eJournals Internationales Verkehrswesen 75/1

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2023-0008
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2023
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Automatisierte Fahrzeuge in Europa sicher betreiben

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2023
Lennart Asbach
Michael Ortgiese
Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für automatisiertes Fahren im Straßenverkehr sind mit der AFGBV vorhanden. Einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb durch nennenswerte Transportleistungen und annehmbare Kosten für die Umsetzung des automatisierten Systems wird eine der wesentlichen Herausforderungen des automatisierten Fahrens in der Zukunft. Mit den vorgestellten Methoden und Forschungsanlagen lässt sich ein Weg zur Genehmigung einer Fahrzeug/Betriebsbereich-Kombination beschreiben. Validierte Simulationsumgebungen werden dabei einen Schlüsselbaustein darstellen.
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Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 22 Automatisierte Fahrzeuge in-Europa sicher betreiben Das Testfeld Niedersachsen als Baustein der Genehmigung Automatisiertes Fahren, AFGBV, Level 4, Simulationsbasiertes Testen, Verification Validation Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für automatisiertes Fahren im Straßenverkehr sind mit der AFGBV vorhanden. Einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb durch nennenswerte Transportleistungen und annehmbare Kosten für die Umsetzung des automatisierten Systems wird eine der wesentlichen Herausforderungen des automatisierten Fahrens in der Zukunft. Mit den vorgestellten Methoden und Forschungsanlagen lässt sich ein Weg zur Genehmigung einer Fahrzeug/ Betriebsbereich-Kombination beschreiben. Validierte Simulationsumgebungen werden dabei einen Schlüsselbaustein darstellen. Lennart Asbach, Michael Ortgiese S eit Ende der 1980er Jahre existieren automatisiert fahrende Straßenfahrzeuge in Deutschland. Das prominenteste Beispiel ist die S-Klasse (W140) der UniBwM, die im Rahmen des Forschungsprogramms „Prometheus“ bereits beachtliche Fahrfunktionen auf europäischen Straßen demonstriert hat. Gut 30 Jahre später findet nach wie vor kein echter Betrieb mit automatisierten Fahrzeugen in Europa statt. Es gibt diverse Demonstratoren, die unter großen Einschränkungen und - vor allem - mit hoher finanzieller Unterstützung einen automatisierten Betrieb auf der Straße darstellen und gewissermaßen umsetzen. Dadurch werden entweder nur minimale Transportleistung erbracht, meistens durch sehr geringe Geschwindigkeiten, oder ein Sicherheitsfahrer degradiert das System auf assistiertes Fahren (SAE Level- 2), indem er die Verantwortung für das Fahrzeug übernimmt. Als erstes Serienfahrzeug, das die Verantwortung für die Fahraufgabe unter bestimmten Randbedingungen übernimmt (SAE Level 3), ist seit 2022 der Urenkel des Forschungsfahrzeugs der UniBwM, nämlich die S-Klasse der Baureihe 223 erhältlich. Damit ist automatisiertes Fahren bei gutem Wetter in Stausituationen auf Autobahnen möglich. In einem Parkhaus des Stuttgarter Flughafens können besagte Modelle sogar automatisiert, ohne Sicherheitsfahrer, vom Parkhauseingang bis in die Parklücke und zurück fahren (Bild 1). Dieser Abschnitt entspricht damit SAE Level 4. Foto: Mercedes-Benz AG INFRASTRUKTUR Automatisiertes Fahren Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 23 Automatisiertes Fahren INFRASTRUKTUR Beide Beispiele zeigen, dass viele Randbedingungen erfüllt werden müssen, damit automatisierter „Betrieb“ möglich wird. Insbesondere die Parkhaussituation erinnert dabei stark an automatisiert fahrende Servicefahrzeuge im Eurotunnel 1 , die dort seit 1994 unterwegs sind, oder an andere SAE Level 4-Systeme auf Betriebsgeländen. Aktuelle regulatorische Rahmenbedingungen für den Betrieb Ursache für die vielen Randbedingungen ist die Einschätzung der betrieblichen Sicherheit. Ohne diese Randbedingungen können praktisch unendliche viele Situationen durch die Sensoren detektiert werden und die Interpretation der Sensorinformationen durch das automatisierte Fahrzeug nicht belastbar abgeschätzt werden. Selbst die, im Vergleich zu den Anfängen, schier unendliche Rechenleistung, die in den Fahrzeugen zur Verfügung steht, und die Weiterentwicklung aller Sensoren, lässt den Betrieb automatisierter Fahrzeuge mit offenem Kontext und ohne Einschränkung der Leichtigkeit des Verkehrs auch heute nicht zu. Auf diesen Zusammenhang hat 2022 auch die Gesetzgebung reagiert und mit der Betriebsverordnung zum Gesetz zum autonomen Fahren (AFGBV) die Kombination aus Fahrzeug und Betriebsbereich als zentralen Bestandteil des Genehmigungsprozesses gesetzt. Damit wird, nach der Homologation des eigentlichen Fahrzeugs, eine spezifische Kombination aus Fahrzeug und Betriebsbereich genehmigt. Die Genehmigung erfolgt dabei für das Einzelfahrzeug (vgl. Zulassung) kann aber auf Basis von baugleichen Typen erfolgen. Auch außerhalb Europas werden ähnliche Zusammenhänge offenbar. Zwar liegt sowohl in den Vereinigten Staaten wie auch in China eine andere Sicherheitskultur vor, allerdings ist der reale Betrieb automatisierter Fahrzeuge nach wie vor die Ausnahme. Zum Verfassungszeitpunkt dieses Artikels erscheint der Genehmigungsvorgang in Kalifornien als einfachstes Modell. Sogar chinesische Hersteller evaluieren ihre Fahrzeuge in Kalifornien, da die dortigen rechtlichen Randbedingungen einfacher erscheinen als auf dem heimischen Markt 2 . Bei genauerer Betrachtung finden sich allerdings nennenswerte Randbedingungen, die die Erprobungssituation erheblich besser vergleichbar mit den Randbedingungen in Europa machen. Erst Ende 2022 wurden zwei große „Robo-Taxi“-Flotten von der Pflicht befreit, einen Sicherheitsfahrer einzusetzen 3 .Damit sind dort vermutlich weltweit die ersten Level 4-Flotten unterwegs, die eine messbare Transportleistung erbringen. Aufgrund der schätzungsweise extrem hohen Entwicklungs- und Hardwarekosten für die Fahrzeuge ist allerdings nicht davon auszugehen, dass mit diesen Flotten aktuell eine positive Bilanz erwirtschaftet werden kann 4 . Mit der AFGBV wird ein solcher Betrieb auch in Deutschland möglich. Ähnliche Flotten befinden sich in Planung (bspw. Moia 5 ), sind aber noch nicht in Betrieb. Auf den ersten Blick erscheint dies als Vorsprung der USA (bzw. Kalifornien) gegenüber Europa. Betrachtet man die rechtliche Möglichkeit, einen derartigen Betrieb umzusetzen, liegen allerdings höchstens wenige Monate zwischen den notwendigen Rahmenbedingungen in den jeweiligen Ländern. Bei Betrachtung der Genehmigungsprozesse für automatisierte Fahrzeuge auf den beiden Kontinenten könnte sich der aktuelle Vorsprung der USA als marginal bzw. bei Betrachtung des Gesamtsystems sogar als Strohfeuer erweisen. In den USA (Kalifornien, Arizona) basiert der Genehmigungsprozess auf der Verantwortung des Herstellers. Für den Antrag auf den Betrieb einer Flotte mit automatisierten Fahrzeugen ist ein dreiseitiges Formular des „Department of Motor Vehicles“ auszufüllen 6 . Im Wesentlichen übernimmt das Unternehmen damit jegliche Verantwortung für den Betrieb des Fahrzeugs. Eine Prüfung durch eine unabhängige Behörde, eine Art National Safety Authority (wie bspw. das KBA in Deutschland) oder nachgelagerte Sicherheitsgutachter, findet nicht notwendigerweise statt. Natürlich kann ein Unternehmen Gutachten oder Prüfberichte beauftragen, die Verantwortung für den sicheren Betrieb verbleibt schlussendlich bei dem jeweiligen Unternehmen. Mit der AFGBV ist die Genehmigung des Betriebs einer automatisierten Flotte anders geregelt. Die Verordnung sieht vor, dass mindestens ein zusätzlicher Sicherheitsgutachter das System - in Verantwortung - bewertet. Dadurch wird eine Art Vier-Augen-Prinzip sichergestellt und eine unabhängige Stelle teilt sich die Verantwortung (in gewissen Grenzen) mit dem Betreiber bzw. Hersteller des Fahrzeugs. Dieses Prinzip macht den Genehmigungsprozess natürlich erheblich komplizierter im Vergleich mit dem Verfahren in den USA. Zumindest in der Phase der Inbetriebnahme sind die Hürden dort deutlich niedriger als mit der AFGBV in Deutschland. Entsteht allerdings ein Schaden, der durch das automatisierte Fahrzeug verursacht wurde, haftet das Unternehmen und die zuvor erbrachten Maßnahmen spielen nahezu keine Rolle mehr. Dieser Schaden, sei er Sachschaden oder Schaden durch Betriebsbehinderung anderer Transportunternehmen oder gar Personenschaden, wird entstehen 7 . Auch in Europa werden derartige Schäden entstehen, sobald die Anzahl automatisierter Fahrzeuge bzw. Flotten wächst. Das Vorgehen in Europa bietet dem Betreiber bzw. Hersteller dann mutmaßlich einen größeren Schutz gegenüber Schadensersatzanforderungen. Zwar werden zunächst Einzelfallentscheidungen notwendig sein, doch zumindest die zusätzlich notwendige Haftpflichtversicherung für Personen der technischen Aufsicht zeigt eine Verlagerung der Haftung. Im Rechtssystem der USA wird erst nach Auftreten eines Schadens die Ursache bzw. der Schuldige ergründet, mit der AFGBV gibt ein Gesetz zumindest den Bild 1: Automatisches Parksystem von Mercedes-Benz und Bosch am Flughafen Stuttgart Foto: Mercedes-Benz AG Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 24 INFRASTRUKTUR Automatisiertes Fahren Stand der Technik wider und regelt im Schadensfall die Grundlagen - gleichberechtigt und reproduzierbar. Während für Weltkonzerne der Einstieg in das Transportgeschäft mit automatisierten Straßenfahrzeugen in dem amerikanischen Modell gut abbildbar ist und schnell zu ersten Erfolgen führt, bietet das europäische Vorgehen zwar größere Einstiegshürden, dann aber besser kalkulierbare Risiken, die den Einstieg für kleinere und mittlere Unternehmen überhaupt erst ermöglichen und somit monolithische Unternehmensstrukturen weniger fördern. Umsetzung Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) erforscht mit seinem Testfeld Niedersachsen und dem Institut für Verkehrssystemtechnik aktuell Verfahren und Prozesse für die beschleunigte Anwendung und Umsetzung der AFGBV in Deutschland. Dabei wird die vorhandene Forschungsleistung des Instituts intensiv für die Umsetzung der betrieblichen Sicherheit aufgewendet - Cyber-Sicherheit wird durch andere Institute des DLR untersucht - stets unter Berücksichtigung des Gesamtsystems - und soll in diesem Artikel nur oberflächlich betrachtet werden. Cyber-Sicherheit ist die Kehrseite der Digitalisierungsmedaille. Je mehr Vernetzung bzw. digitale Information für den Betrieb eines Systems notwendig ist, desto größer werden die Auswirkungen von Cyber-Angriffen und desto größer wird damit deren Attraktivität für Hacker. Angenommen, die absolute Sicherheit vor Hackerangriffen existiert nicht, so muss das Ziel sein, die Hürde möglichst hoch und den zu erwartenden Effekt möglichst klein zu gestalten. Ganz abgesehen von Standards in der IT-Security spielen auch funktional-betriebliche Standards dabei eine große Rolle. Sie ermöglichen im Bereich der Verkehrstechnik eine möglichst heterogene Herstellerlandschaft. Nicht nur die Netze der Kommunen werden dadurch durch unterschiedliche Hersteller umgesetzt, auch innerhalb dieser Netze können unterschiedliche Hersteller zum Einsatz kommen und damit die Zugriffsmöglichkeiten für einen Eindringling deutlich einschränken. Sicherheitslücken, die in einem bestimmten Teilsystem existieren, lassen sich dadurch nicht ohne weiteres auf das Gesamtsystem ausdehnen. Damit bleibt zumindest die Auswirkung eines Angriffs begrenzt. Damit schlussendlich nicht „Security by obscurity“ gilt, müssen die funktionalen Standards folglich klar definiert und durch unabhängige Organisationen auf Konformität und Interoperabilität geprüft werden. Im Eisenbahnsektor prüft das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt beispielsweise Produkte der Standards European Train Control System (ETCS) und Digitales Stellwerk (DSTW) auf Konformität und Interoperabilität, um diese Obskurität in den Gesamtsystemen zu vermeiden. Auch im Bereich der betrieblichen Sicherheit muss die Kombination aus Fahrzeug und Verkehrsweg bzw. -infrastruktur als zusammengehöriges System betrachtet werden. Ein aktuelles Forschungsthema ist dabei die Perspektive vom Fahrzeug auf die Infrastruktur zu wechseln. Historisch bedingt finden Betrachtungen der betrieblichen Sicherheit im Straßenverkehr nur aus Sicht des Fahrzeugs statt. Der beim automatisierten Fahren entfallene Fahrer hatte die Infrastruktur stets im Blick und wusste - mehr oder weniger - mit degradierten Umgebungen umzugehen. Viele Ansätze zum Automatisierten Fahren, beispielsweise auch die zuvor genannten Ansätze in den Vereinigten Staaten, verfolgen ein ähnliches Vorgehensmodell. Das Fahrzeug bewegt sich eigenverantwortlich, ohne Unterstützung durch die Infrastruktur. Es erkennt auch eigenverantwortlich, wenn die Infrastruktur nicht mehr intakt oder anderweitig eingeschränkt ist, so dass das Fahrzeug nicht mehr fahren kann. Diese Funktionalität mit einer gewissen Sicherheit zu implementieren ist besonders aufwändig und erfordert einen extremen Ausrüstungsgrad am Fahrzeug. Auch wenn ein Großteil der Erkennung softwarebasiert ist, so werden durch die hohe Anzahl an „sicheren“ Sensoren die Kosten für das einzelne Fahrzeug erheblich nach oben getrieben. Dazu kommt Wartung, Instandhaltung und Fehlerbeseitigung in diesem Systemteil. Alles zusammen verzögert einen wirtschaftlichen „Break Even“ maßgeblich. Daher liegt der Gedanke nahe, einen Teil der für die betriebliche Sicherheit relevanten Sensoren in die Infrastruktur zu verlagern und den Fahrzeugen die benötigten Informationen zur Verfügung zu stellen. Insbesondere, wenn ein Fahrzeug nur in einer definierten Betriebsumgebung fahren soll, ist es naheliegend, in genau dieser Betriebsumgebung die entsprechenden Informationen bereitzustellen. Ziel der Forschungsarbeiten ist nun, nicht in das andere Extrem zu rutschen. Eine Vollausstattung der Infrastruktur und möglichst wenig Intelligenz im Fahrzeug erzeugen wiederum exponentiellen Aufwand für die Infrastruktur und treiben erneut die Kosten erheblich in die Höhe. Simulationsbasiertes Testen Im Mittelpunkt der Forschung stehen hochgenaue Simulationen, die für die Ermittlung des perfekten Verhältnisses aus Infrastruktur und Fahrzeug eingesetzt werden können. Je nach Fragestellung können dabei unterschiedliche Simulationen, bspw. auch für Funkwellenausbreitung oder makroskopisches Verkehrsverhalten eingesetzt werden. Am naheliegendsten ist die Verwendung einer 3D-Simulation, um besondere Herausforderungen für ein bestimmtes Fahrzeug mit einem bestimmten Sensorsetup in der Betriebsumgebung zu identifizieren. Dazu wird von der gewünschten Betriebsumgebung ein hochgenaues 3D-Modell erstellt. Dieses 3D-Modell kann teilweise aus vorhandenen Daten (bspw. BIM) oder durch neue Messungen erstellt werden. Es muss allerdings nur nach einer maßgeblichen Änderung in der Realität angepasst werden und kann auch durchaus für andere Fragestellungen weiterverwendet werden. Im nächsten Schritt wird das 3D- Modell in eine Grafik-Engine, also eine digitale Abbildung mit physikalischen Eigenschaften überführt (Bild 2). Die Simulation der physikalischen Eigenschaften ist dabei das ausschlaggebende Element. Zusammen mit einer dynamischen Simulation des Fahrzeugs, also der Simulation des Betriebs, kann mit diesem Modell bereits in erster Näherung ermittelt werden, welche baulichen Eigenschaften der Betriebsumgebung zu einer besonderen Herausforderung für die Wahrnehmung des Fahrzeugs werden. In Kombination mit einer Verkehrssimulation kann die gleiche Erkenntnis auch in Bezug auf Verkehrsszenarien, also die Bewegung bzw. dynamische Konstellation der umgebenden Fahrzeuge, also des in der Betriebsumgebung vorliegenden Verkehrs, erlangt werden. Ein klassisches Problem für automatisierte Fahrzeuge ist die Wahrnehmung des Gegenverkehrs, wenn ein gegenüberstehender Linksabbieger die Sicht versperrt. Eine solche Situation kann bereits vor Beginn des realen Betriebs in der Simulation ermittelt werden. Mögliche Lösungsansätze, wie bspw. ein infrastrukturseitiger Sensor, der den Linksabbieger für das automatisierte Fahrzeug auf digitale Weise durchsichtig erscheinen lässt, können dann in derselben Simulation evaluiert und optimiert werden. Zum Beispiel können unterschiedliche Sensortechnologien und Anbaupositionen simuliert und der Effekt untersucht werden. Die dafür verwendeten Simulationswerkzeuge haben oftmals einen Ursprung in der Computerspielindustrie. Ein wesentliches Ziel der Computerspiele ist eine möglichst realistische visuelle Darstellung von virtuellen Welten. Dadurch wird mittlerweile der exakte Wellenverlauf von Lichtstrahlen bzw. deren Reflexion be- Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 25 Automatisiertes Fahren INFRASTRUKTUR rechnet. Diese Detaillierung erlaubt auch die Simulation von verschiedenen Wetterverhältnissen auf der jeweiligen Betriebsumgebung und die Ermittlung der Grenzen des Fahrzeugs. Es können Reflexionen auf Regenpfützen oder Veränderungen durch feuchte Oberflächen simuliert werden. Natürlich ist ein derart umfangreiches Simulationssystem nicht nur für die Ermittlung von Herausforderungen im Kontext des automatisierten Fahrens nützlich. Durch das hochgenaue Abbild der Realität kann auch der vollständige Betrieb simuliert und überprüft werden. Es ist im Stand der Wissenschaft und Technik bereits lange bekannt, dass Simulationen für die Absicherung automatisierter Fahrzeuge bzw. Systeme eine große Rolle werden spielen müssen. Herkömmliche Testverfahren, bspw. Feldtests, sind nicht praktikabel, um die verschiedenen Herausforderungen mit vertretbarem Aufwand abzutesten. Beispielsweise haben die Projekte Verification-Validation-Methods (VVM) und SETLevel gezeigt, dass es auch durchaus möglich ist, verschiedene Szenarien in der Simulation zu reproduzieren. Die größte Forschungsfrage bleibt allerdings, ob die simulierten oder irgendwie getesteten Szenarien ausreichend die Realität abbilden. Betrachtet man zum Beispiel ein Überholmanöver auf einer Autobahn - das Szenario ist dabei relativ einfach: Das automatisierte Auto schert aus, überholt ein vorwegfahrendes Fahrzeug und schert wieder ein. Doch allein dieses Szenario lässt sich mit unterschiedlichen Parametern, wie bspw. Geschwindigkeit, Abstand, Wetter, Umgebung, etc, beliebig parametrieren, und es findet sich immer eine Konstellation von Parametern, die nicht getestet wurde, aber in der Realität auftaucht. Dieser Zusammenhang lässt sich zwar mit der Einschränkung einer Betriebsumgebung verbessern, allerdings nicht gänzlich vermeiden. Ein möglicher Ansatz ist hier die Untersuchung von Grenzfällen, also Szenarien, die jeweils die Grenzen ihrer Parameterräume abtesten und die dazwischenliegenden Werte damit als abgedeckt ansehen. Die Kombination aller zuvor genannten Maßnahmen kann einen belastbaren Sicherheitsnachweis für automatisierte Systeme im Straßenverkehr entstehen lassen. Zunächst wird eine Betriebsumgebung genau analysiert, strukturiert und digitalisiert. Dazu gehört auch eine Untersuchung der dynamischen Parameter der Betriebsumgebung, bspw. Verkehr und Wetter. Natürlich kann das Wetter nicht abschließend eingegrenzt werden, allerdings sind zumindest die normalerweise vorherrschenden Wetterverhältnisse gut bekannt. Werden diese verlassen, kann bzw. muss der automatisierte Betrieb unterbrochen werden. Dies gilt im Übrigen für alle angenommen Parameter. In der Simulation können dann besonders herausfordernde Konstellation der Betriebsumgebung ermittelt werden. Durch ein hochgenaues Verkehrsmodell können ebenfalls die Effekte einzelner anderer Fahrzeuge auf das automatisierte Fahrzeug ermittelt werden. Durch eine Analyse der Trajektorien in Kombination mit den jeweiligen Lichtraumprofilen (quer wie längs) können mögliche Verdeckungen oder Einschränkungen lückenlos ermittelt werden. Daraus entsteht eine Beschreibung der Betriebsumgebung inkl. aller benötigten Manöver, Wetterbedingungen und baulichen Randbedingungen, die die benötigten Fähigkeiten des Fahrzeugs genau beschreiben. Diese Fähigkeiten lassen sich dann strukturiert testen und nachweisen. Das System aus Fahrzeug und Infrastruktur kann in der jeweiligen Betriebsumgebung sicher betrieben werden. Validierung der Simulation Nach dem zuvor genannten, intensiven Einsatz von Simulationen für den Sicherheitsnachweis eines automatisierten Systems im Straßenverkehr bleibt noch die Frage nach der Richtigkeit der Simulationsergebnisse. Natürlich ist es möglich nahezu beliebige physikalische Vorgänge zu simulieren. Dabei werden in der Regel immer vereinfachende Annahmen getätigt, um die analoge, reale Welt digital abzubilden. In vielen Fällen haben die Vereinfachungen keinen (nennenswerten) Einfluss auf die Ergebnisse der Simulation und die Rückübertragung dieser in die Realität. Für einen Sicherheitsnachweis ist die Richtigkeit dieses Zusammenhangs allerdings explizit zu zeigen, die Simulationsmodelle müssen validiert werden. Für diesen Zweck betreibt das Institut für Verkehrssystemtechnik das Testfeld Niedersachsen - eine Forschungsanlage für die automatisierte und vernetzte Mobilität. Das Testfeld Niedersachsen bietet viele Möglichkeiten der Datenerfassung und Verarbeitung rund um den Straßenverkehr und dient als Forschungsplattform für viele Fragestellungen im Bereich der Digitalisierung der Mobilität. Ein Element des Testfelds ist die hochgenaue Verkehrserfassung (Bild 3). Sowohl innerstädtisch, als auch auf der Autobahn kann der Verkehr mit einer besonders hohen Präzision erfasst werden. Auf etwa 7 km Autobahn können alle Fahrzeuge, bei allen Licht- und Wetterverhältnissen, mit einer Genauigkeit von ca. 25 cm erfasst werden. Die aufgenommenen Daten können nahtlos in das begleitende Simulationssystem übertragen werden. Durch einen direkten Vergleich können beispielsweise Modelle der Sensorsysteme eines Fahrzeugs unmittelbar validiert werden. Dazu wird ein spezifisches Fahrzeug, also ein Fahrzeug des Typs, der später auf einer Betriebsumgebung zum Einsatz kommen soll, auf dem Testfeld bei unterschiedlichen Tageszeiten und Wetterbedingungen bewegt. Je nach Konstruktion des Fahrzeugs ist auch die Übertragung eines Sensorsetups möglich, indem es an einem anderen Trägerfahrzeug in gleicher Einbauposition montiert wird. Die erfassten Objekte (oder andere physikalische Eigenschaften, abhängig vom später genutzten Modell in der Simulation) werden zusammen mit den Daten des Testfelds synchronisiert aufge- Bild 2: Blick auf die A39 (links), Pendant in der Simulation (rechts) Quellen: links Autoren, rechts Mapillary 8 Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 26 INFRASTRUKTUR Automatisiertes Fahren zeichnet. Anschließend werden die verschiedenen Szenarien in der Simulation nachgestellt und die Ergebnisse verglichen. Das eingesetzte Sensormodell für die Simulation, also die Nachbildung des Sensorsetups des zu testenden Fahrzeugs, kommt dabei i. d. R. vom Hersteller des Sensors. Falls dort kein Modell mit den richtigen Schnittstellen zur Verfügung steht, kann auch ein generisches Modell in Zusammenarbeit mit dem Sensorhersteller entsprechend konfiguriert werden. Anschließend ist das Verhalten des Modells in der Simulation validiert und kann auf andere Betriebsumgebungen übertragen werden. Dort wird dann keine umfangreiche Erfassungstechnik mehr benötigt: Solange der Betriebsbereich nicht grundsätzlich von dem abweicht, in dem das Modell validiert wurde, können die Validierungsdaten übertragen werden. Gibt es dennoch markante Unterschiede zwischen dem mit dem Testfeld Niedersachsen abbildbaren Betriebsbereich und dem geplanten Einsatzgebiet des automatisierten Systems, können mobile Einheiten des Testfelds verwendet werden, um an bestimmten Stellen des geplanten Bereichs zusätzliche Messungen durchzuführen. Mit dieser Validierungsstrategie ist es möglich, den Simulationsergebnissen zu vertrauen und diese in den Sicherheitsnachweis einfließen zu lassen. Anders als aus der Fahrzeugperspektive können dadurch genaue Anforderungen an das Fahrzeug gestellt und deren Überprüfung deutlich vereinfacht werden. Die „offene Welt“, also eine Welt, in der nahezu alles passieren kann, wird durch die Einschränkung auf eine Betriebsumgebung zu einer endlichen Menge an Herausforderungen. Natürlich hängt dies wiederum von der Größe bzw. Heterogenität der Betriebsumgebung ab. Ganze Städte als Betriebsumgebung können beispielsweise die Anzahl der zu bewältigenden Herausforderungen erheblich erhöhen. Eine genaue Analyse einer Betriebsumgebung lässt dann auch die Übertragung der Ergebnisse auf andere, vergleichbare Betriebsumgebungen zu. Zusammenfassung und Ausblick Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für automatisiertes Fahren im Straßenverkehr sind mit der AFGBV vorhanden. Einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb durch nennenswerte Transportleistungen und annehmbare Kosten für die Umsetzung des automatisierten Systems wird eine der wesentlichen Herausforderungen des automatisierten Fahrens in der Zukunft. Eine teilweise Übertragung von Technologie vom Fahrzeug in die Infrastruktur kann diese Rechnung nennenswert beeinflussen. Mit den vorgestellten Methoden und Forschungsanlagen lässt sich ein Weg zur Genehmigung einer Fahrzeug-Betriebsbereich-Kombination beschreiben und durchführen. Validierte Simulationsumgebungen können dabei einen Schlüsselbaustein darstellen. Die Anwendung und Inbetriebnahme erster profitabler Betriebe werden die notwendige Erfahrung erzeugen und den Weg für automatisiertes Fahren in Deutschland und Europa ebenen. Es bleibt spannend, welche Geschäftsmodelle sich schlussendlich als tragfähig erweisen. ■ 1 Siehe z. B. Projektbeispiele der Götting KG: www.goetting. de 2 Forbes: Baidu Unveils Ambitious Robotaxi Plan In China. www.forbes.com/ sites/ bradtempleton/ 2022/ 11/ 30/ baiduunvails-ambitious-robotaxi-plan-in-china/ 3 The Guardian: California allows driverless taxi service to operate in San Francisco | Self-driving cars. www.theguardian.com/ technology/ 2022/ jun/ 03/ california-driverlesstaxi-cars-san-francisco 4 Handelsblatt: Argo AI: VW und Ford steigen aus Robotaxi- Firma aus - Branche in der Krise. www.handelsblatt.com/ unternehmen/ industrie/ autonomes-fahren-vw-und-fordverlieren-durch-argo-ausstieg-viel-geld-robotaxi-branche-stehen-schwere-zeiten-bevor/ 28773078.html 5 Zum Beispiel Moia: Autonomes Fahren für die Stadt: Unsere Mission | MOIA. www.moia.io/ de-DE/ innovation 6 California DMV: OL 317, Autonomous Vehicle Manufacturer Surety Bond. www.dmv.ca.gov/ portal/ file/ autonomousvehicle-manufacturer-surety-bond-ol-317-pdf/ 7 Siehe California DMV: Autonomous Vehicle Collision Reports. www.dmv.ca.gov/ portal/ vehicle-industry-services/ autonomous-vehicles/ autonomous-vehicle-collision-reports/ 8 www.mapillary.com/ app/ ? pKey=1186327365176004 Lennart Asbach, Dipl.-Ing. Abteilungsleiter Verifikation und Validierung, Institut für Verkehrssystemtechnik, DLR, Braunschweig lennart.asbach@dlr.de Michael Ortgiese, Prof. Dr.-Ing. Kommissarischer Direktor, Institut für Verkehrssystemtechnik, DLR, Braunschweig michael.ortgiese@dlr.de Bild 3: Kamerakopf des Testfeldes Niedersachsen (links), Blick auf die Erfassungstechnik des Testfelds (rechts) Quelle: DLR