Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2023-0026
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Tarife im ÖPNV
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Daniel Kistner
Vor dem Hintergrund der Verkehrswende und der Komplexität der heutigen Tarifsysteme steht die Vereinfachung der Tarife des ÖPNV immer stärker im Fokus. Das aktuellste Beispiel ist das Deutschlandticket. Im Rahmen einer Masterarbeit wurde eine Stated Preference-Befragung durchgeführt, bei der die Befragten in mehreren Wahlsituationen zwischen zwei Tarifen wählen. Diese unterscheiden sich hinsichtlich des Preises, der Beschaffung und der Zugangsart. Die Ergebnisse zeigen, dass alle Tarifeigenschaften einen signifikanten Einfluss auf die Tarifwahl haben.
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Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 12 Tarife im ÖPNV Niedrige Preise oder einfacher Zugang: Was ist den Nutzenden wichtiger? Tarif, Ticket, ÖPNV, Befragung, Stated Preference Vor dem Hintergrund der Verkehrswende und der Komplexität der heutigen Tarifsysteme steht die Vereinfachung der Tarife des ÖPNV immer stärker im Fokus. Das aktuellste Beispiel ist das Deutschlandticket. Im Rahmen einer Masterarbeit wurde eine Stated Preference-Befragung durchgeführt, bei der die Befragten in mehreren Wahlsituationen zwischen zwei Tarifen wählen. Diese unterscheiden sich hinsichtlich des Preises, der Beschaffung und der Zugangsart. Die Ergebnisse zeigen, dass alle Tarifeigenschaften einen signifikanten Einfluss auf die Tarifwahl haben. Daniel Kistner D erzeit steht die Vereinfachung der Tarifsysteme des ÖPNV in Deutschland so stark im Fokus von Politik und Gesellschaft wie noch nie zuvor. Nach dem Angebot des 9-Euro-Tickets im Sommer vergangenen Jahres steht nun mit dem Deutschlandticket ein längerfristig ausgelegter Nachfolger fest. Durch derartige bundesweit gültige Tarifangebote entfällt für die regelmäßigen Nutzenden die teils kleinteilige Verbundlandschaft und die Nutzung des ÖPNV wird deutlich vereinfacht. Für Personen mit vereinzelter Nutzung bleibt die komplizierte Tariflandschaft jedoch weiterhin bestehen, sodass es dort weiterhin einen großen Bedarf zur Vereinfachung gibt. Eine weitere Möglichkeit zur tariflichen Vereinfachung ist die gänzlich kostenfreie Nutzung, wie es sie im Aus- und Inland bereits vereinzelt gibt. Dieser Artikel beschreibt einen ersten Versuch, die Wirkungen von Kostenfreiheit und Zugangsvereinfachungen auf die Wahl der Tarife zu quantifizieren. Als Grundlage dafür dient eine Stated Preference-Befragung. Praxisbeispiele kostenfreier und vereinfachter Tarife Neben den erwähnten deutschlandweiten Tarifen gibt es viele weitere Beispiele zur Umsetzung von kostenfreien und vereinfachten Tarifen. So gibt es unter anderem in Luxemburg und der Stadt Monheim am Attribut Ungünstigste Ausprägung (-1) Mittlere Ausprägung (0) Günstigste Ausprägung (1) Preis (x1) 20 EUR/ Monat 10 EUR/ Monat 0 EUR/ Monat Beschaffungshäufigkeit (x2) Alle 2 Wochen Monatlich Einmalig Beschaffungsdauer (x3) 60 Minuten 30 Minuten 5 Minuten Zugangsart (x4) Check-in/ Check-out Nur Check-in Kein Check-in/ Check-out Tabelle 1: Ausprägungen der Attribute Eigene Darstellung POLITIK ÖPNV Foto: Oliver Güth / Kölner Verkehrs-Betriebe AG ÖPNV POLITIK Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 13 Rhein einen kostenfreien ÖPNV. Die Angebote unterscheiden sich neben ihrer räumlichen Ausdehnung primär auch hinsichtlich des Personenkreises, von dem sie genutzt werden dürfen [1, 2]. Allgemein zeigen Untersuchungen, dass die Fahrgastzahlen durch die Einführung eines kostenfreien ÖPNV ansteigen [3, 4]. Allerdings zeigt sich auch, dass viele Personen, die zuvor zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs waren, auf den ÖPNV wechseln. Eine reine Verlagerung von MIV-Wegen auf ÖPNV-Wege, wie sie aus verkehrsplanerischer Sicht wünschenswert wäre, kann nicht erwartet werden. Darüber hinaus gibt es Hinweise auf die Induktion von zusätzlichen Wegen im ÖPNV, welche ohne die Kostenfreiheit gar nicht erst auftreten würden [5, 6]. Im Bereich der vereinfachten aber nicht kostenfreien Tarife können verschiedene Zugangsarten unterschieden werden. Neben dem konventionellen Ein- und Ausstieg ohne jegliche Kontrolle gibt es Check-In/ Check-Out-Systeme. Dabei müssen die Fahrgäste ihre Fahrtberechtigung beim Ein- und Ausstieg vor ein Lesegerät halten (z. B. OV-chipkaart in den Niederlanden [7]), alternativ kann auch ein Handy mit Ortungsfunktion genutzt werden (z. B. eezy. nrw [8]). Eine Vereinfachung entsteht für die Nutzenden, da die Tarife im Hintergrund automatisch berechnet werden. Weitere Vereinfachungen bieten Check-In/ Be- Out-Systeme mit automatischer Erkennung des Ausstiegs sowie eine komplett automatische Detektion des Ein- und Ausstiegs über Smartcards oder Smartphones (Walk-In/ Walk-Out bzw. Be-In/ Be-Out). Durch derartige Systeme werden die tariflichen Hürden beim Fahrscheinkauf gesenkt oder entfallen komplett. Zudem bietet sich die Möglichkeit, die in Anspruch genommene Leistung genau und ohne zusätzlichen Aufwand für den Kunden im Hintergrund abzurechnen. Oftmals besteht hier auch eine hohe Relevanz für Gelegenheitsfahrgäste [9]. Erstellung der Stated Preference- Befragung Zur Untersuchung des Einflusses der Kostenfreiheit und der Vereinfachung des Zugangs auf die Tarifwahl erfolgte der Pretest einer Stated Preference-Befragung mit anschließender Auswertung. Im Kern der Befragung sind in neun Situationen jeweils zwei Tarife zur Auswahl gegenübergestellt. Per Zufall wurden die Befragten in zwei Blöcke aufgeteilt, sodass es insgesamt 18 Wahlsituationen gab. Die Tarife unterscheiden sich hinsichtlich der Attribute Preis, Beschaffungshäufigkeit, Beschaffungsdauer und Zugangsart. Dabei simulieren die Beschaffungshäufigkeit und die Beschaffungsdauer einen Beschaffungsvorgang, der je nach Ausprägung auch regelmäßig wiederkehren kann. Die Zugangsart gibt an, ob beispielsweise ein Check-In/ Check-Out erforderlich ist. Tabelle 1 zeigt die verwendeten Ausprägungen der vier Attribute. Um den Einfluss der einzelnen Attribute auf das Wahlverhalten ermitteln zu können, unterliegen die Konstellationen in den Fragen einem orthogonalen Design. Dadurch entsteht ein Gleichgewicht zwischen den einzelnen Attributsausprägungen, und Korrelationen zwischen den Attributen werden verhindert [10, 11]. Neben den Stated Preference-Fragen enthält die Befragung auch Fragen zur Einschätzung von Tarifen, soziodemographischen Daten und dem aktuellen Verkehrsverhalten. Die Verbreitung erfolgte online über verschiedene Kanäle im Juni 2022, also kurz nachdem das 9-Euro-Ticket eingeführt wurde. Einfluss von Preis, Zugang und Soziodemographie Die Ergebnisse der eigenen Befragung bestätigen die zu Beginn beschriebene Notwendigkeit der Vereinfachung des heutigen Tarifsystems. Dieses wird von den meisten Befragten als kompliziert eingeschätzt (Bild- 1). Zudem steht die Mehrzahl der Befragten einem kostenfrei nutzbaren ÖPNV sehr positiv gegenüber. Bei nahezu allen Gegenüberstellungen wählt die Mehrheit der Personen den preislich günstigeren Tarif. Lediglich in einer Situation mit geringem Preisunterschied, aber einem vergleichsweise hohen Beschaffungsaufwand gewinnt der leicht teurere Tarif mehr an Zuspruch. Nach dem geringsten Preis weist nach einem großen Abstand die einfachste Zugangsart das stärkste lexikographische Wahlverhalten auf. Lexikographisches Verhalten liegt bei den Personen vor, die in allen Entscheidungssituatio- 8% 20% 34% 17% 10% 7% 2% 2% 0% 5% 10% 15% 20% 25% 30% 35% sehr kompliziert 1 2 3 4 5 6 7 sehr einfach 8 Anteil an n = 143 Antworten Wie schätzen Sie das heutige Tarifsystem im öffentlichen Nahverkehr ein? Bild 1: Einschätzung des heutigen Tarifsystems im ÖPNV Eigene Darstellung Attribut Ausprägung (nur bei kategorialen Variablen) Parameter (Estimate) p-Wert Signifikanz Preis - -0,1288637 < 2,2e-16 *** Beschaffungshäufigkeit Einmalig 1,584482 < 2,2e-16 *** Monatlich 1,3047115 < 2,2e-16 *** alle 2 Wochen 0 0 (Referenzniveau) Beschaffungsdauer - -0,0188293 6,39E-11 *** Zugangsart Kein Check-in/ Check-out 1,9598986 < 2,2e-16 *** Nur Check-in 1,168213 < 2,2e-16 *** Check-in/ Check-out 0 0 (Referenzniveau) Signifikanz-Codes: 0 ‘***’ 0,001 ‘**’ 0,01 ‘*’ 0,05 ‘.’ 0,1 ‘ ’ 1 Log-Likelihood: -541,27 Tabelle 2: Ausgabe des multinomialen Logit-Modells Eigene Darstellung basierend auf [14] POLITIK ÖPNV Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 14 nen nur aufgrund von einem Attribut (z. B. geringster Preis) wählen [12, 13]. Die soziodemographischen Daten haben insgesamt nur einen geringen Einfluss auf die Einschätzung der Tarife. So schätzen Frauen die heutigen Tarife etwas leichter verständlich ein und stehen der Einführung eines kostenfreien ÖPNV etwas positiver gegenüber als Männer. Eine ähnliche Einschätzung kommt von der Gruppe der ÖPNV- Nutzenden. Personen, die in Vollzeit berufstätig sind oder sich in einer Berufsausbildung befinden, stehen dem kostenfreien ÖPNV hingegen geringfügig kritischer gegenüber. Eine tiefergehende statistische Auswertung des Wahlverhaltens mithilfe eines multinomialen Logit-Modells und des Chi- Quadrat-Tests liefert weitere Aussagen über die Signifikanz der einzelnen Variablen (Tabelle 2). Die vier Attribute der Tarife (Preis, Beschaffungshäufigkeit, Beschaffungsdauer und Zugangsart) haben demnach allesamt einen statistisch hochsignifikanten Einfluss auf die Tarifwahl. Im Gegensatz dazu haben die personenbezogenen Daten in der Untersuchung nahezu keinen Einfluss auf die Tarifwahl. Aufgrund des Wahlverhaltens lässt sich zudem der Zeitkostensatz ermitteln, der eine Monetarisierung der Beschaffungszeit angibt. Innerhalb der Stichprobe liegt der Zeitkostensatz für eine Stunde Beschaffungsdauer bei 9 EUR. Dies liegt im Bereich des Mindestlohns zum Befragungszeitpunkt und ist somit verglichen mit Arbeitslöhnen ein eher geringer Zeitwert [15]. Allerdings muss auch beachtet werden, dass die Stichprobe der Befragung nicht repräsentativ ist und der Fragebogen überwiegend von jüngeren und männlichen Personen aus dem akademischen Umfeld beantwortet wurde. Zudem sollte die Aufteilung der Fragen auf die Gruppen bei einer weiteren Untersuchung verändert werden, da eine Gruppe wesentlich entschiedenere Mehrheiten lieferte als die andere. Fazit und Ausblick Welche Schlüsse lassen sich aus der Befragung nun für die Praxis ziehen? Es zeigt sich, dass der Preis bei ÖPNV-Tarifen die größte Lenkungswirkung hat. Teurere Tarife werden von der Mehrheit nur dann gewählt, wenn die Alternative hinsichtlich anderer Aspekte deutlich schlechter ist (z. B. aufwändigere Beschaffung). Auch die Beschaffungsdauer, die Beschaffungshäufigkeit und die Zugangsart der jeweiligen Fahrtberechtigung haben einen signifikanten Einfluss auf die Tarifwahl. Grundsätzlich ist aus reiner Fahrgastsicht deshalb der Preis möglichst gering und der Zugang möglichst einfach zu halten. Die Umsetzung ist beispielsweise mithilfe von elektronischen Tarifen möglich. Auch ein kostenfreier ÖPNV ist für die Fahrgäste sehr attraktiv, hier können aber Probleme bei der Finanzierung auftreten. Während für Gelegenheitsnutzende des ÖPNV eine weitere Vereinfachung der Tariflandschaft erforderlich ist, entsteht mit der Einführung des Deutschlandtickets vor allem im Bereich der Abo-Tickets eine deutliche Vereinfachung. Hier sind die genauen Wirkungen auf Kunden- und Anbieterseite weiter zu untersuchen. Allerdings ist auch zu beachten, dass neben der Vereinfachung der Tarife auch der Ausbau des Angebots im ÖPNV erforderlich ist, um die Attraktivität zu steigern. ■ Die genannte Masterarbeit wurde betreut durch Niklas Höing, M. Sc., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, ISB, RWTH Aachen. LITERATUR [1] Stadt Monheim am Rhein (2021): Hilfe-Center zum Monheim-Pass. Alle Fragen zum Thema Mein Monheim-Pass. www.monheim.de/ monheim-pass/ helpcenter/ MHP_CARD (Abruf: 11.04.2022) [2] Le Gouvernment du Grand-Duché de Luxembourg (2022): Öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV). https: / / luxembourg.public.lu/ de/ leben/ mobilit%C3%A4t/ oeffentlicher-personennahverkehr.html (Abruf: 11.04.2022) [3] Andor, M. A.; Fink, L.; Frondel, M.; Gerster, A.; Horvath, M. (2021): Kostenloser ÖPNV: Akzeptanz in der Bevölkerung und mögliche Auswirkungen auf das Mobilitätsverhalten. In: List Forum 46 (3), S.-299-325. DOI: 10.1007/ s41025-020-00207-y [4] Inturri, G.; Fiore, S.; Ignaccolo, M.; Caprì, S.; Le Pira, M. (2020): “You study, you travel free”: when mobility manage-ment strategies meet social objectives. In: Transportation Research Proce-dia 45, S.-193-200. DOI: 10.1016/ j.trpro.2020.03.007 [5] Cats, O.; Susilo, Y., O.; Reimal, T. (2017): The prospects of fare-free public transport: evidence from Tallinn. In: Transportation 44 (5), S.-1083-1104. DOI: 10.1007/ s11116-016-9695-5 [6] Mocanu, T. (2019): Verkehrliche Auswirkungen eines deutschlandweit kostenfreien ÖPNV. Präsentation bei den Nahverkehrs-Tagen 2019. www.mowin.net/ fileadmin/ mowin/ dokumente/ Nahverkehrstage/ 2019/ 10_Herr_Mocanu_Verkehrliche_Auswirkungen_ eines_deutschlandweit_kostenfreien_OEPNV.pdf (Abruf: 08.04.2022) [7] Translink (2019): What is the OV-chipkaart? www.ov-chipkaart.nl/ purchase-an-ov-chipkaart/ what-is-the-ov-chipkaart.htm (Abruf: 20.04.2022) [8] VRS (2022): So funktioniert eezy.nrw. Verkehrsverbund Rhein-Sieg GmbH, Kompetenzcenter Marketing NRW. https: / / eezy.nrw/ de/ hilfe/ so-funktioniert-eezy-nrw (Abruf: 20.04.2022) [9] Wirtz, M. (2014): Flexible Tarife in elektronischen Fahrgeldmanagementsystemen und ihre Wirkung auf das Mobilitätsverhalten. Hrsg. v. Peter Vortisch, P. (2014): Karlsruher Institut für Technologie (KIT) (Schriftenreihe des Instituts für Verkehrswesen, 71. https: / / publikationen.bibliothek.kit.edu/ 1000040412/ 3205083 (Abruf: 07.04.2022) [10] Hensher, D. A. (1994): Stated Preference Analysis of Travel Choices: The State of Practice. In: Transportation 21, S. 107-133. DOI: 10.4324/ 9780203985359-12 [11] ChoiceMetrics (2018): Ngene 1.2 User Manual & Reference Guide. The Cutting Edge in Experimental Design [12] Hess, S.; Rose, J. M.; Polak, J. (2010): Non-trading, lexicographic and inconsistent behaviour in stated choice data. In: Transportation Research Part D: Transport and Environment 15 (7), S. 405-417. DOI: 10.1016/ j.trd.2010.04.008 [13] Spash, C. L. (2000): Ecosystems, contingent valuation and ethics: the case of wetland re-creation. In: Ecological Economics 34 (2), S.-195-215. DOI: 10.1016/ S0921-8009(00)00158-0 [14] Croissant, Y. (2017): Estimation of multinomial logit models in R: The mlogit Packages. https: / / mran.microsoft.com/ snapshot/ 2017-02-04/ web/ packages/ mlogit/ vignettes/ mlogit.pdf (Abruf: 01.08.2022) [15] Bundesregierung (2021): Der gesetzliche Mindestlohn steigt. www. b u n d e s r e g i e r u n g . d e / b r e g d e / a k t u e l l e s / m i n d e s t l o h n steigt-1804568 (Abruf: 09.05.2022) Daniel Kistner, M. Sc. Strategische Fahrwegplanung Kölner Verkehrs-Betriebe AG (KVB), Köln d-f-kistner@web.de Call for Papers 2023 Themen und Termine auf: www.internationales-verkehrswesen.de Ihre neuen Ergebnisse aus Forschung, Wissenschaft und Praxis in
