Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2023-0030
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Erfolgreiche Zukunft des Schienenverkehrs in Deutschland?
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Fabian Stoll
Bastian Kogel
Die Zukunft des Schienenverkehrs in Deutschland wird wesentlich von der Verkehrspolitik des Bundes beeinflusst. Aufgrund vielfältiger ungelöster Herausforderungen besteht ein dringender politischer Handlungsbedarf. Ohne eine weitere Aufstockung des Verkehrsetats wird eine Finanzierung der für den Deutschlandtakt erforderlichen Infrastrukturvorhaben mittel- und langfristig nicht möglich sein. Zudem bedarf es einer massiven Beschleunigung der Umsetzungszeiträume. In kurzfristiger Hinsicht ist es bedeutsam, den multiplen Überlastungserscheinungen des Schienennetzes zu begegnen und verschärfte Rentabilitätsprobleme des Eisenbahnbetriebs abzuwenden.
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Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 24 INFRASTRUKTUR Wissenschaft Erfolgreiche Zukunft des-Schienenverkehrs in Deutschland? Bewältigung aktueller Herausforderungen ohne beschleunigten Infrastrukturausbau nicht möglich Bundesschienenwege, Infrastrukturausbau, Finanzierung, Deutschlandtakt, Kapazitätsengpässe, Betriebsqualität Die Zukunft des Schienenverkehrs in Deutschland wird wesentlich von der Verkehrspolitik des Bundes beeinflusst. Aufgrund vielfältiger ungelöster Herausforderungen besteht ein dringender politischer Handlungsbedarf. Ohne eine weitere Aufstockung des Verkehrsetats wird eine Finanzierung der für den Deutschlandtakt erforderlichen Infrastrukturvorhaben mittel- und langfristig nicht möglich sein. Zudem bedarf es einer massiven Beschleunigung der Umsetzungszeiträume. In kurzfristiger Hinsicht ist es bedeutsam, den multiplen Überlastungserscheinungen des Schienennetzes zu begegnen und verschärfte Rentabilitätsprobleme des Eisenbahnbetriebs abzuwenden. Fabian Stoll, Bastian Kogel D er bestehende Rechtsrahmen ermöglicht der Bundesregierung umfassende verkehrspolitische Gestaltungsmöglichkeiten im Schienenverkehrssektor. Zu nennen sind das Grundgesetz (GG), das Bundesschienenwegeausbaugesetz (BSWAG), das Eisenbahnregulierungsgesetz (ERegG) oder das Regionalisierungsgesetz (RegG). Die Zukunft des Schienenverkehrs wird jedoch deutlich weniger durch rechtliche Vorgaben beeinflusst als von verkehrspolitischen und unternehmerischen Entscheidungen. Besondere Handlungserfordernisse zeigen sich hinsichtlich der Finanzierung des Neu- und Ausbaus der Bundesschienenwege, der Minimierung von Kapazitätsengpässen und der Steigerung der Betriebsqualität. Gleichzeitig zeigen sich steigende staatliche Subventionen und eine geringe Rentabilität von Verkehrsdiensten. Verzögerter Neu- und Ausbau der Bundesschienenwege Der Bund erhält nach dem Grundgesetz (Art. 73 Abs. 1 Nr. 6a GG) die gesetzgeberische Kompetenz über den Verkehr, den Bau, die Unterhaltung, den Betrieb sowie die Erhebung von Nutzungsentgelten von Eisenbahnen, die ganz oder mehrheitlich Bundeseigentum sind [1]. Mit dem Bundesschienenwegeausbaugesetz (BSWAG) wird die gesetzgeberische Kompetenz über den Eisenbahnbau konkretisiert. Der Ausbau des Netzes wird nach dem Bedarfsplan für die Bundesschienenwege (§ 1 Abs. 1 BS- WAG) vorgenommen [2]. Dessen Aufstellung richtet sich nach der gutachterlich entwickelten Methodik des Bundesverkehrswegeplans (BVWP). Die lange Geltungsdauer bisheriger BVWP (BVWP 1992: 1992-2003; BVWP 2003: 2003-2015; BVWP 2030: 2016-2030) führt dazu, dass Pläne und Methoden mehrere Bundestag-Legislaturperioden überdauern. Aufgrund der langen Geltungsdauer eines BVWP und der gängigen Praxis, Projekte als Planungsüberhang über Dekaden fortzuschreiben, sind große Teile des aktuell geltenden Bedarfsplans auf verkehrspolitische Abwägungen vergangener Regierungen zurückzuführen. Auch der verkehrspolitisch im Fokus stehende Deutschlandtakt als bundesweit konzipiertes Fahrplan- und Schienennetzausbaukonzept wurde bereits in dem Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD aus dem Jahr 2013 benannt. In diesem Zusammenhang wurden eine Erhöhung der Investitionsmittel und eine Beschleunigung von Planfeststellungs- und Genehmigungsverfahren für Schieneninfrastrukturprojekte angestrebt [3]. Eine vom Bundesverkehrsministerium in Auftrag gegebene Studie führte im Jahr 2015 zu einer Liste notwendiger Infrastrukturvorhaben für unterschiedliche Varianten des Deutschlandtakts [4]. Einige der gelisteten Großvorhaben waren in ähnlicher oder identischer Form bereits seit 1992 Bestandteil der Bundesverkehrswegeplanung, wie die Tabelle 1 verdeutlicht. Jedoch zeigt sich, dass Vorhaben trotz der Einordnung als vordringlicher Bedarf (VB) über mehrere BVWP-Perioden als neue Vorhaben geführt PEER REVIEW - BEGUTACHTET Eingereicht: 23.03.2023 Endfassung: 25.04.2023 Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 25 Wissenschaft INFRASTRUKTUR wurden, ohne dass mit diesen Vorhaben begonnen werden konnte. Die Umsetzung von Vorhaben mit besonderer Relevanz für den Deutschlandtakt gilt angesichts des jahrzehntealten Planungsüberhangs jedoch keinesfalls als gesichert. Eine möglichst rasche Umsetzung des Deutschlandtakts muss mit einer radikalen Beschleunigung der typischerweise Jahrzehnte andauernden Abwägungs- und Umsetzungsprozesse von Schieneninfrastrukturgroßprojekten einhergehen. Konkrete Umsetzungsschritte für deutschlandweit wirksame Bedarfsplan-Vorhaben wie die ABS / NBS Frankfurt - Mannheim, ABS / NBS Hamburg - Hannover, ABS / NBS Hanau - Würzburg / Fulda - Erfurt oder ABS / NBS Hannover - Bielefeld wurden erst innerhalb der letzten ein bis zwei Jahre aufgenommen (Tabelle 2). Zukünftig sollte die Aufnahme von Projekten in den BVWP und die Feststellung eines hohen gesamtwirtschaftlichen Nutzens innerhalb weniger Jahre zum Beginn und Abschluss von Bautätigkeiten führen. Parallel hierzu sind Projekte, die sich seit Jahrzehnten aufgrund so genannter Restarbeiten noch immer in der Realisierungsphase befinden, zügiger fertigzustellen. Bis heute enthalten die jährlichen Verkehrsinvestitionsberichte der Bundesregierung Mittelabflüsse für Vorhaben, deren Planfeststellungsbeschlüsse und Finanzierungsvereinbarungen bereits in den 1990er Jahren erteilt wurden. Dies trifft etwa auf die ABS Karlsruhe - Stuttgart - Nürnberg - Leipzig / Dresden oder die ABS / NBS Nürnberg - Ingolstadt - München zu (Tabelle 2). Finanzierungsdefizit beim Neu- und Ausbau der Bundesschienenwege Die über Jahrzehnte andauernde Abarbeitung des Bedarfsplans Schiene ist sicherlich auf bürokratische Hürden, aber mindestens in demselben Ausmaß auf das limitierte Budget für Neu- und Ausbauvorhaben zurückzuführen. Trotz eines wachsenden Finanzierungsbedarfs stiegen die für Bedarfsplanmaßnahmen des Schienenverkehrs im Bundeshalt eingeplanten Mittel im Zeitraum 2012 bis 2020 nur äußerst geringfügig von 1,24-Mrd. auf 1,39 Mrd. EUR an. Im Jahr 2021 ergab sich die Besonderheit, dass die verausgabten Mittel (2,05- Mrd. EUR) das geplante Budget (1,56 Mrd. EUR) deutlich überstiegen und zudem erstmals erkennbar über den Ausgaben vorheriger Jahre lagen. Für die Jahre 2022 und 2023 wurden im Bundeshaushalt schließlich Investitionsmittel in Rekordhöhe (1,90 bzw. 2,00 Mrd. EUR) eingeplant (Bild 1) [8]. Vordringliche Bedarfsplan-Vorhaben BVWP 1992 [5] BVWP 2003 [6] BVWP 2016 [2] Gesamtkosten Stand 2020 [7] ABS Hamburg - Büchen - Berlin (2. Ausbaustufe) l. V. l. V. l. V. 2,8 Mrd. € ABS / NBS Nürnberg - Erfurt n. V. l. V. l. V. 8,0 Mrd. € ABS / NBS Frankfurt - Mannheim (- Karlsruhe) n. V. n. V. n. V. 4,4 Mrd. € ABS / NBS Hamburg - Hannover n. V. n. V. n. V. 3,9 Mrd. € ABS / NBS Hanau - Würzburg / Fulda - Erfurt n. V. n. V. n. V. 3,7 Mrd. € ABS / NBS Hannover - Bielefeld - n. V. n. V. 1,9 Mrd. € ABS / NBS Karlsruhe - Offenburg - Freiburg - Basel l. V. l. V. l. V. 15,7 Mrd. € Knoten Frankfurt, Hamburg, Köln, Mannheim, München - n. V. n. V. 10,0 Mrd. € Blau: Laufendes / fest disponiertes Vorhaben (l. V.) des vordringlichen Bedarfs Grau: Neues Vorhaben (n. V.) des vordringlichen Bedarfs ABS = Ausbaustrecke NBS = Neubaustrecke Tabelle 1: Historie ausgewählter Großvorhaben des Bundes mit besonderer Relevanz für den Deutschlandtakt (VIA) Bedarfsplan-Vorhaben BVWP PFB FINVE BB VIBN ABS Hamburg - Büchen - Berlin (2. Ausbaustufe) 1992 n. b. 2002 2002 2004 ABS / NBS Nürnberg - Erfurt 1992 1995 1997 1997 2025 ABS / NBS Frankfurt - Mannheim (- Karlsruhe) 1992 offen ABS / NBS Hamburg - Hannover 1992 offen ABS / NBS Hanau - Würzburg / Fulda - Erfurt 1992 offen ABS / NBS Hannover - Bielefeld 2003 offen ABS / NBS Karlsruhe - Offenburg - Freiburg - Basel 1980 1987 1987 1987 2035 ABS Karlsruhe - Stuttgart - Nürnberg - Leipzig / Dresden 1992 1997 1997 n. b. 2032 ABS / NBS Nürnberg - Ingolstadt - München 1985 1994 1996 1997 2006 ABS / NBS Stuttgart - Ulm (- Augsburg) 1992 1999 2009 2010 2022 Knoten Berlin, Dresden, Erfurt, Halle, Leipzig, Magdeburg 1992 1995 1997 1998 2025 BVWP = Erstmalige Aufnahme in den BVWP FINVE = Abschluss der Finanzierungsvereinbarung für das Gesamtvorhaben PFB = Planfeststellungsbeschluss für den ersten wesentlichen Bauabschnitt BB = Baubeginn wesentlicher Planfeststellungsabschnitte VIBN = Vollständige Inbetriebnahme wesentlicher Planfeststellungsabschnitte n. b. = nicht bekannt Tabelle 2: Umsetzungszeiträume ausgewählter laufender & fest disponierter Großvorhaben des Bundes (VIA nach [7]) Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 26 INFRASTRUKTUR Wissenschaft Im aktuellen Investitionsrahmenplan (IRP), welcher die beabsichtigten Investitionen der Bundesregierung in die Bundesverkehrswege im Zeitraum 2019 bis 2023 und darüber hinaus darstellt, wurde der Mittelbedarf für die Ausfinanzierung vordringlicher Vorhaben des Bedarfsplans Schiene auf ca. 53 Mrd. EUR beziffert. Die Summe setzt sich aus laufenden Vorhaben (ca. 8,2 Mrd. EUR), neuen fest disponierten Vorhaben (ca. 12,3 Mrd. EUR) sowie weiteren vordringlichen Vorhaben (ca. 32,7 Mrd. EUR) zusammen [9]. Die Kalkulation liegt somit über dem kalkulierten Bedarf zum Zeitpunkt der BVWP-Aufstellung im Jahr 2015 (ca. 46 Mrd. EUR). Zum damaligen Zeitpunkt wurden in der Kategorie weitere Vorhaben deutlich geringere Investitionen prognostiziert (ca. 19,7 Mrd. EUR) [10] (Tabelle 3). Der zwischenzeitlich eingetretene Mehrbedarf führt selbst unter Vernachlässigung von Baupreissteigerungen dazu, dass eine Abarbeitung des geltenden Bedarfsplans Schiene frühestens Mitte der 2040er Jahre erreicht wäre. Zu berücksichtigen ist, dass im selben Zeitraum kein Investitionsspielraum für zusätzliche Maßnahmen oder Maßnahmen des sonstigen Bedarfs mit geringerem Nutzen-Kosten-Verhältnis bestünde. Die strukturelle Unterfinanzierung der im aktuellen Bedarfsplan Schiene aufgelisteten Projekte wurde in der Debatte zum Bundeshaushalt 2023 zu Recht aufgegriffen und auf mindestens 20 Mrd. EUR beziffert. Zugleich wurden erhebliche Preissteigerungen für laufende und fest disponierte Vorhaben in Aussicht gestellt [11]. Demnach verschärft sich das Missverhältnis zwischen verfügbaren und erforderlichen Investitionsmitteln zur Bewältigung des Bedarfsplans Schiene weiter. Eine weitere Steigerung der Investitionsmittel des Bundes erscheint indessen fraglich. Vielmehr ist aus Regierungskreisen zu hören, dass eine Reduktion des BVWP-Projektvolumens, verbunden mit einer endgültigen oder vorläufigen Streichung besonders kostenintensiver Vorhaben nicht auszuschließen ist [12]. Lang andauernde Restarbeiten in laufenden Bedarfsplan-Vorhaben verursachen weiter jährliche Kosten in oft zweibis dreistelliger Millionenhöhe, ohne dass eine endgültige Fertigstellung abzusehen ist. Die Auswertung der Verkehrsinvestitionsberichte der Bundesregierung im Zeitraum 2010 [13] bis 2020 [7] lässt zudem erkennen, dass die prognostizierten Gesamtkosten laufender Vorhaben innerhalb weniger Jahre mehrfach und teilweise sprunghaft angehoben wurden. Die Steigerungsrate verausgabter Mittel hält dem Anstieg prognostizierter Gesamtkosten nicht Schritt, sodass auch aufgrund von Kostensteigerungen von einer Verlängerung laufender Bautätigkeiten auszugehen ist. Dies trifft zum Beispiel auf Kategorisierung von Neu- und Ausbauvorhaben des Bedarfsplans Schiene nach Projektständen Kalkulierter Finanzbedarf zur Ausfinanzierung des Bedarfsplans Schiene [Mrd. EUR] BVWP 2030 [10] mit Stand 2015 IRP 2020 [9] mit Stand 2019 Laufende vordringliche Vorhaben 8,4 8,2 Neue, fest disponierte, vordringliche Vorhaben 18,3 12,3 Weitere vordringliche Vorhaben in frühen Planungsstadien 19,7 32,7 Summe 46,4 53,2 Tabelle 3: Prognose des Finanzbedarfs für die Umsetzung des Bedarfsplans Schiene (VIA nach BVWP 2030 und IRP 2020) 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 Milliarden Euro Steigerung der Investitionen des Bundes in den Neu- und Ausbau der Bundesschienenwege Eingeplante Haushaltsmittel Verausgabte Haushaltsmittel Bild 1: Entwicklung der Investitionen des Bundes für den Neu- und Ausbau der Bundesschienenwege (VIA nach [8]) 0,0 1,0 2,0 3,0 4,0 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Milliarden Euro ABS Karlsruhe - Stuttgart - Nürnberg - Leipzig / Dresden Kumulierte Ausgaben Prognostizierte Gesamtkosten 3,2 3,4 3,6 3,8 4,0 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Milliarden Euro ABS / NBS Nürnberg - Ingolstadt - München Kumulierte Ausgaben Prognostizierte Gesamtkosten Bild 2: Verhältnis zwischen Ausgaben und prognostizierten Gesamtkosten von Bedarfsplan-Vorhaben (Beispiel 1) 0,0 4,0 8,0 12,0 16,0 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Milliarden Euro ABS / NBS Karlsruhe - Offenburg - Freiburg - Basel Kumulierte Ausgaben Prognostizierte Gesamtkosten 0,0 4,0 8,0 12,0 16,0 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Milliarden Euro ABS / NBS Nürnberg - Erfurt Kumulierte Ausgaben Prognostizierte Gesamtkosten Bild 3: Verhältnis zwischen Ausgaben und prognostizierten Gesamtkosten von Bedarfsplan-Vorhaben (Beispiel 2) Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 27 Wissenschaft INFRASTRUKTUR die Vorhaben ABS Karlsruhe - Stuttgart - Nürnberg - Leipzig / Dresden, ABS / NBS Nürnberg - Ingolstadt - München (Bild 2), ABS / NBS Nürnberg - Erfurt und insbesondere ABS / NBS Karlsruhe - Offenburg - Freiburg - Basel (Bild 3) zu. Vor dem Hintergrund aufgezeigter Kosten und abzusehender Kostensteigerungen erscheint eine Diskussion alternativer Finanzierungsmöglichkeiten des Neu- und Ausbaus der Bundesschienenwege unabdinglich. Der von der Beschleunigungskommission Schiene eingebrachte Vorschlag eines Fonds-Modells propagiert ein Umverteilungsmodell von Wegeentgelten aus dem Straßensektor zugunsten der Schiene [14]. Nach dem Scheitern der von der Vorgängerregierung vorangetriebenen PKW-Maut beschränken sich Wegeentgelte bislang auf den Schwerverkehr. Die Einnahmen fließen in den Ausbau und den Betrieb des Bundesfernstraßennetzes und werden hierfür auch längerfristig benötigt. Im März 2023 kündigte die Bundesregierung an, Einnahmen eines ab 2024 geplanten CO 2 -Zuschlages auf Wegeentgelte des Schwerverkehrs anteilig für die Finanzierung von Investitionen des Schienenverkehrs zu nutzen [15]. Die Effektivität dieses Finanzierungsinstruments wird von der Höhe und Planbarkeit zusätzlicher Mauteinnahmen abhängen. Eine Alternative zu dem mautbasierten Umverteilungsmodell könnte eine zweckgebundene Verwendung von Mineralöl- und Kraftfahrzeugsteuereinnahmen für Schienenverkehrsprojekte darstellen. Dem entgegen spricht, dass auch diese Einnahmen für andere Etats fest eingeplant und kaum ersetzbar sind. Ein effektives Umverteilungsmodell steht folglich vor erheblichen Hürden. Eine Neuverschuldung des Bundes zur Finanzierung höherer Investitionen in den Neu- und Ausbau der Bundesschienenwege stand in den vergangenen Legislaturperioden außer Frage, doch könnte dies die einzige Möglichkeit sein, die erforderliche Schieneninfrastruktur in ambitionierteren Zeitspannen umzusetzen. Bewältigung multipler Kapazitätsengpässe Das deutsche Schienennetz verzeichnet einen stetigen Anstieg der Betriebsleistung, von einem kurzfristigen Einbruch im Corona-Jahr 2020 abgesehen. Im Jahr 2021 wurden im Schienenpersonennahverkehr (SPNV), Schienenpersonenfernverkehr (SPFV) und Schienengüterverkehr (SGV) insgesamt etwa 1,13 Mrd. Trassenkilometer (Trkm) abgewickelt, dies entspricht einer Steigerung um 3,8 % binnen fünf Jahren. Der SPNV trägt am meisten zu der gesamthaften Betriebsleistung bei (721 Mio. Trkm; 63,6 %), gefolgt vom SGV (263 Mio. Trkm; 23,2 %) und dem SPFV (150 Mio. Trkm; 13,2 %) (Bild 4) [16]. Der Anstieg der Verkehre hat auf zahlreichen Netzabschnitten zu einer Verschärfung bestehender oder zu neuen Engpasserscheinungen geführt. Zu berücksichtigen ist, dass zusätzliche Verkehre insbesondere die bereits hochbelasteten Abschnitte tangieren. Die Streckenbelastung durch Personen- und / oder Güterverkehre ist insbesondere entlang der nachfolgend gelisteten Relationen überdurchschnittlich hoch (Tabelle 4), wie anhand von Querschnittsbelastungen mit durchschnittlich 150 bis über 300 Zügen pro Tag erkennbar wird. Bei den Zugzahlen handelt es sich um gemittelte Zähldaten des Eisenbahn-Bundesamtes (EBA) für das Jahr 2021 [17]. Spitzenreiter der Messkampagne ist die Messstelle Bad Hersfeld mit 342 Zügen in 24 Stunden. Hohe Zugdichten führen auf einem Großteil der beispielhaft aufgeführten Relationen zumindest abschnittsweise zu kapazitätsbedingten Engpässen. Die sehr hohen Auslastungen haben dazu geführt, dass einzelne Abschnitte entlang der Relationen Mannheim - Basel, Hannover - Kassel - Fulda und Frankfurt - Würzburg - Nürnberg - Passau gemäß Eisenbahnregulierungsrecht als überlastete Schienenwege deklariert werden [18], sodass Gegenmaßnahmen dort besonders dringlich sind. Zwar werden nach Darstellung der Bundesnetzagentur (BNetzA) Trassenanfragen der Eisenbahnverkehrs- Achse Hochbelastete Schienenverkehrsrelation Messstelle Mittlere Zugzahl in 2021 (in 24 h, beide Richtungen) SPV SGV Gesamt Nord-Süd Köln - Rhein-Main (linksrheinisch) Andernach 129 86 215 Köln - Rhein-Main (rechtsrheinisch) Lahnstein 46 103 149 Mannheim - Basel (Oberrheintal) Emmendingen 107 153 260 Hamburg - Hannover Celle 74 99 173 Hannover - Kassel - Fulda Bad Hersfeld 156 186 342 West-Ost Hamm - Hannover - Berlin Stadthagen 174 124 271 Hannover - Magdeburg Eisleben 74 105 179 Frankfurt - Würzburg - Nürnberg - Passau Karlstadt 94 195 289 Ulm - Augsburg - München - Rosenheim Rosenheim 136 92 228 Tabelle 4: Auswahl hochbelasteter Verkehrsachsen im deutschen Schienennetz (VIA nach [17]) 692 696 708 705 721 141 145 148 143 150 259 262 253 237 263 0 200 400 600 800 1000 1200 2017 2018 2019 2020 2021 Millionen Trkm Betriebsleistung des Schienenverkehrs nach Zugarten Betriebsleistung SPNV Betriebsleistung SPFV Betriebsleistung SGV COVID Bild 4: Betriebsleistung des Schienenverkehrs (VIA nach BNetzA [16], div. Jahre) Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 28 INFRASTRUKTUR Wissenschaft unternehmen (EVU) auf Seiten der DB Netz AG in einem überschaubaren Ausmaß endgültig abgelehnt [19], doch lässt das knappe Trassenangebot für zahlreiche EVU kaum mehr Wahlmöglichkeiten in Bezug auf Abfahrtszeiten oder das Routing zu. Insbesondere im SPFV, der in Deutschland weitgehend ohne direkte Subventionen erbracht wird, ist seit einigen Jahren ein juristisches Ringen um attraktive Zeiten und Relationen festzustellen (vgl. z. B. [20]). Für Wettbewerber der DB Fernverkehr AG ist die Reservierung attraktiver Einzeltrassen von essenzieller wirtschaftlicher Bedeutung, da die Gewinn- und Verlustrechnung auf nur wenigen Zugangeboten aufbaut und bereits durch geringfügige Fahrgastrückgänge stark negativ beeinflusst wird. Eine Erweiterung des Trassenangebots ist in hohem Maße an den zuvor erläuterten Neu- und Ausbau des Streckennetzes sowie der Knoten geknüpft. Die größtenteils weit in der Zukunft liegenden Inbetriebnahmen von Bauvorhaben werden den Konkurrenzkampf um attraktive Fahrplanslots noch verschärfen. Auch die fortschreitende Aufrüstung des Streckennetzes mit dem Zugsicherungssystem ETCS (European Train Control System) und weitere technologische Innovationen (z. B. die Erhöhung der Bremsleistung bzw. Geschwindigkeit von Güterzügen) werden gravierende Kapazitätsengpässe nicht aufheben, sondern bestenfalls mildern. Die anhaltende Überlastung von Streckenabschnitten beschränkt sowohl die Ausweitung des Zugangebotes als auch mögliche Markteintritts- und Expansionspläne nicht-bundeseigener EVU, sodass die in anderen europäischen Schienennetzen zu beobachtenden Wettbewerbseffekte - etwa sinkende mittlere Ticketpreise im SPFV (vgl. z. B. [21]) - in Deutschland eine geringere Rolle spielen. Problematische Betriebsqualität Der Eisenbahnbetrieb in Deutschland ist in einem stark zunehmenden Maße von Verspätungen geprägt. Der Anteil nicht pünktlicher Züge nach EU-Definition [22] (Verspätung ≥ 5 min im Personen- und ≥ 15 min im Güterverkehr) erreichte im ersten Halbjahr 2022 einen Negativrekord (SPNV: 12,3 %; SPFV: 33,6 %; SGV: 41,9 %) (Bild 5) [16]. Im SPNV ist somit jede zehnte Fahrt nicht pünktlich, im SPFV jede dritte Fahrt. Die massive Zunahme der Verspätungen hat erhebliche Auswirkungen auf die Gesamtreisezeit der Fahrgäste, da Anschlüsse vielfach nicht gehalten werden können. Die Häufung von Verspätungsereignissen lässt sich auf zahlreiche Ursachen zurückführen, wenngleich eine wissenschaftlich objektivierte Aufschlüsselung dieser Ursachen fehlt. Das Eisenbahninfrastrukturunternehmen (EIU) DB Netz AG zeigt sich lediglich für ca. 9 % der im Jahr 2021 codierten Verspätungsminuten (cVmin) aufgrund von Bauaktivitäten und technischen Störungen verantwortlich. Rund 57 % der Verspätungsminuten werden EVU angelastet, z. B. aufgrund verspäteter Zug- oder Personalbereitstellungen. 34 % der Verspätungsminuten werden auf übrige Umstände (u. a. Extremwetterereignisse, Folgeverspätungen) zurückgeführt. Das EIU räumt einen starken Anstieg netzbedingter Störungen ein und begründet dies mit der Ausweitung von Bautätigkeiten und hohen Ausfallraten technisch veralteter Infrastruktur [23]. Auf der Ebene des DB-Gesamtkonzerns wird die Zunahme von Verspätungen in der ersten Jahreshälfte 2022 noch stärker mit einer hohen Bautätigkeit, gepaart mit einer hohen Netzauslastung, Überalterung und Störanfälligkeit der Netzinfrastruktur begründet. Als zeitlich begrenzte Ursachen wurden u. a. Unwetterereignisse sowie die dreimonatige Geltungsdauer des 9-Euro-Tickets und der hieraus resultierende Fahrgastzuwachs genannt [24]. Aufschlussreich ist zudem die Sichtweise der Aufgabenträger des SPNV auf regionale Verspätungssituationen. Nach landesweiten Erhebungen in Nordrhein-Westfalen (NRW) für das Jahr 2021 galten 16,4 % der Zugfahrten des SPNV in NRW als nicht pünktlich, wobei in NRW eine besonders strenge Pünktlichkeitsdefinition (Verspätung ≥ 4 min) gilt. Zudem wurde ein Rekord bei der Anzahl ausgefallener Zugkilometer (ca. 11,2 % der 116 Mio. Zugkilometer) verbucht. Die verringerte Betriebsqualität wurde unter anderem mit Verzögerungen bei der Durchfahrt hochbelasteter Knoten (z. B. Hamm, Köln, Münster), einer Zunahme betrieblicher Überholungen durch den SPFV und Trassenkonflikten aufgrund von baustellenbedingten Einschränkungen der Schienennetzkapazität begründet. Außerdem führte eine verstärkte Schadanfälligkeit älterer Triebfahrzeuggenerationen zu Verspätungen. Die Häufung von Zugausfällen wurde insbesondere auf Personalmangel und umfangreiche Arbeitsstreiks zurückgeführt [25]. Werden die Erkenntnisse der EIU, EVU und SPNV- Aufgabenträger in Bezug auf Verspätungsursachen und -häufigkeiten zusammengenommen, zeigt sich ein wenig optimistisches Bild. Bei den baustellenbedingten Verspätungen und Zugausfällen ist keine Trendumkehr abzusehen, da Bauaktivitäten der DB Netz AG kurz- und mittelfristig intensiviert werden. Hinzu kommen die generell zu geringen Netzkapazitäten bzw. hohe Zugzahlen - letztere könnten bei einer positiven Fahrgast- und Konjunkturentwicklung weiter ansteigen. Auch hier ist eine möglichst rasche Bewältigung von Engpässen durch infrastrukturelle Erneuerung sowie Neu- und Ausbauvorhaben geboten. Den weitverbreiteten alters- oder verschleißbedingten Ausfallerscheinungen von Rollmaterial und Infrastrukturkomponenten ist durch verstärkte Instandhaltung und frühzeitigeren Ersatz zu begegnen. Steigende staatliche Subventionen bei geringer Rentabilität von Verkehrsdiensten Die in Deutschland tätigen EVU agieren in einem Marktumfeld, das seit Jahren von Kostensteigerungen, verhältnismäßig geringen Margen und wachsenden unter- 9,7 10,9 10,5 8,6 10,8 12,3 27,4 27,8 27,7 22,6 28,2 33,6 36,6 38,2 37,2 33,8 39,2 41,9 0 10 20 30 40 50 2017 2018 2019 2020 2021 2022* Anteil in Prozent Anteil nicht pünktlicher Züge nach Zugarten Anteil nicht pünktlicher Züge im SPNV Anteil nicht pünktlicher Züge im SPFV Anteil nicht pünktlicher Züge im SGV COVID * Erstes Halbjahr 2022 Bild 5: Anteil nicht pünktlicher Zugfahrten (VIA nach BNetzA [16], div. Jahre) Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 29 Wissenschaft INFRASTRUKTUR nehmerischen Risiken gekennzeichnet ist. Der im Zuge der COVID 19-Pandemie historisch einmalige Nachfragerückgang im Personenverkehr blieb nur dank finanzieller Unterstützung des Staates ohne gravierende existenzielle Folgen für EVU. Die für EVU potenziell existenzgefährdende Pandemiesituation wurde durch die geänderte geopolitische Situation nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs abgelöst. Infolgedessen erhöhten sich die Kosten für den Bahnstrom, Dieseltreibstoff und weitere Energieträger in einem beispiellosen Ausmaß. Die zwischenzeitlich eingetretene Inflation wirkt sich gegenwärtig oder in naher Zukunft auf zahlreiche weitere Kostenbestandteile aus. Ein bedeutender Kostentreiber ergibt sich im Bereich Personal aufgrund neuer Tarifabschlüsse, auf Basis derer ein Inflationsausgleich für Arbeitnehmer angestrebt wird. Vor dem Hintergrund der beschriebenen Gesamtsituation sind die zwischenzeitlichen Eingriffe des Staates in den Verkehrsmarkt eminent wichtig. Ein wesentlicher Eingriff erfolgte ab 2020 im Zuge der Trassenpreisförderung des SPFV und SGV. Nach Angaben der BNetzA wurden die mittleren Trassenpreise im Jahr 2020 im SPFV von 7,00 auf 0,75 EUR je km, im SGV von 2,91 auf 0,31-EUR je km gesenkt. Im Jahr 2021 wurde eine weitere Absenkung auf 0,07 bzw. 0,15 EUR je km beschlossen, die damit einer Abschaffung gleichkam. Im Jahr 2022 wurde die Förderung stark reduziert, sodass im ersten Halbjahr 2022 im SPFV 4,31 EUR je km und im SGV 1,66- EUR je km an Trassenentgelten bezahlt wurden (Bild 6). Mit der Trassenpreisförderung wurde besonders im SPFV ein langanhaltender Trend zu immer höheren Trassenentgelten durchbrochen. Der Anteil der Trassenentgelte an den Gesamtkosten von SPFV-EVU wurde von ca. 25 % (2019) auf 11 % (2020) bzw. ca. 6 % (2021) abgemildert. Im SGV reduzierte sich dieser Anteil von 10 bis 15 % auf ca. 6 % (2020) bzw. 4 % (2021) [16]. Im Zuge weiterer Markteingriffe des Staates konnte die Preisentwicklung für Fahrgäste des SPNV und SPFV sowie die verladende Wirtschaft im SGV vorerst gedämpft werden. Neben der Trassenpreisförderung im SPFV und SGV spiegeln sich die Reduzierung des Steuersatzes auf Tickets des SPFV von 19,0 auf 7,0 % sowie die dreimonatige Einführung des 9-Euro-Tickets im SPNV in der Entwicklung des Verbraucherpreisindex für Eisenbahnpersonenverkehr ab 2020 wieder (Bild 7) [26]. Die ab Mai 2023 erfolgende dauerhafte Einführung des 49-Euro-Tickets im SPNV könnte zu einer Abschwächung des Verbraucherpreisindexes für Eisenbahnpersonenverkehr führen, sollte jedoch nicht über die angespannte Kostensituation auf Seiten der EVU hinwegtäuschen. Die Rentabilität der Personen- und Güterbeförderung deutscher EVU wird seit knapp zehn Jahren durch die BNetzA als Quotient aus Ergebnis und Umsatz veröffentlicht. Die Angaben richten sich nach den Angaben der EVU gegenüber der Behörde und werden im Fall des SPNV und SGV zudem getrennt für nicht-bundeseigene EVU (sog. NE-Bahnen ohne Zugehörigkeit zur Deutschen Bahn AG) ermittelt. Im SPNV zeigt sich vor Beginn der COVID 19-Pandemie im Zeitraum 2014 bis 2019 eine stark abnehmende Quote (7,5 % in 2014; 3,2 % in 2019) [28, 16]. Die Entwicklung korreliert mit einer zunehmenden Dominanz der NE-Bahnen innerhalb des SPNV-Marktes, verknüpft mit einer dort vorherrschenden negativen Umsatzrentabilität (im Mittel −1,0 % 2014- 2019). Hingegen ergibt sich im SPFV ein gegenläufiger Trend. Die Geschäftstätigkeit des SPFV-EVU DB Fernverkehr AG führte dazu, dass sich die Umsatzrentabilität im SPFV-Markt beinahe verdoppeln konnte (4,5 % in 2014; 8,5 % in 2019). Im SGV zeigt sich eine Verschärfung negativer Quoten (−1,5 % in 2014; −8,8 % in 2019) (Bild 8). Bei ausschließlicher Betrachtung der im SGV tätigen NE-Bahnen ergeben sich durchweg positive, wenngleich niedrige Quoten (im Mittel 3,0 % 2014-2019). Während NE-Bahnen im SGV seit Jahren überwiegend profitabel 4,62 4,72 4,84 4,91 5,06 5,07 5,13 5,23 5,33 5,89 6,08 6,33 6,51 6,98 7,00 0,75 0,07 4,31 2,83 2,89 2,97 3,03 2,91 2,91 0,31 1,66 0 1 2 3 4 5 6 7 8 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020* 2021* 2022* Euro / km Mittlere Trassenpreise nach Zugarten SPNV SPFV SGV * nach Abzug der Trassenpreisförderung ab 2020 Trassenpreisförderung ab 2020 Bild 6: Mittlere Trassenpreise des Schienenverkehrs (VIA nach BNetzA [16], div. Jahre) 97,0 100,0 101,7 105,7 110,2 113,9 115,9 116,4 106,1 99,6 99,0 101,5 103,3 103,5 88,1 86,5 84,8 100,9 102,4 104,1 105,8 106,1 80 85 90 95 100 105 110 115 120 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 Index (2015 = 100) Preisindizes im Schienenverkehr (Index: 2015 = 100) SPNV* SPFV* SGV** * Verbraucherpreisindex ** Erzeugerpreisindex 9-Euro-Ticket Juni-Sept. 2022 Trassenpreisförderung, Umsatzsteuersenkung Bild 7: Verbrauchersowie Erzeugerpreisentwicklung im Schienenverkehr 2014- 2022 (VIA nach [26, 27]) 7,5 6,5 5,7 5,2 5,3 3,2 -9,3 -6,2 4,5 4,4 4,3 8,6 8,6 8,5 -4,4 -1,5 -3,8 -3,3 -5,0 -5,3 -8,8 -17,3 -5,1 -30 -25 -20 -15 -10 -5 0 5 10 15 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 Verhältnis in % Umsatzrentabilität der EVU nach Zugarten SPNV SPFV SGV Ausreißer SPFV: -62,8 % COVID Bild 8: Entwicklung der Umsatzrentabilität deutscher EVU (VIA nach [28, 16], div. Jahre) Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 30 INFRASTRUKTUR Wissenschaft sind, trifft das Gegenteil auf einige NE-Bahnen des SPNV zu [16]. Eine Steigerung der Regionalisierungsmittel hat das Potenzial, zu einer verbesserten finanziellen Ausstattung neu abgeschlossener Verkehrsfinanzierungsverträge beizutragen und weitere Insolvenzen im SPNV zu verhindern. Die anhaltend geringe oder negative Umsatzrentabilität von EVU bleibt nicht ohne Folgen für den gesamten Eisenbahnsektor. Besonders eindrücklich wird dies anhand der Unternehmensinsolvenz des SPNV-EVU Abellio, welches bereits vor dem Ausbruch der COVID 19-Pandemie in finanzielle Schieflage geriet [29]. Das marktführende SGV-EVU DB Cargo kommt trotz weitreichender Umstrukturierungen bislang nicht aus einer defizitären Geschäftssituation heraus. Bedeutsame Kostenfaktoren sind die notwendigen Investitionen in die Verjüngung des Fuhrparks und fixkostenintensive Zugbildungsprozesse im wenig rentablen Einzelwagenverkehr [30, 31]. Doch auch im Fall des bis in das Jahr 2019 profitablen SPFV-EVU DB Fernverkehr ist eine Rückkehr zu Geschäftsergebnissen in der Größenordnung 2017 bis 2019 nicht gesichert. Die Überalterung der ICE- und IC-Fahrzeugflotte erfordert in zunehmendem Maße Investitionen und damit stark ansteigende Abschreibungen, die sich ergebnismindernd auswirken [32, 33]. Befürworter der Eigenwirtschaftlichkeit des SPFV sollten im Hinterkopf behalten, dass Investitionen in das stark von Preissteigerungen betroffene, hochgeschwindigkeitsfähige Zugmaterial aus der laufenden Geschäftstätigkeit des SPFV-EVU zu leisten sind. Trotz dringender Investitionsbedarfe könnte Rollmaterial infolgedessen zeitlich gestreckt bzw. in geringer Stückzahl beschafft werden. Ein solcher Umstand wirkt sich kurz- und mittelfristig auf die Verfügbarkeit des Fahrzeugparks und somit auch auf die Betriebsqualität aus. Zusammenfassende Erkenntnisse und Empfehlungen Die aufgezeigten Problemfelder - Verzögerungen und Finanzierungsdefizit beim Neu- und Ausbau der Bundesschienenwege, multiple Kapazitätsengpässe, eine problematische Betriebsqualität sowie steigende staatliche Subventionen bei einer abnehmenden bzw. geringen Rentabilität vieler Verkehrsdienste - lassen einen anhaltend hohen Bedarf an verkehrspolitischer Steuerung erkennen. Die beispielhaft thematisierten Maßnahmen - Erhöhung der Haushaltsmittel für Neu- und Ausbaumaßnahmen der Bundesschienenwege, Umsatzsteuersenkung im SPFV, Trassenpreisförderung, Einführung des 9-Eurobzw. 49-Euro-Tickets, Erhöhung der Regionalisierungsmittel - reichen zur Bewältigung der Problemfelder mittel- und langfristig nicht aus. Dennoch zeigen sich die Maßnahmen der letzten drei Jahre kurzfristig als enorm wirksam. Mit der Erhöhung der für den Bedarfsplan Schiene zur Verfügung gestellten Bundesmittel könnten zumindest laufende Vorhaben schneller zur vollständigen Inbetriebnahme gebracht werden. Die Umsatzsteuersenkung im SPFV und Trassenpreisförderung im SPFV und SGV sorgen dafür, dass Kostensteigerungen in den Bereichen Energie und Personal partiell kompensiert bzw. nicht vollständig an Endkunden weitergereicht werden müssen. Zugleich wird im SPNV eine deutschlandweite Fixierung des Fahrpreisniveaus für Vielfahrer auf monatlich 49 EUR gewährleistet, welche zu steigenden Fahrgastzahlen beitragen wird. Dem Verkehrsmengenwachstum sind dabei enge infrastrukturelle Grenzen gesetzt. Es zeichnet sich ab, dass die für den Deutschlandtakt notwendigen Infrastrukturmaßnahmen nicht ausreichend gegenfinanziert sind bzw. mögliche Realisierungen trotz gestiegener Budgets zu lange Umsetzungszeiträume aufweisen. Eine Erhöhung der Finanzmittel ist damit unausweichlich, wenngleich verkehrspolitisch keinesfalls gesichert. Eine Absenkung der Trassenpreise ist mit Blick auf die Kostenstruktur und Umsatzrentabilität von EVU auch langfristig geboten. Die Tatsache, dass der Erfolg des Systems Bahn von der Rentabilität der Verkehrsdienstleistungen abhängt, sollte zukünftig stärker Beachtung finden. Bestehende Betriebsprozesse von EVU lassen mit Sicherheit zahlreiche, jedoch mit erheblichen Investitionen verbundene Effizienzsteigerungen zu. Ein wesentlicher Fokus politischer Maßnahmen ist auf die Erleichterung bzw. Subventionierung effizienzsteigernder Investitionen zu legen. Wünschenswert wären sämtliche Maßnahmen, die zu einer Begrenzung der Preisspirale z. B. bei der Beschaffung von Schienenneufahrzeugen, dem Bezug von Bahnstrom oder den Infrastrukturnutzungsentgelten führen. Doch sind auch technische Innovationen, die zu Zeit- und Ressourceneinsparungen bei Produktionsprozessen (z. B. automatisierte Zugbildung im SGV, verkürzte Wendezeiten im SPNV und SPFV, energiesparende Fahrweise) sowie administrative Vereinfachungen (z. B. Vereinfachung betrieblicher Regelwerke, Verkürzung des zeitlichen Vorlaufs bei der Planung und Anmeldung von Trassen) noch stärker als in der Vergangenheit zu fördern. Die grundlegende Voraussetzung hierfür bleibt ein europaweit koordiniertes, von der gesamten Branche getragenes Vorgehen. ■ LITERATUR [1] Bund (2022): Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG. [2] Bund (2016): Drittes Gesetz zur Änderung des Bundesschienenwegeausbaugesetzes - BSWAG. [3] CDU ; CSU ; SPD (2013): Deutschlands Zukunft gestalten - Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. 18. Legislaturperiode, Berlin. [4] iGES ; IVE (2015): Machbarkeitsstudie zur Prüfung eines Deutschland-Taktes im Schienenverkehr. [5] Bund (1993): Gesetz über den Ausbau der Schienenwege des Bundes - BSWAG. [6] Bund (2003): Erstes Gesetz zur Änderung des Bundesschienenwegeausbaugesetzes - BSWAG. [7] BMDV (2022): Verkehrsinvestitionsbericht für das Berichtsjahr 2020, Berlin. [8] BMF: Bundeshaushalt interaktiv, 2012-2023, www.bundeshaushalt.de/ DE/ Bundeshaushalt-digital/ bundeshaushalt-digital.html (Zugriff am: 01.02.2023). [9] BMVI (2020): Investitionsrahmenplan 2019-2023 für die Verkehrsinfrastruktur des Bundes (IRP), Berlin. [10] BMVI (2016): Bundesverkehrswegeplan 2030, Berlin. [11] Deutscher Bundestag (2022): Plenarprotokoll 20/ 49 - 49. Sitzung des Deutschen Bundestages am 6. September 2022, Berlin. [12] Deutscher Bundestag (2022): Plenarprotokoll 20/ 68 - 68. Sitzung des Deutschen Bundestages am 22. November 2022, Berlin. [13] BMVBS (2012): Verkehrsinvestitionsbericht für das Berichtsjahr 2010, Berlin. [14] BMDV (2022): Beschleunigungskommission Schiene - Abschlussbericht, Bonn. [15] Bundesregierung (2023): Modernisierungspaket für Klimaschutz und Planungsbeschleunigung, Berlin. [16] BNetzA (2023): Marktuntersuchung Eisenbahnen 2022, Bonn. 2. Fachkongress - Digitale Transformation der Verkehrsinfrastruktur Planung, Bau, Betrieb, Unterhalt, Rückbau von Brücken, Tunneln, Schienen, Straßen, Wasserwegen Ostfildern bei Stuttgart 20. + 21. Juni 2023 Weitere Informationen und Anmeldung unter www.tae.de/ 50051 Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 31 Wissenschaft INFRASTRUKTUR [17] Isert, N.; Lutzenberger, S. (2022): Lärm-Monitoring - Schallmessungen im Schienenverkehr. Jahresbericht 2021, Bonn. [18] DB Netz AG: Überlastete Schienenwege, 2022, https: / / fahrweg.dbnetze.com/ resource/ blob/ 4816508/ d0595758788002eaf1b08b6bffd018aa/ Sachstand-UeLS-Strecken-data.pdf (Zugriff am: 01.02.2023). [19] BNetzA (2021): Tätigkeitsbericht Eisenbahnen 2019/ 2020, Bonn. [20] Wachinger, L.; Scholz, D. (2020): OVG Münster: DB Netz AG ist zur Zuweisung von Teillaufwegen verpflichtet. [21] Beria, P.; Tolentino, S.; Bertolin, A., et al. (2019): Long-distance rail prices in a competitive market. Evidence from head-on competition in Italy. In: Journal of Rail Transport Planning & Management 12, S. 100144. [22] EU (2015): Durchführungsverordnung (EU) 2015/ 1100 der Kommission vom 7. Juli 2015 über die Berichtspflichten der Mitgliedstaaten im Rahmen der Überwachung des Schienenverkehrsmarkts. [23] DB Netz AG (2022): Infrastrukturzustands- und -entwicklungsbericht 2021 - Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung, Berlin. [24] DB AG (2023): Integrierter Zwischenbericht Januar - Juni 2022, Berlin. [25] Breitkopf, S.-K.; Westedt, C.; Schulte, K. (2022): Qualitätsbericht SPNV Nordrhein-Westfalen 2021, Bielefeld. [26] BMDV (2022): Verkehr in Zahlen 2022/ 2023, Berlin. [27] Destatis: Erzeugerpreisindex für Dienstleistungen nach Wirtschaftszweigen, 2023. [28] BNetzA (2017): Marktuntersuchung Eisenbahnen 2017, Bonn. [29] Berschin, F.; Glienicke, J. (2022): Instrumente für Vertragskrisen. In: Der Nahverkehr, H. 9, S. 58-65. [30] DB AG (2020): Integrierter Bericht 2019, Berlin. [31] DB AG (2022): Integrierter Bericht 2021, Berlin. [32] DB Fernverkehr AG (2020): Geschäftsbericht 2019, Frankfurt. [33] DB Fernverkehr AG (2022): Geschäftsbericht 2021, Frankfurt. Fabian Stoll, M.Sc. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Verkehrswissenschaftliches Institut, RWTH Aachen stoll@via.rwth-aachen.de Bastian Kogel, Dr.-Ing. Oberingenieur, Verkehrswissenschaftliches Institut, RWTH Aachen kogel@via.rwth-aachen.de 2. Fachkongress - Digitale Transformation der Verkehrsinfrastruktur Planung, Bau, Betrieb, Unterhalt, Rückbau von Brücken, Tunneln, Schienen, Straßen, Wasserwegen Ostfildern bei Stuttgart 20. + 21. Juni 2023 Weitere Informationen und Anmeldung unter www.tae.de/ 50051
