eJournals Internationales Verkehrswesen 75/1

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2023-0021
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2023
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Künstliche Intelligenz für Bahnanwendungen

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Lars Schnieder
Betriebsprozesse im Bahnbetrieb werden zunehmend digitalisiert. Hierbei entstehende Massendaten können einer gezielten Analyse zugeführt werden. Algorithmen der Künstlichen Intelligenz werden zukünftig einen Beitrag zu einem sicheren und leistungsfähigen Schienenverkehr leisten. Um Vertrauen in sichere KI-Anwendungen zu rechtfertigen, sind neue Ansätze erforderlich. Dieser Beitrag beschreibt anhand exemplarischer Anwendungsfelder die Potenziale von KI-Anwendungen für den Verkehrsträger Schiene. Darüber hinaus werden die Randbedingungen der Entwicklung und Zulassung vertrauenswürdiger KI diskutiert.
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Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 71 Wissenschaft TECHNOLOGIE Künstliche Intelligenz für Bahnanwendungen Potenziale für eine starke Schiene und Herausforderungen in der Zulassung Digitalisierung, Big Data Analytics, Künstliche Intelligenz, Sicherheit, Konformitätsbewertung Betriebsprozesse im Bahnbetrieb werden zunehmend digitalisiert. Hierbei entstehende Massendaten können einer gezielten Analyse zugeführt werden. Algorithmen der Künstlichen Intelligenz werden zukünftig einen Beitrag zu einem sicheren und leistungsfähigen Schienenverkehr leisten. Um Vertrauen in sichere KI-Anwendungen zu rechtfertigen, sind neue Ansätze erforderlich. Dieser Beitrag beschreibt anhand exemplarischer Anwendungsfelder die Potenziale von KI-Anwendungen für den Verkehrsträger Schiene. Darüber hinaus werden die Randbedingungen der Entwicklung und Zulassung vertrauenswürdiger KI diskutiert. Lars Schnieder D igitale Technologien dringen immer weiter in alle Bereiche des Eisenbahnsystems vor. Dies schließt perspektivisch auch sicherheitsrelevante Funktionen mit ein. Eingesetzte Technologien müssen vertrauenswürdig sein. Vertrauenswürdige Systeme der Künstlichen Intelligenz (kurz: KI) sind zukünftig eine Grundlage für eine höhere Wettbewerbsfähigkeit des Verkehrsträgers Schiene. Dieser Beitrag stellt verschiedene Anwendungsbereiche von Algorithmen der Künstlichen Intelligenz für Bahnanwendungen vor. Vorbedingungen für den Einsatz von Systemen der Künstlichen Intelligenz Digitalisierung, Big Data und Künstliche Intelligenz sind eng miteinander verflochten. Genaugenommen ist die Digitalisierung die Vorbedingung für die Erfassung großer Datenmengen (Big Data). Große Datenmengen wiederum sind eine Vorbedingung für den effektiven Einsatz von Algorithmen der Künstlichen Intelligenz (Bild-1): Digitalisierung bedeutet, das System Bahn für informationsverarbeitende Systeme lesbar zu machen. Ohne die Digitalisierung der Anlagegüter der Eisenbahninfrastruktur bzw. der Schienenfahrzeugflotten kann keine digitale Datenverarbeitung, ob nun durch lernende Verfahren oder andere, stattfinden. Technisch geht es dabei um die Aufzeichnung und die Umwandlung von analogen in digitale Signale, mit denen Computersysteme arbeiten können. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass bestehende Bahnanwendungen bei nachträglichen Ergänzungen und Modifikationen ihre bestehende Zulassung Vertrauenswürdige Künstliche Intelligenz für Bahnanwendungen 2 Vorbedingungen für KI Digitalisierung und Big Data als Basis (1/ 2)  die Welt für informationsverarbeitende Systeme lesbar machen  Aufzeichnung und Umwandlung von analogen in digitale Signale  Verknüpfung von Sensoren und Prozessoren zu Netzwerken (Internet of Things, IoT) Digitalisierung  große, komplexe und unübersichtliche Datenmengen  immer mehr Daten werden gesammelt und generiert  maschinelle Hilfe (Algorithmen) erforderlich, um Chancen zu nutzen Big Data  Beherrschung der Herausforderung der Überfülle an Informationen  Offenbarung von für den Menschen nicht erkennbarer Muster  Erlangen eines tieferen Verständnisses der Welt Künstliche Intelligenz Bild 1: Vorbedingungen für den Einsatz von Systemen der Künstlichen Intelligenz Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 72 TECHNOLOGIE Wissenschaft nicht verwirken dürfen. Dies erfordert im Einzelfall spezifische Nachweise zur Rückwirkungsfreiheit der durchgeführten Änderungen. Big Data steht für die große Fülle von im Eisenbahnbetrieb erhobener Daten. Big Data ist zum einen eine Herausforderung: Wir generieren und sammeln immer mehr Daten und benötigen Algorithmen, wenn wir diese nutzen wollen. Zum anderen bieten diese Daten eine Chance, denn die lernenden Verfahren der Künstlichen Intelligenz benötigen für ihre Lernprozesse möglichst große Mengen an Daten. Die Speicherung großer Datenbestände erfolgt mittlerweile über IT-Infrastrukturen, die beispielsweise über das Internet (in der Cloud) verfügbar gemacht werden. Sie beinhalten in der Regel Speicherplatz, Rechenleistung oder Anwendungssoftware. Hierbei werden auch unterschiedliche Geschäftsmodelle als Dienstleistung (software as a service) angeboten. Künstliche Intelligenz bezeichnet die Anwendung von Prinzipien oder Regeln, die es erlauben, kognitive Prozesse des Menschen durch Berechnungsprozesse nachzubilden, die ein Computer ausführen kann. Ein großes Potenzial liegt vor allem in der Fähigkeit, in einer großen Menge von Daten Regelmäßigkeiten, Wiederholungen, Ähnlichkeiten oder Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, die einer menschlichen Informationsverarbeitung wegen der schieren Menge an Daten nicht zugänglich sind. Über die Mustererkennung hinaus sind KI-Systeme perspektivisch in der Lage, im Hinblick auf eine Reihe vom Menschen festgelegter Ziele Ergebnisse hervorzubringen, die das Umfeld beeinflussen, mit dem sie interagieren. Stärken und Schwächen menschlicher und künstlicher Intelligenz Bereits zuvor ist angeklungen, dass KI-Systeme versuchen, kognitive Prozesse des Menschen durch Berechnungsprozesse nachzubilden. Hierbei offenbaren sie im Vergleich zur menschlichen Intelligenz spezifische Stärken und Schwächen, die sich wie folgt zusammenfassen lassen (Bild 2): Kognitive Fähigkeiten - In diesem Bereich verfügt die Künstliche Intelligenz im Vergleich zur menschlichen Intelligenz über klare Vorteile. Zum einen sind die Gedächtnisleistungen und die Verarbeitungsgeschwindigkeit technischer Systeme höher als beim Menschen. Zum anderen sind KI-Systeme in ihrer Beurteilung - im Gegensatz zu Menschen - unabhängig von Emotionen und daher in ihrer Informationsverarbeitung zuverlässiger. Generalisierungsfähigkeit - Menschen können Erlerntes leicht auf andere Bereiche übertragen. Die menschliche Intelligenz ist diesbezüglich der Künstlichen Intelligenz deutlich überlegen. Wird beispielsweise ein KI- System mit neuen Daten konfrontiert, verändern diese Trainingsläufe die Gesamtarchitektur des KI-Systems. Dieser Zusammenhang wird auch plakativ als „katastrophales Vergessen“ bezeichnet. Abstraktionsfähigkeit - Menschen lernen aus vergleichsweise wenigen Daten effizient. Auch hier ist der Mensch der KI klar überlegen. Im Vergleich zum Menschen erfordert das Lernen bei KI-basierten Systemen viele Trainingsdaten und Probeläufe. Anpassungsfähigkeit - Menschen können sich immer wieder auf neue Herausforderungen einstellen. Sie sind der KI auch in dieser Hinsicht überlegen. Die KI hingegen ist extrem spezialisiert auf einen eng abgesteckten Anwendungsbereich. In diesem jedoch ist sie dem Menschen bezüglich der kognitiven Fähigkeiten überlegen (siehe oben). Beispiele für die Anwendung von KI-Systemen in Bahnanwendungen Für die Anwendung künstlicher Intelligenz können verschiedene Anwendungsbeispiele identifiziert werden. Diese werden nachfolgend vorgestellt. KI-basierte Digitalisierung rastergrafischer Bestandspläne Eine Voraussetzung für die digitale Planung der Leit- und Sicherungstechnik (LST) sind digitale Planungsgrundlagen. Bei Neubauten können diese im Planungsprozess erstellt werden. Die meisten Planungen basieren jedoch auf Bestandsplanunterlagen, deren Formate für die digitale LST-Planung nicht geeignet sind: Oftmals liegen diese Bestandspläne nur als Rastergrafiken vor. Hierfür ist eine weitgehend automatisierte Bestandsplandigitalisierung inklusive möglicher Bestandskorrek- Vertrauenswürdige Künstliche Intelligenz für Bahnanwendungen 1 Einführung Definition: Künstliche Intelligenz (2/ 3) 1 Lenzen, Manuela: Künstliche Intelligenz - Fakten, Chancen und Risiken. C.H. Beck (München) 2020. menschliche Intelligenz künstliche Intelligenz  Einschränkungen in Gedächtnisleistung und Verarbeitungsgeschwindigkeit  höhere Gedächtnisleistungen und Verarbeitungsgeschwindigkeit als Menschen  Emotionen von Menschen beeinflussen deren kognitive Leistungsfähigkeit  KI-Systeme sind in Ihrer Beurteilung unabhängig von Emotionen  „katastrophales Vergessen“: neue Trainingsläufe mit neuen Daten verändern die Gesamtarchitektur der KI  Transferlernen: Menschen können Erlerntes auf andere Bereiche übertragen + + +  Das Lernen erfordert viele Trainingsdaten und Probeläufe  Menschen lernen aus vergleichsweise wenigen Daten effizient +  Flexible Intelligenz: Menschen können sich immer wieder auf neue Herausforderungen einstellen +  extreme Spezialisierung auf einen eng abgesteckten Anwendungsbereich kognitive Fähigkeiten Generalisierungsfähigkeit Abstraktionsfähigkeit Anpassungsfähigkeit Bild 2: Stärken und Schwächen menschlicher und künstlicher Intelligenz im Vergleich Eigene Darstellung Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 73 Wissenschaft TECHNOLOGIE turen vorzunehmen [1]. Das vorliegende rastergrafische Bestandsplanwerk muss also für datenbasierte LST-Planung transformiert werden. Würden die vorhandenen Planunterlagen manuell aufbereitet werden, würde dies einen großen zeitlichen Aufwand bedeuten. Der Lösungsansatz ist eine KI-gestützte Objekterkennung in rastergrafischen Lageplanunterlagen. Hierbei werden in den rastergrafischen Bestandsplänen zunächst die Signalmasten über eine Objekterkennung lokalisiert. Anschließend werden anhand der eingelernten Planzeichen die unterschiedlichen Signaltypen erkannt und dem Signalmast zugeordnet. Über eine optische Zeichenerkennung (optical character recognition, OCR) können die in den rastergrafischen Plänen annotierten Angaben zur Streckenkilometrierung ausgelesen und den jeweiligen Signalmasten als Attribut zugeordnet werden. Anschließend wird die Liste der extrahierten Signale in eine CAD-Umgebung importiert und die einzelnen Elemente dort einer Gleisachse zugeordnet. Um die erforderliche hohe Qualität sicherzustellen, erfolgt eine Prüfung der Gleisfeldelemente durch Planer: innen zur Sicherstellung der Datenqualität. Durch den Bearbeitenden erkannte Fehler werden unmittelbar korrigiert und fehlende Angaben manuell ergänzt. Anschließend kann ein automatisierter Import von Gleisfeldelementen in georeferenzierte Datenbankprojekte zur weiteren Bearbeitung erfolgen. KI-basierte Erkennung von Gleisfeldelementen in 3D-Punktwolken Umbauten bestehender Stellwerke erfordern eine aktuelle Darstellung des Ist-Zustandes der Gleisfeldelemente. In der Regel kommt es hier durch die lange Lebensdauer dieser Anlagen zu Abweichungen der Unterlagen zur Inbetriebnahme (as built) vom aktuellen Zustand (as maintained). Eine manuelle Erfassung der Gleisfeldelemente zur Offenbarung möglicher Abweichungen ist zeitaufwändig und teuer. Ein möglicher Lösungsansatz hierfür ist die Bilderfassung durch Befliegen mit Multikoptern. Hierfür werden Prozesse und Softwarelösungen zur Erhebung, Aufbereitung und Nutzung von Multikopter- und Scandaten entwickelt [2]. Durch die Einnahme einer anderen Perspektive eröffnen sich neue Maßstäbe des Überblicks über Gleisanlagen sowie neue Möglichkeiten der Qualitätssicherung. Perspektivisch wird der Einsatz dieser Technologie u. a. die Teilautomatisierung von Prüf- und Planungsprozessen durch den digitalen Abgleich von IST- Infrastruktur und Planstand sowie ortsunabhängige Gleisfeldbegehungen unterstützen. Multikopter kommen immer häufiger zur Luftbilderfassung bei großen, schwer zugänglichen und unübersichtlichen Baustellen zur Anwendung. Die erfassten Sensordaten werden einer automatisierten Nachbearbeitung zugeführt. Hier können Gleisachsen identifiziert und erkannte Gleisfeldelemente über ihre geografischen Koordinaten (Global Positioning System, GPS) entlang bekannter Gleisachsen verortet werden. Die aus den 3D- Punktwolken abgeleiteten Daten können für die Weiterbearbeitung in BIM-Modellen (Building Information Modelling) bereitgestellt werden. Bei dieser Vorgehensweise sind auch datenschutzrechtliche Belange zu berücksichtigen, d. h. Personenbezüge in den Bilddaten gemäß datenschutzrechtlichen Vorgaben (Datenschutz- Grundverordnung, DSGVO) zu anonymisieren. KI-basierte Schadenserkennung von Güterwagen- Bremssohlen Die Überwachung der Bremssohlen an Güterwagen ist in der Regel aufwändig. Hierbei kann es im Betrieb zu unterschiedlichen Schadensbildern kommen. Mögliche Schäden sind radiale Risse der Bremssohle von der Reibfläche bis zum Trägerblech. Auch kann es zu sichtbaren Ausbröckelungen des Sohlenmaterials oder zu Metalleinschlüssen kommen. Darüber hinaus muss eine nicht mehr ausreichende Dicke der Bremssohle erkannt werden (< 10 mm). Lösungsansatz ist zunächst eine Erfassung des Güterwagens mittels hochauflösender Bilder. Anschließend wird der für die Untersuchung relevante Bildausschnitt über eine Objekterkennung näher eingegrenzt. Dieser Bildausschnitt wird einer vertiefenden Bildanalyse unterzogen. Im Vordergrund steht hierbei eine Abgrenzung der verschiedenen Schichten der Bremssohle. Über die KI-Algorithmen können verschiedene Kurvenverläufe der unterschiedlichen Bestandteile des Bremssystems angenähert werden. Auf diese Weise können Kurvenverläufe von Trägerblech, Sohle und Lauffläche des Rades bestimmt werden. Aus dem Vergleich der Kurven kann die Schichtdicke der Sohle abgeleitet werden. Erkannte Abweichungen von Sollzu Ist- Parametern lösen eine entsprechende Warnmeldung aus. Als schadhaft identifizierte Güterwagen werden - in Abhängigkeit des Verschleiß- oder Schadenszustandes - kurz- oder mittelfristig der Instandhaltung zugeführt. KI-basierte Erkennung und Lokalisierung von Anschriften an Güterwagen Fahrgäste fühlen sich von Graffiti belästigt. Ihr Sicherheitsgefühl ist beeinträchtigt. Auch ist die Beseitigung von Graffiti aufwändig und kostet die Eisenbahnverkehrsunternehmen jährlich mehrere Millionen Euro. Um Graffitis möglichst schnell beseitigen zu können und den Gesamteindruck des Wagens zu verbessern, besteht der Lösungsansatz in der Detektion und Lokalisierung von Graffitis auf Güterwagen. Hier kann bereits frühzeitig eine Befundung des Wagens vorgenommen werden, so dass das Personal bei Einfahrt des Zuges über die Größe und Position der Graffitis informiert ist und die Aktivitäten zu ihrer Entfernung entsprechend disponieren kann. Eine große Bedeutung für den Bahnbetrieb haben auch Anschriften, Maße, Symbole und Piktogramme auf Wagen. Sie geben Aufschluss über lade- und lauftechnische Eigenschaften, Bedienung und mögliche Gefahren. Über optische Systeme kann die Sichtbarkeit der Wagenanschriften (die Sichtbarkeit von Warnhinweisen dient der Sicherheit des Betriebs) überprüft werden. Auch hier kommen Systeme zur Bilderkennung und Bildverarbeitung zum Einsatz. Predictive Maintenance von Türsteuerungen mit Machine Learning Vorausbestimmte Instandhaltung von Schienenfahrzeugen ist nicht immer wirtschaftlich. Auch haben ungeplante Ausfälle von Fahrzeugen oder Wagen massive Auswirkungen auf den Bahnbetrieb. Ziel ist daher eine Ableitung einer optimalen Instandhaltungsstrategie auf Basis gemessener und prädizierter Zustandsgrößen. Ausgangsbasis sind hierbei erfasste Daten der Türsteuerung (Digitalisierung). Auf dieser Grundlage werden relevante Datenausschnitte mit dem Fencing-Verfahren identifiziert, Internationales Verkehrswesen (75) 1 | 2023 74 TECHNOLOGIE Wissenschaft welches die Ergebnisse auf Ereignisse wie beispielsweise Türblockaden in Stationsbereichen beschränkt, die für den Anwender mit hoher Wahrscheinlichkeit von Relevanz sind [3]. Über die Verknüpfung mit Daten weiterer externer Datenquellen (Wetterdaten) können die erfassten Messdaten mit weiteren Kontextinformationen angereichert werden. Diese Daten können mit nicht-überwachten Lernverfahren näher analysiert werden. Anomalien in den Datenreihen können mit dem DBSCAN- Algorithmus (Density-Based Spatial Clustering of Applications with Noise) identifiziert werden. Auf diese Weise kann beispielsweise aus einer konstanten Erhöhung der aufgenommenen Energie einer Tür über mehrere Schließzyklen im Zeitverlauf und unter Einbeziehung von Wetterdaten auf die Notwendigkeit einer Instandhaltung geschlossen werden. Im Idealfall kann die Instandhaltung erfolgen, bevor es im Betrieb zu einem Ausfall kommt. Auf diese Weise kann die Verfügbarkeit der Fahrzeugflotten im Eisenbahnbetrieb erhöht werden. Vertrauen in KI schaffen Die Einführung von KI-Systemen für sicherheitsrelevante Bahnanwendungen ist eine disruptive Innovation. Gemäß einer Verbraucherstudie des Verbandes der Technischen Überwachungsvereine (VDTÜV) besteht in der Bevölkerung eine grundsätzlich positive Grundeinstellung zu Künstlicher Intelligenz [4]. Allerdings stellt diese Studie auch Sorgen und Ängste fest. Wenn KI in immer mehr Lebensbereiche vordringt, muss also Vertrauen geschaffen werden: Risikoakzeptanz - Je höher das Risiko einer Anwendung, desto strenger müssen die Regeln hierfür sein. 58 Prozent der Deutschen begrüßen den risikobasierter Ansatz des Richtlinienentwurfs der Kommission der Europäischen Union [5]. Erfordernis harmonisierter Normen - Produkt- und Prozessprüfungen müssen auf einheitlichen Standards beruhen. Mit der Normungsroadmap Künstliche Intelligenz liegt eine umfassende Analyse des Bestands und des Bedarfs an internationalen Normen und Standards für KI vor [6]. Aktuell fehlt mit einer harmonisierten Norm das Rückgrat für die wirksame Umsetzung des von der Kommission der Europäischen Union skizzierten Konzepts. In Bezug auf KI-Systeme stößt die Normung an verschiedene Grenzen [7]. So sind aktuell der Entwicklung von Software für Bahnanwendungen zugrunde liegende Normen aus Sicht von KI-Systemen unvollständig bzw. veraltet. Es liegt jetzt an der Bahnbranche, die bestehenden Unschärfen durch die aktive Mitwirkung in der Normung mit konkreten Vorgaben zu schließen. Durch die Beteiligung aller interessierten Kreise und das Konsensverfahren genießen Normen nicht nur im gewerblichen und staatlichen Bereich Akzeptanz und Vertrauen, sondern auch bei Verbrauchern. Stärkere Unabhängigkeit in der Prüfung - Zwei Drittel der Befragten haben eher großes bis sehr großes Vertrauen in unabhängige, akkreditierte Konformitätsbewertungsstellen. Damit liegt das Vertrauen in diese privatrechtlich organisierten Stellen klar vor den Herstellern (55 Prozent) oder staatlichen Einrichtungen (49 Prozent). Es gelten auch in Bezug auf KI-Systeme die an Konformitätsbewertungsstellen gerichteten Anforderungen zur Unabhängigkeit, Objektivität und Unparteilichkeit [8]. Die eigentliche Konformitätsbewertung umfasst hierbei sowohl die Algorithmen als auch die in der Entwicklungsphase verwendeten Datensätze. Wichtig ist die Durchführung einer erneuten Konformitätsbewertung bei wesentlichen Änderungen der KI-Systeme. Stärkere Rolle der Produktbeobachtung - Gut vier von fünf Befragten (81 Prozent) sprechen sich dafür aus, dass die Sicherheit von Produkten und Anwendungen mit Künstlicher Intelligenz vor der Markteinführung von herstellerunabhängigen Stellen geprüft werden sollte. Und fast ebenso viele (79 Prozent) sind der Meinung, dass solche Prüfungen auch nach Inverkehrbringen erforderlich sind [9]. Der Richtlinienentwurf der Kommission der Europäischen Union Demnach sieht für Hersteller von KI-Systemen weitreichende Aufzeichnungspflichten vor. So müssen KI-Systeme mit Funktionsmerkmalen konzipiert und entwickelt werden, die eine automatische Aufzeichnung von Vorgängen und Ereignissen (Protokollierung) während des Betriebs der KI- Systeme ermöglichen. Diese Protokollierung ermöglicht die Überwachung des Betriebs des KI-Systems im Hinblick auf das Auftreten von Situationen, die dazu führen können, dass das KI-System ein Risiko birgt. Dies erleichtert die Beobachtung nach dem Inverkehrbringen. Zusammenfassend ermöglicht Künstliche Intelligenz die prädiktive Instandhaltung und erhöht die Effizienz des Eisenbahnbetriebs. Auch bilden zukünftig leistungsfähige Algorithmen zur Umfeldwahrnehmung die Grundlage der Automatisierung des Eisenbahnbetriebs. Allerdings erfordert die Anwendung nicht-deterministischer Algorithmen und für den Menschen undurchsichtiger Entscheidungsprozesse einen Paradigmenwechsel in der Zulassung technischer Systeme. ■ LITERATUR [1] Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für Künstliche Intelligenz. Brüssel, 21.04.2021; COM(2021) 206 final. [2] Maschek, U. (2022): Ein Weg zur Bestandsplandigitalisierung für die Digitale LST-Planung. In: Eisenbahningenieur, H. 1, S. 16-18. [3] Brandt, H.; Bock, U. (2018): Predictive Maintenance - IT gestützte Ermittlung flexibler Wartungszyklen für Fahrzeuge im Personenverkehr. In: Eisenbahntechnische Rundschau, H. 1-2, S. 58-62. [4] TÜV-Verband e.V: Sicherheit und Künstliche Intelligenz - Erwartungen, Hoffnungen, Risiken. Repräsentative Befragung der Bevölkerung in Deutschland im Auftrag des TÜV- Verbands (August 2021). [5] Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für Künstliche Intelligenz (Gesetz über Künstliche Intelligenz) und zur Änderung bestimmter Rechtsakte der Union; 2021/ 0106 (COD). [6] Deutsches Institut für Normung: Deutsche Normungsroadmap Künstliche Intelligenz. Berlin, November 2020. [7] Wilrich, T. (2017): Die rechtliche Bedeutung technischer Normen als Sicherheitsmaßstab. 1. Auflage, Berlin: Beuth Verlag. [8] Schnieder, L. (2017): Öffentliche Kontrolle der Qualitätssicherungskette für einen sicheren und interoperablen Schienenverkehr. In: ETR-Eisenbahntechnische Rundschau 66, H. 4, S. 38-41. [9] Schnieder, L.; Hosse, R. (2019): Typgenehmigungsmaßstäbe für automatisierte Fahrzeugsysteme des Level 3. In: Zeitschrift für Verkehrssicherheit 65, H. 4, S. 246-252. Lars Schnieder, PD Dr.-Ing. habil. Chief Executive Officer, ESE Engineering und Software-Entwicklung GmbH, Braunschweig; Lehrbeauftragter Verkehrswissenschaftliches Institut, RWTH Aachen lars.schnieder@ese.de