Verspätete und verpasste Flüge trafen auf die Erwartungshaltung, „endlich mal wieder spontan und befreit in die schönsten Wochen des Jahres fliegen“ zu können. Nach zwei Jahren Pandemie war das „Bottleneck“ für nahezu alle personalintensiven Dienstleistungen im Luftverkehr die zeitgerechte qualitative und quantitative Beantwortung der Personalfragen. Teilweise mussten die Unternehmen in wenigen Wochen von Kurzarbeit in den Vollbetrieb durchstarten. Beschränkte Betriebszeiten der Flughäfen sowie die internationale Verzahnung des Flugbetriebs und der Reisebranche führen regelmäßig zu extremen Schwankungen der Auslastung an einem Flughafen, sowohl auf die Saison, die Wochentage als auch auf die Uhrzeit bezogen. So ist der Businessflieger am Freitagnachmittag von Düsseldorf nach München ganz anders am Ende einer Messewoche belegt als der gleiche Flieger in einer „normalen“ Woche. Und natürlich sind die Flieger in die Sonnenziele zum Start der Ferien oder über die langen Wochenenden mit möglichst großen Maschinen und Maximalauslastung unterwegs. Beeinflusst wird der Flow am Flughafen natürlich auch durch die Passagiere selbst, etwa durch den Umfang des mitgeführten und zu kontrollierenden Reisegepäcks und der Ankunftszeit am Flughafen. Die Berücksichtigung und automatische Ausbeziehungsweise Bewertung verschiedener Informationen kann dazu führen, die Abläufe am Flughafen für Passagiere und Dienstleister durch eine möglichst optimale Anpassung der verfügbaren Kräfte an die notwendige Personalstärke und Qualifikation zu optimieren. Diese Grundidee legte die Condor Gruppe zugrunde, als sie mit dem Berliner Start-Up Kineo über den Einsatz von- Künstlicher Intelligenz (KI) zur Prognose tatsächlich zu erwartender Passagiere zur Planung der Flugtage, in Bezug auf die notwendige Anzahl und Zeiträume der zu öffnenden Kontrollstellen, ins Gespräch kam. Künstliche Intelligenz führt zu genauerer Passagier-Prognose Die Condor Gruppe ist bundesweit an mehreren Flughäfen Anbieter für Sicherheitsdienstleistungen gemäß Luftsicherheitsgesetz und bildet mit einer hauseigenen Akademie Luftsicherheitskontrollkräfte aus. Rund 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sorgen allein an den Flughäfen Dortmund, Braunschweig und Leipzig mit Passagier- und Handgepäcksowie Frachtkontrollen für mehr Sicherheit im Luftverkehr. Obwohl es Condor in der Phase der Pandemie gelungen ist, das vorhandene Personal zu halten und an einzelnen Standorten sogar um über 20 Prozent auszubauen, wissen die Verantwortlichen um die personellen Herausforderungen im Anschluss an die Corona-Krise. Generell gilt es, die knappe Ressource Personal möglichst optimal einzusetzen, damit zum Beispiel in den Peak- Zeiten so viel Personal wie möglich für die Check-in-Schalter, die Kontrollstellen oder auch das Gepäckmanagement zur Verfügung steht, der Flughafen also quasi mit dem Passagieraufkommen synchron „atmet“. Wachstumstrend Flugverkehr vs. Personalauswuchs - Dienstleister nach Corona Entgegen des Wachstumstrends, der laut Flughafenverband ADV im Oktober 2022 um circa 40 Prozent auf 17,73 Millionen Passagiere im Vergleich zum Vorjahresmonat stieg, haben vor allem die personalintensiven Dienstleistungen rund um den Flugverkehr Schwierigkeiten bei der Rekrutierung des notwendigen Personals. Dies geht auf eine Vielzahl von Gründen zurück. Unter anderem sind die behördlichen Zulassungsverfahren (Überprüfung der Zuverlässigkeit) für Mitarbeitende im Bereich der Luftsicherheitskontrollkräfte häufig langwierig und führen dazu, dass mindestens die Hälfte der Bewerber bis zum Start der Ausbildung entweder das Interesse verlieren (und einen anderen Job ergriffen haben) oder zulassungsrelevante Erkenntnisse vorliegen und so ein Einsatz behördlich untersagt wird. POLITIK Sicherheits-Strategie Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 16 Obwohl Luftsicherheitskontrollkraft kein Ausbildungsberuf ist, sind die Verdienstmöglichkeiten mit rund 20 Euro brutto pro Stunde zzgl. Zuschlägen auch für Quereinsteiger aus anderen Berufen interessant und liegen zum Beispiel oberhalb der Vergütung für einen Dachdeckergesellen in NRW. Die Attraktivität des Jobs wird jedoch durch die Arbeitszeiten getrübt, deren Schwerpunkte natürlicherweise in den Ferienzeiten und auch an den Wochenenden liegen. An den meisten Flughäfen sind die Kontrollstellen nur wenige Stunden am Morgen und am Nachmittag erforderlich und werden entsprechend durch die Auftraggeber vergütet. Dies begründet einen hohen Anteil von Teilzeitbeschäftigten bei den Kontrollkräften, aber auch sonstigen Tätigkeitsbereichen im Flughafenbereich. KI-Planungsunterstützung erhöht Personaldienstleistungsattraktivität Um für Mitarbeitende und Auftraggeber als Unternehmen attraktiv zu sein, ist eine möglichst frühzeitige und passgenaue Dienstplanung wichtig. Für die Planung des Personalbedarfs nach Menge und Zeit sind Daten seitens der Fluglinien, des Flughafenbetreibers sowie der behördlich zuständigen Stelle (Bundespolizei oder Bezirksregierung) erforderlich. Die Planung erfolgt dabei durch die Unternehmen im Groben (Urlaubsplanung) mit einem Vorlauf von bis zu 14 Monaten und im Detail (Tageseinsatzplanung) bis zu acht Wochen und damit zu einer Zeit, in der nur ein Teil der tatsächlichen Passagiere ihren Flug gebucht haben. Und genau hier greift die KI von Kineo als vorgelagertes System ein. Aus den unterschiedlichen Daten-Quellen und den Daten der Vergangenheit wird mit Hilfe von speziell auf den Bedarf am Flughafen entwickelten Algorithmen eine Vorhersage über das zu erwartende Passagieraufkommen am Tag X mit einer durchschnittlichen Abweichung von lediglich 15 Prozent erstellt. Zugleich wird das zur Verfügung stehende Stundenpotential bestmöglich - im Sinne der optimalen Verteilung von Kontrollstellen zu Passagieren - auf den Monat aufgeteilt. Im Gegensatz zu einem (behördlichen) Durchschnittswert als allgemeine Vorgabe besteht mit der Kineo-Lösung eine detaillierte Planungsgrundlage, deren Präzision mit fortschreitender Übernahme von Ist-Zahlen und weiteren Parametern - etwa Messe- und Veranstaltungsterminen - kontinuierlich zunimmt. Vereinfacht gesagt, nutzt die KI eine menschlich nicht zu verarbeitende Anzahl von Einflussparametern und Planungsalternativen, um die bestmögliche Lösung für die Planung zu finden. Ein Schach-Computer ist gegen die Potentiale der Kineo-KI eine relativ simple Rechenmaschine. Der Kineo-Trick Das Berliner Start-Up Kineo hat sich zum Ziel gesetzt, KI vor allem dem deutschen Mittelstand näherzubringen. In der Regel liegt der Fokus von Kineo auf der internen Prozessoptimierung. Das bedeutet: konkrete Anwendungsgebiete wie beispielsweise Forecasting, Logistikoptimierung, Predictive Maintenance oder Qualitätskontrollen. Im vorliegenden Fall schienen die Wertschöpfungspotenziale auch jenseits der internen Prozessoptimierung der Condor Gruppe zu liegen. Denn eine erfolgreich umgesetzte „KI-gestützte Passagier-Prognose“ wäre auch für viele andere Unternehmen unter anderem am Flughafen sinnstiftend und wertschöpfend. Zusätzlich tangierte die Idee den Nerv der Zeit. Die Gespräche fanden im Sommer 2022 statt, als sich die Schlagzeilen der Leitmedien mit überlasteten Flughäfen und stundenlange Wartezeiten an den Sicherheitskontrollen förmlich überschlugen. Beiden Parteien nutzten die Chance, gemeinsam ein Produkt zu entwickeln. Kineo implementierte erfolgreich eine Softwarelösung, die über eine KI-gestützte Passagier- Prognose hinaus auch noch die komplette monatliche Kontrollstellen-Planung übernimmt. Dabei evaluiert die KI zu jedem Zeitpunkt, welche Öffnungskonfiguration das vorhergesagte Passagier-Aufkommen effizient und somit im Sinne einer reisefreundlichen Abwicklung bedient. Berücksichtigt werden, neben der Vorhersage, zusätzliche Parameter, wie zum Beispiel das verfügbare Stundenkontingent oder gesetzliche Vorgaben und Konformitäten. Im Ergebnis steht ein fertiger Plan, der neben der tatsächlichen Planung auch dienstlich relevante Formulare ausfüllt und dem Nutzer eine Orientierung bereitstellt. Durch die Kombination aus Branchen- Wissen der Condor Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner und Machine Learning-Expertise seitens Kineo, konnte in weniger als einem Monat ein funktionierender und testbarer Prototyp entwickelt werden. Die Genauigkeit und Stabilität der Machine Learning-Lösung beziehungsweise des Forecasts begeisterte - und mittlerweile ist ein fertiges und einsetzbares Produkt entstanden, das viele Unternehmen gewinnbringend einsetzen können. Fazit und Ausblick Aus Sicht der Condor Gruppe hat sich die Zusammenarbeit als großer Erfolg erwiesen. Nach dem knapp fünfwöchigen Kineo- Lighthouse-Prozess zeigten sich erste Erfolge. Insbesondere für den Kontrollstellen- Planungsprozess ergeben sich erhebliche Zeitvorteile, da auf der Grundlage der KI- Daten die Anzahl und Zeiträume zu besetzender Kontrollstellen bei verfügbarem Stundenvolumen mit einer Zeitersparnis von 70 Prozent und drastisch verbesserter Berücksichtigung der über alle Flüge kumulierten Passagierströme ermittelt werden kann. Für die eigentliche Personalplanung verbleibt somit mehr Zeit und die Fehlplanungen von Ressourcen werden reduziert, so dass das Personal möglichst dann vorhanden ist, wenn es für die Kontrolle der Passagiere erforderlich ist. Schließlich bietet die Condor-Kineo-Lösung auch Potential, um gemeinsam mit den übrigen Stakeholdern an einem Flughafen auch Flugplananpassungen mit belastbaren Prognosen zu diskutieren, die eine Gesamtoptimierung für alle Beteiligten erlaubt. In Zukunft werden neben der Fortschreibung der Daten der Vergangenheit auch andere Parameter die KI-gestützte Planung optimieren, zum Beispiel Besonderheiten durch Heimspiele der rund um den Flughafen vorhandenen Sportvereine, Messen und so weiter. Selbstverständlich ist die Methodik auch für andere Flughäfen und Dienstleistungen rund um einen Flughafen einsetzbar - was nutzt es schließlich, wenn die Passagiere zwar gut durch die Kontrollstellen kommen, dann aber teils tagelang auf ihr Gepäck warten müssen. Kineo und Condor haben es sich zur gemeinsamen Aufgabe gemacht, Lösungen in personalintensiven Bereichen zu entwickeln, die den besseren Einsatz der zunehmend knappen Ressource Personal fördern. ■ Cornelius Toussaint, Dipl.-Ing., Dipl.-Kfm. Geschäftsführender Gesellschafter, CONDOR Gruppe, Essen service@condor-sicherheit.de Robert Kaletsch Geschäftsführender Gesellschafter, Kineo GmbH, Berlin info@kineo.ai