eJournals Internationales Verkehrswesen 75/2

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2023-0025
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Mobilitätswende in Stadt und Land

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Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister für Digitales und Verkehr mahnt eine stärker integrierte Perspektive auf die Transformation von Mobilität und Verkehr in städtisch und ländlich geprägten Regionen an. Lesen Sie hier eine kurze Einführung. Den vollständigen Text der Stellungnahme finden Sie im Web.
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POLITIK Standpunkt Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 10 Mobilitätswende in Stadt und-Land Klimaschutz und räumliche Gerechtigkeit als Transformationsziele des Verkehrs - Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesminister für Digitales und Verkehr Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister für Digitales und Verkehr mahnt eine stärker integrierte Perspektive auf die Transformation von Mobilität und Verkehr in städtisch und ländlich geprägten Regionen an. Lesen Sie hier eine kurze Einführung. Den vollständigen Text der Stellungnahme finden Sie im Web. M obilität und Verkehr stehen in den kommenden Jahren vor einer radikalen Transformation. Die sich zuspitzende Klima- und Ressourcenkrise, die zunehmende Alterung der Gesellschaft und technologischer Wandel - allen voran die Digitalisierung und die Entwicklung neuer Antriebstechnologien - werden sowohl auf der Seite der Nachfrage nach Mobilität und Mobilitätsdienstleistungen als auch auf der Seite des Verkehrsangebots zu gravierenden Veränderungen führen, die einer rahmensetzenden verkehrspolitischen Gestaltung bedürfen. Die Erreichung der Klimaschutzziele im Verkehrssektor setzt eine weitreichende Mobilitätswende voraus, die sich nicht allein in einer Antriebswende erschöpfen darf, sondern die auch darauf abzielt, die Mobilitäts- und Versorgungsansprüche der Bevölkerung mit weniger motorisiertem Verkehrsaufwand - insbesondere solchem mit fossilem Energieeinsatz - sicherzustellen. Bislang offenbart sich die Mobilitätswende sowohl in diskursiver wie auch materieller Hinsicht als großstadtzentriert. Zentrale Leitvorstellungen wie die „Stadt der kurzen Wege“, „15-Minuten-Nachbarschaften“ oder die „Smart City“ beziehen sich meistens auf Herausforderungen, Gegebenheiten und Lebenswirklichkeiten in städtisch geprägten Gebieten. Gleiches gilt für viele verkehrspolitische Programme und Maßnahmen zur Reduzierung des motorisierten Verkehrs und seiner negativen Externalitäten. Beispielhaft zu nennen sind die Diskussionen um PKW-Einfahrbeschränkungen in bestimmten Stadtgebieten („autoarme Innenstädte“ und „autoreduzierte Quartiere“), Initiativen zur Ausweitung von Sharing-Angeboten, Investitionen in die Fahrradinfrastruktur oder Maßnahmen für eine emissionsarme City-Logistik. Während somit die Konturen einer Neuausrichtung der Verkehrspolitik wie auch der Veränderung von Mobilitätspraktiken in urban geprägten Räumen bereits sichtbar werden, erscheint das Verkehrsgeschehen in ländlichen Räumen von „Wendedebatten“ weitgehend unberührt. Abseits der verdichteten Regionen versprechen viele der o.g. Handlungsansätze nur eingeschränkte Wirksamkeit, entweder weil die raumstrukturellen und raumökonomischen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umsetzung in gering verdichteten Regionen nicht gegeben sind oder weil Maßnahmen bislang nicht hinreichend an die dortigen spezifischen Gegebenheiten angepasst wurden. Auch ignoriert eine großstadtzentrierte Debatte über die Mobilitätswende das Innovationspotenzial in ländlichen Räumen sowie die spezifischen Bedürfnisse der hier lebenden Menschen und hier tätigen Unternehmen. Wenig überraschend offenbaren sich die Mobilitätskulturen in städtischen und ländlichen Räumen als extrem polarisiert. Kommt der Umweltverbund nach der letzten MiD-Erhebung (2017) in Metropolen auf über 60 % aller Wege, sind es in ländlichen Räumen nur 30 %.[1] Mit Blick auf die hohe Bevölkerungszahl und Verkehrsleistung in nicht-urbanen Räumen gefährdet die tatsächliche oder wahrgenommene Autoabhängigkeit die Mobilitätswende und damit auch die Erreichung der gesetzlich festgelegten Klimaschutzziele. Plakativ gesprochen: Das Gelingen der Mobilitätswende entscheidet sich nicht nur in Berlin oder München, sondern auch in den Vororten und auf dem Land. Es gilt, die Dichotomie einer Fußgänger-, Fahrrad- und ÖPNV-freundlichen Stadt und eines autoaffinen ländlichen Raumes zu überwinden. Ein sich im Zuge einer transformativen - an der Dekarbonisierung ausgerichteten - Verkehrspolitik einstellender „Stadt contra Land“-Diskurs wäre in hohem Maße unproduktiv und gesellschaftlich wie politisch schädlich. In Deutschland hat sich seit einigen Jahren eine neue Diskussion über gleichwertige Lebensverhältnisse und räumliche Gerechtigkeit entzündet, die sich in einem breiteren europäischen und internationalen Diskurs über vermeintlich „abgehängte“ ländliche Regionen einordnen lässt.[2] Eng verknüpft mit solchen negativen Zuschreibungen sind Befürchtungen über die Entstehung oder Verfestigung demokratie- und EU-skeptischer politischer Milieus. Insbesondere in der englischsprachigen Fachdebatte wird seit Längerem über Phänomene der „Transportarmut“ bzw. „Mobilitätsarmut“ diskutiert.[3] Als solche gilt das Fehlen von Verkehrsmitteln zur Ermöglichung täglicher Bedürfnisse und/ oder die finanzielle Belastung durch Verkehrsausgaben, die zu einem Resteinkommen (abzüglich der Verkehrsausgaben) unterhalb der Armutsgrenze führt. Mobilitätsarmut ist nicht auf ländliche Räume beschränkt, sie ist dort bei steigenden Verkehrskosten und Fehlen von Alternativen zum privaten PKW aber potenziell schwerwiegender als in Städten. Ein Verzicht auf außerhäusliche Aktivitäten kann mit einer verminderten Teilhabe am wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Leben, mit sinkender Lebensqualität und Unzufriedenheit verbunden sein. Mit dem Befund einer polarisierten Entwicklung zwischen „Stadt“ und „Land“ korrespondiert auch, dass sich Auseinanderset- Standpunkt POLITIK Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 11 zungen über die Transformation der Mobilität in Städten und ländlichen Gebieten bislang in separierten Diskursarenen von Politik und Wissenschaft vollziehen. Die Mobilitätswende wird zu wenig als integrierte Aufgabe im Stadt-Land-Kontinuum gesehen. Für den ländlichen Raum lässt sich zudem ein eher gering ausgeprägtes Problembewusstsein und eine reaktive Debattenkultur feststellen, in der Mobilitätsthemen nur dann adressiert werden, wenn - wie es derzeit der Fall ist - sprunghaft steigende Raumüberwindungskosten negative ökonomische und soziale Folgewirkungen erwarten lassen. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister für Digitales und Verkehr sieht hier dringenden Handlungsbedarf: Die Einführung des nationalen Emissionshandels wird die Kosten für die fossile Mobilität zukünftig nach oben treiben. Der damit einhergehende Anstieg der Raumüberwindungskosten trifft die Bevölkerung und Unternehmen aber in regional unterschiedlichem Maße. Verkehrs-, energie- und klimaschutzpolitische Maßnahmen, von denen bislang eher urbane Räume profitieren oder die in ländlichen Räumen soziale Benachteiligungen hervorrufen können - etwa durch eine Mobilitätsarmut einkommensschwächerer Bevölkerungsteile infolge hoher Verkehrskosten -, bergen erhebliche gesellschaftliche Konfliktpotenziale und widersprechen politischen Postulaten „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ und „territorialer Kohäsion.“ Nur mit einer räumlich und sektoral integrierten Handlungsperspektive kann eine Mobilitätswende gelingen, die gleichermaßen effizient in der Erreichung von Klimaschutzzielen und territorial gerecht ist. Vor diesem Hintergrund empfiehlt der Wissenschaftliche Beirat die Entwicklung einer integrierten verkehrspolitischen Rahmenstrategie, mit der Infrastrukturinvestitionen entlang des Stadt- Land-Kontinuums von Governance-Innovationen wie „Stadt-Land- Partnerschaften“, siedlungspolitischen Maßnahmen und diskursiven Strategien begleitet werden. Es gilt, die Erreichung der klima-, sozial- und wirtschaftspolitischen Ziele im Verkehrssektor mit solchen der räumlichen Gerechtigkeit zu verbinden. Das politische Versprechen einer Mobilitätsgarantie, die unabhängig vom Wohn- und Lebensort gegeben wird, kann diesbezüglich politische und gesellschaftliche Kraft entwickeln. Eine solche Garantie sollte ergänzt werden durch Investitionen in die regionale Verkehrs- und Dienstleistungsinfrastruktur und die Ausschöpfung der Potenziale der Digitalisierung. Mehr Transparenz über die Qualität des öffentlichen Verkehrsangebots abseits der Metropolen kann helfen, die Gewährleistung einer präferenzgerechten und bezahlbaren Mobilität kritisch zu begleiten. Eine Mobilitätsgarantie im Nah- und Regionalverkehr können formal nur Länder und Kommunen aussprechen. Der Bund kann jedoch gemeinsam mit den Ländern einen langfristig orientierten strategischen Handlungsrahmen mit dem Ziel abstecken, den in ländlichen Gebieten lebenden Menschen ein verlässliches Mobilitätsangebot zuzusichern. Dieses kann sich etwa aus Angeboten des SPNV, des Busverkehrs wie auch aus flexiblen ÖPNV-Formen und autonomen Shuttles speisen. Ein akzeptables Verkehrsangebot in jeder Gemeinde in Deutschland bis 2045, wenn die „Netto-Treibhausgasneutralität“ erreicht wird, wäre dabei zu gewährleisten. Der langfristige verkehrspolitische Investitions- und Finanzierungsrahmen kann auch daran ausgerichtet werden. Eine Mobilitätsgarantie zielt ausdrücklich nur auf die Gewährleistung einer Grundversorgung, damit ökonomische und soziale Teilhabechancen in allen Regionen Deutschlands sichergestellt werden. Die Festlegung von konkreten Zielwerten muss daher zwischen verschiedenen Belangen abwägen: einer Attraktivierung des öffentlichen Verkehrsangebots in ländlichen Räumen und einer auch raumordnungspolitisch sinnvollen Entlastung der Großstadtregionen auf der einen Seite und der Vermeidung weiterer Landschaftszersiedelung auf der anderen Seite. Die Verkehrspolitik sollte in Zukunft zudem geeignete Kompensationsmechanismen bei raumbezogenen Benachteiligungen als ungewollte Begleiterscheinung der Transformation etablieren. Ansatzpunkte dafür bietet eine Rückverteilung der Einnahmen aus der CO 2 -Bepreisung auf Ebene privater Haushalte ebenso wie mit Hilfe von räumlich zugeschnittenen Fördermaßnahmen im Bereich des ländlichen ÖPNV. Mit dieser Stellungnahme unterbreitet der Wissenschaftliche Beirat Vorschläge, wie eine Strategie für eine integrierte Mobilitätswende entlang des Stadt-Land-Kontinuums aussehen könnte und welche Maßnahmen geeignet erscheinen, Ziele des Klimaschutzes und die Gewährleistung von Mobilitätsbedürfnissen im urbanen und ländlichen Raum gleichermaßen zu erreichen. ■ QUELLEN [1] Infas, DLR, IVT Research, infas 360 (2019): Mobilität in Deutschland. Ergebnisbericht. Berlin [2] Rodríguez-Pose, A. (2017): The revenge of the places that don’t matter (and what to do about it). In: Cambridge Journal of Regions, Economy and Society, 11 (1), S. 189-209; Fröhlich, P.; Mannewitz, T.; Ranft, F. (2022): Die Übergangenen strukturschwach & erfahrungsstark. Zur Bedeutung regionaler Perspektiven für die Große Transformation. Bonn, Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung e. V. und Das Progressive Zentrum. [3] Lucas, K.; Mattioli, G.; Verlinghieri, E.; Guzman, A. (2016): Transport poverty and its adverse social consequences. In: Proceedings of the Institution of Cvil Engineers-Transport, Vol. 169, 6, S. 353-365; BMVBS/ BBSR (Hrsg.): Chancen und Risiken steigender Verkehrskosten für die Stadt- und Siedlungsentwicklung unter Beachtung der Aspekte der postfossilen Mobilität. BBSR-Online-Publikation 06/ 2009. Berlin/ Bonn. Die komplette Stellungnahme finden sie hier: https: / / bmdv.bund.de/ SharedDocs/ DE/ Anlage/ G/ wissenschaftlicher-beiratgutachten-mobilitaetswende.html Kontakt Geschäftsstelle des Wissenschaftlichen Beirats im BMVI Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur Referat G 12 - Frau Ursula Clever, Robert-Schuman-Platz 1, 53175 Bonn, E-Mail: ursula.clever@bmvi.bund.de Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesminister für Digitales und Verkehr Prof. Dr.-Ing. Lutz Eckstein Aachen Prof. Dr.-Ing. Hartmut Fricke Dresden Prof. Dr. Markus Friedrich Stuttgart Prof’in Dr. Astrid Gühnemann Wien Prof. Dr. Hans-Dietrich Haasis Bremen Prof’in Dr. Meike Jipp Berlin Prof’in Dr. Natalia Kliewer Berlin Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Knorr Speyer Prof. Dr.-Ing. Ullrich Martin Stuttgart Prof. Dr. Kay Mitusch Karlsruhe Prof. Dr. Stefan Oeter Hamburg Prof. Dr.-Ing. Stefan Siedentop Dortmund Prof. Dr. Tibor Petzoldt Dresden Prof. Dr. Gernot Sieg Münster Prof. Dr.-Ing. Peter Vortisch Karlsruhe