eJournals Internationales Verkehrswesen 75/1

Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2023-0015
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2023
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Mensch vs. Maschine

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2023
Jinwei Zhou
Im Bereich des autonomen Fahrens hat die Technik sowohl die politische Umsetzung als auch den gesellschaftlichen Diskurs überholt. Während Automobilhersteller bereits in der Lage sind, autonome Fahrzeuge auf den Markt zu bringen, fehlt es an einer einheitlichen Vision, welchen Richtlinien selbstfahrende Autos folgen sollten. Auf Seiten der Technik besteht eine große Expertise, und die Forderungen nach gesetzlichen Rahmenbedingungen auf internationaler Ebene werden immer lauter. Ein Versuch, Verkehrsregeln in maschinenlesbare Sprache zu übersetzen, zeigt, welche Herausforderungen zu bewältigen sind. Doch zuvor müssen wir als Gesellschaft klären, was einen guten Verkehrsteilnehmer ausmacht.
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Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 44 MOBILITÄT Autonomes Fahren Mensch vs. Maschine Sind autonom fahrende Autos die „besseren Fahrer“? Autonomes Fahren, Straßenverkehrsordnung, Rules of the Road (ROTR), Fahrverhalten, Haftbarkeit Im Bereich des autonomen Fahrens hat die Technik sowohl die politische Umsetzung als auch den gesellschaftlichen Diskurs überholt. Während Automobilhersteller bereits in der Lage sind, autonome Fahrzeuge auf den Markt zu bringen, fehlt es an einer einheitlichen Vision, welchen Richtlinien selbstfahrende Autos folgen sollten. Auf Seiten der Technik besteht eine große Expertise, und die Forderungen nach gesetzlichen Rahmenbedingungen auf internationaler Ebene werden immer lauter. Ein Versuch, Verkehrsregeln in maschinenlesbare Sprache zu übersetzen, zeigt, welche Herausforderungen zu bewältigen sind. Doch zuvor müssen wir als Gesellschaft klären, was einen guten Verkehrsteilnehmer ausmacht. Jinwei Zhou D er Markt für Autonome Fahrzeuge hat weltweit großes Potenzial. Teilautomatisierungen wie Einparkhilfen und Abstandshalter sind schon weit verbreitet, die Zukunftsvision der smarten Stadt scheint zum Greifen nah. Doch immer wieder stehen neue Entwicklungen kritisch im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit - sei es die Zulassung von Level 4 für deutsche Straßen oder das Fehlverhalten von Robotaxis in Kalifornien. Der Diskurs zeigt, dass die Menschen ein hohes Bedürfnis nach Sicherheit im Straßenverkehr haben und voll autonomen Fahrzeugen skeptisch gegenüberstehen. Das liegt unter anderem daran, dass immer wieder dieselben Fragen aufkommen und bisher unzureichend beantwortet wurden: Welche Parameter legen das Verhalten selbstfahrender Autos fest? Wessen Sicherheit hat im Einzelfall Priorität - die des (passiven) Fahrers oder die der anderen Verkehrsteilnehmer? Und wer trifft diese Entscheidungen? Autonome Fahrzeuge haben das Potenzial, der Gesellschaft erhebliche Vorteile zu bringen, darunter verbesserte Sicherheit, Zugänglichkeit, Energieeffizienz, Flächennutzung und Erschwinglichkeit. Doch der Weg zur gesellschaftlichen Akzeptanz ist noch weit. Daher sollten die Fragen und Herausforderungen transparent offengelegt und in einem gesellschaftlichen Diskurs beantwortet werden. Sind autonome Fahrzeuge wirklich die besseren Fahrer? Straßenverkehr basiert auf vielen kleinen individuellen Entscheidungen und Reaktionen, ist also ein Raum komplexer menschlicher Interaktion. Auch wenn die Verkehrsregeln den Rahmen vorgeben, bleibt Handlungsspielraum für den Fahrer. Laut einer Studie von Yagil 2005 sind impulsives und egoistisches Verhalten die häufigsten Beweggründe für Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung (StVO) und folglich auch Unfälle 1 : Wer es eilig hat, fährt schneller als erlaubt. Wer sich über einen Drängler ärgert, lässt das nächste Fahrzeug nicht ordnungsgemäß einfädeln. Das heißt: Trifft ein Mensch die Entscheidung, eine Verkehrsregel zu brechen, wird er durch eine Kosten-Nutzen-Bewertung angetrieben und weiß, dass er erwischt und bestraft werden kann. Selbstfahrende Systeme dagegen lassen sich nicht von Emotionen beeinflussen. Menschliche Beweggründe sind der Technologie unbekannt und ihr Verhalten ist dadurch vorhersehbar. In dieser Vorhersehbarkeit liegt großes Potential zur Verbesserung der Verkehrssicherheit. Was ist ein guter Fahrer? Was also ist ein guter Fahrer? Es wird eine allgemeingültige Definition benötigt, doch Politik, Wirtschaft und Gesellschaft antworten unterschiedlich auf diese Frage. Sie diskutieren im Spannungsverhältnis zwischen sicherem, gesetzeskonformem und effizientem Fahren. Auch stellt sich die Frage, ob der Mensch der geeignete Standard ist, an dem sich selbstfahrende Autos messen sollten. Die hohe Anzahl von Verletzten, Unfalltoten und Staus, ausgelöst durch individualisiertes und kurzsichtiges Fahrverhalten, zeichnen kein schmeichelhaftes Bild. All das sind Gründe für eine Mobilitätswende, aber auch eine Gelegenheit, eine neue Verkehrskultur mit höheren (Sicherheits-) Standards zu etablieren? Es gibt überraschend viele Situationen, in denen Verkehrsregeln nicht eindeutig sind oder sich gar widersprechen. In solch komplexen Fahrsituationen verlassen sich menschliche Fahrer auf ihre Erfahrung und ihren gesunden Menschenverstand - das ist bei autonomen Fahrzeugen anders. Selbstfahrende Autos können solche Szenarien nur auf der Grundlage von Fahrprinzipien bewältigen, die zum Zeitpunkt der Systementwicklung festgelegt wurden. Daraus ergeben sich gleich zwei Herausforderungen: Einmal muss der Entwickler jedes erdenkliche Szenario vorhersehen und Anweisungen implementieren. Außerdem muss bei der Programmierung des Systems bereits entschieden werden, was das angemessene Fahrverhalten in diesem komplexen Szenario darstellt. Auch wenn das in den USA derzeit gängige Praxis ist, ist man sich in Europa einig, dass die Entwicklungsabteilungen von Automobilherstellern nicht als angemessene Instanz für diese Entscheidung in Frage kommen. Digitalisierte Verkehrsregeln können als Maßstab dienen Verkehrsregeln bilden die Basis für Verkehrsteilnehmer und ihr Fahrverhalten. Sie klären juristisch, was in einzelnen Situationen zu tun ist und was als Fehlverhalten gilt. Verstöße gegen die Verkehrsregeln sind häufiger mit Unfällen verbunden als ein Fahrfehler 2 und sollten damit zumindest in Hinsicht auf Sicherheit und Verkehrsfluss eine gute Bezugsgröße sein. Doch Verkehrsregeln sind nicht einheitlich, sondern variieren von Land zu Land: So stellen etwa die Vorfahrtsregeln in Deutschland - rechts vor links - in Kanada einen klaren Verstoß dar. Dort hat Vorfahrt, wer zuerst an die Kreuzung heranfährt. Daraus folgt, dass selbstfahrende Fahrzeuge je nach verfügbarer Software nur lokal zugelassen werden. Bei einer Auslandsreise müsste das System dann Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 45 Autonomes Fahren MOBILITÄT durch eine Software-Erweiterung mit den nationalen Verkehrsregeln des Ziellandes bespielt werden. Wenn Behörden und Zulassungsinstanzen also weiter nur auf nationaler Ebene agieren, bleibt eine weltweite Einigung auf einheitliche Parameter aus. Dann droht ein Flickenteppich aus Regeln und Gesetzen und damit auch eine komplizierte Rechtslage mit Blick auf die Haftbarkeit bei Unfällen. Wie übersetzt man Verkehrsregeln in maschinenlesbare Sprache? Verkehrsregeln sind in Gebrauchssprache verfasste Rechtsdokumente. Die Übersetzung dieser Regeln in computerlesbare Sprache ist eine anspruchsvolle Aufgabe, denn die Technologie in selbstfahrenden Fahrzeugen braucht eindeutig programmierte Befehle und eine präzise Formalisierung von Bedingungen. Da viele Verkehrsregeln indirekt Appelle an das Urteilsvermögen des Fahrers enthalten, können Entwicklerteams diese nur bedingt übersetzen. Zu diesem Zweck haben das Deep-Tech- SaaS-Unternehmen Kontrol und die Firma Motional, ein Joint Venture zwischen der Hyundai Motor Group und Aptiv PLC, einen Versuch 3 durchgeführt: Zwei Teams haben parallel und unabhängig voneinander dieselbe Verkehrsregel des US-Bundesstaates Nevada in maschinenlesbare Sprache übersetzt und die Ergebnisse verglichen. Ziel war es, Einblicke in mögliche Prozesse und Methoden zur Ableitung solcher formalen Regeln zu gewinnen. Konkret wurde die Vorfahrtsregelung an einer T-Kreuzung analysiert und übersetzt (Bild 1). Die Ergebnisse der beiden Teams wiesen starke Abweichungen in der Herangehensweise auf: So konzentrierte sich das Team von Kontrol auf die Übersetzung der konkreten Anweisungen und setzt voraus, dass die Schwach- und Leerstellen dieses Paragrafen durch andere Paragrafen ergänzt werden. Das Team von Motional versuchte diese Lücken zu schließen. Eklatant fällt auf, dass der Rechtstext für einen menschlichen Leser verfasst ist. So entstehen immer wieder semantische Sackgassen, aus denen die Maschine nicht ohne weitere Ergänzungen durch das Programmierungsteam herausfinden kann. Ein Beispiel ist das Setzen des Blinkers vor dem Abbiegen: Es ist gesetzlich genau geregelt wie lange vor dem Erreichen der Kreuzung und dem Einleiten des Abbiegemanövers der Blinker aktiviert werden muss. Was aber geschieht, wenn die Straße zu kurz ist, um diese Mindestlänge einzuhalten? Das selbstfahrende Auto würde in diesem Fall erkennen, dass Abbiegen nicht möglich ist und geradeaus weiterfahren. Der menschliche Fahrer würde eine individuelle Lösung finden und könnte seinen Weg wie geplant fortsetzen. Dies ist nur ein Beispiel für die zahlreichen Schwierigkeiten beim Dolmetschen zwischen Mensch und Maschine - und wieder stellt sich die Frage, wer die Entscheidungshoheit hat, die bestehenden Regelwerke zu interpretieren und zu ergänzen. Wer entscheidet, wer ein guter Fahrer ist? Kulturelle und regionale Normen und Auffassungen können die Auslegung von Regeln beeinflussen. Daher sind mehrere Auslegungen ein und derselben Verkehrsregel möglich, und es gibt derzeit kein klares Verfahren, um a priori zu entscheiden, welches Verhalten legal ist. Die traditionelle Rolle des Fahrzeugherstellers verschmilzt mit der Rolle des menschlichen Fahrers. Entwickler entwerfen und konstruieren nicht nur das Fahrzeug und die Systeme zur Ausführung des gewünschten Fahrverhaltens (z. B. Lenken, Bremsen), sie entwickeln auch die Systeme, die Fahrentscheidungen treffen. Damit ist derzeit lediglich eine Interessensgruppe involviert, die wirtschaftliche Interessen verfolgt. Deshalb ist es notwendig, angemessenes Fahrverhalten zu definieren und durch verschiedene Interessensgruppen wie Verbänden, Unternehmen und Politik zu stützen. Der technische Fortschritt hat den politischen Prozess ebenso überholt wie den gesellschaftlichen Diskurs - um eine zukunftsträchtige und sichere Mobilität zu gestalten, bedarf es einer Mediation zwischen Technik und Gesellschaft. Diese Mediation muss politisch gelenkt und so global wie möglich diskutiert werden. ■ 1 Yagil, D. (2005): Drivers and traffic laws: a review of psychological theories and empirical research. In: Traffic and Transport Psychology. Oxford: Elsevier, pp. 487-503 2 Parker, D.; Reason, J. T. Manstead Antony, S. R.; Stradling, S. G. (1995): Driving errors, driving violations and accident involvement. In: Ergonomics 38 (5), pp.1036-1048. www. tandfonline.com/ doi/ abs/ 10.1080/ 00140139508925170 3 Bin-Nun, A.; Derler, P.; Mehdipour, N.; Duintjer Tebbens, R. (2022): How should autonomous vehicles drive? Policy, methodological, and social considerations for designing a driver. www.nature.com/ articles/ s41599-022-01286- 2#Abs1 Jinwei Zhou, Dr. Technical Director, Kontrol GmbH, Linz (AT) info@kontrol.tech Bild 1: Illustration des Verkehrsszenarios. Die Abbildung zeigt die Trajektorien von zwei Fahrzeugen, die sich einer Kreuzung nähern, wobei ein Fahrzeug dem anderen Vorfahrt gewähren muss. Eigene Darstellung