eJournals Internationales Verkehrswesen 75/2

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/IV-2023-0037
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Mit dem Passagierschiff über den Atlantik

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Thomas N. Kirstein
In den 1970er Jahren verschwanden fast alle Passagierlinienschiffe von den Ozeanen. Heutige Erklärungsversuche für das Ende dieses Verkehrssystems erschöpfen sich meist in knappen Verweisen auf die schnelleren Flugzeuge. Doch der Blick zurück lohnt, nicht nur aus Nostalgie. Ist die Lage heute anders als vor 50 Jahren, könnte die Passagierlinienschifffahrt vielleicht sogar eine Renaissance erleben. Der folgende Beitrag skizziert den Niedergang der Passagierlinienschifffahrt am Beispiel des Nordatlantiks als bedeutendster Hochstraße des interkontinentalen Passagierverkehrs.
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Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 58 MOBILITÄT Schifffahrt Mit dem Passagierschiff über-den Atlantik Niedergang (und Zukunft? ) der Passagierlinienschifffahrt Transatlantik-Reisen, Nordatlantik-Route, Passagierschiff, Linienschiff In den 1970er Jahren verschwanden fast alle Passagierlinienschiffe von den Ozeanen. Heutige Erklärungsversuche für das Ende dieses Verkehrssystems erschöpfen sich meist in knappen Verweisen auf die schnelleren Flugzeuge. Doch der Blick zurück lohnt, nicht nur aus Nostalgie. Ist die Lage heute anders als vor 50 Jahren, könnte die Passagierlinienschifffahrt vielleicht sogar eine Renaissance erleben. Der folgende Beitrag skizziert den Niedergang der Passagierlinienschifffahrt am Beispiel des Nordatlantiks als bedeutendster Hochstraße des interkontinentalen Passagierverkehrs. Thomas N. Kirstein N ach dem Zweiten Weltkrieg konkurrierte das Passagierschiff erstmals mit dem Flugzeug. Trotzdem stiegen die Passagierzahlen stetig. Im Jahre 1957 erreichten sie mit über einer Million ihren Höhepunkt. Bis zu 80 Schiffe pendelten über den Ozean. Schnelldampfer schafften die Überfahrt in fünf bis sieben Tagen, je nach Abfahrtshafen in Europa. Langsame Schiffe brauchten bis zu fünf Tage mehr. In Amerika war New York der Haupthafen des Schiffsverkehrs. Die Propellermaschinen der Airlines schafften einen Nordatlantikflug in zwölf bis zwanzig Stunden, je nach Abflughafen in Europa, inklusive Tankstops und ggf. weiteren Zwischenstopps, um Unterwegsflughäfen zu bedienen. Trotzdem fuhr über die Hälfte der Reisenden per Schiff. Dafür sprach schon sein höherer Komfort. Die 1. Klasse glich einem schwimmenden Grand Hotel, die 2. Klasse ähnelte der 1., und die 3. oder „Touristenklasse“ bot soliden Komfort und etwas beengte, aber oft gemütliche Kabinen für zwei bis vier Personen. Allen Passagieren boten die Schiffe, nach Klassen getrennt, Bewegungsfreiheit und Geselligkeit, Aufenthalte an Deck mit Deckstühlen, Bordspielen, abendliche Musik- oder Tanzveranstaltungen und mindestens vier frisch gekochte Mahlzeiten täglich. Flugzeuge hingegen waren klein und beengt, denn die Leistungsgrenzen der Kolbenmotoren beschränkten ihre Größe. „Vom Komfort her war das Fliegen 4. Klasse, kein Vergleich mit einem Schiff“, erinnert sich ein Passagier der fünfziger Jahre. 1 Ein Sitz 1. Klasse war nur 53 Zentimeter breit. Der Sitzreihenabstand betrug rund einen Meter. Liegesitze und (Etagen-)Betten verlangten erhebliche Aufpreise. Auch kleine Salons oder Lounges, die einen zeitweiligen Platzwechsel erlaubten, und winzige, nach Damen und Herren getrennte Gemeinschaftswaschräume mit Waschbecken zur Morgen- oder Abendtoilette entsprachen kaum dem Komfort der Schiffe. In der- 1953 eingeführten Touristenklasse schrumpften die Sitzbreiten sogar auf 47 Zentimeter, und der Salon blieb der 1. Klasse vorbehalten. Für das Schiff sprach auch der günstigere Fahrpreis. Er lag rund 30 Prozent unter dem der vergleichbaren Flugklasse. Die Reedereien schützten diesen Wettbewerbsvorteil bewusst durch ihre Kartellabsprachen auf der Nordatlantischen Passagekonferenz. Nur in der 1. Klasse der großen Schnelldampfer kosteten sogar die günstigsten Kabinen fast so viel wie ein Flugticket. Trotzdem waren sie sehr gut gebucht. Der Komfort spielte demnach eine zentrale Rolle. 2 Einen Nachteil des Verkehrssystems Schiff bildet seine begrenzte Netzbildungsfähigkeit. Passagiere aus dem Binnenland oder mit Zielen jenseits der Ankunftshäfen mussten mit anderen Verkehrsmitteln an- oder weiterreisen. Dafür betrieben die europäischen Eisenbahnen Bootszüge, die ihre Passagiere in wenigen Stunden von den Metropolen oft direkt an die Piers brachten. In den weitläufigen USA hingegen konnten Bahnreisen Tage dauern. Mancher Passagier nutzte für die An- oder Weiterreise lieber das schnellere Flugzeug, das innerhalb der USA schon deutlich günstiger war als in Europa. Zudem bot der Seeweg weniger Verkehrsgelegenheiten als der Luftweg. Da Schiffe bis zu 2.000 Plätze hatten, war ihre Zahl geringer als die der Flugzeuge mit nur 50 bis 80 Sitzen. Trotzdem liefen in vielen der großen Häfen fast täglich Schiffe aus. Ab 1957 schlossen Reedereien und Fluggesellschaften Interline-Abkommen. Nordatlantikreisende konnten nun eine Strecke fliegen, die andere fahren, und erhielten trotzdem die üblichen Rückreisermäßigungen. Damit ließen sich die Vorteile beider Verkehrssysteme auf einer Reise kombinieren. Die „Queen Mary“ war mit über 2.000 Passagieren eines der größten Linienschiffe. Sie wurde 1967 außer Dienst gestellt. Eine Überfahrt dauerte fünf Tage. (Foto: Cunard Line) Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 59 Schifffahrt MOBILITÄT Die vierziger und fünfziger Jahre zeigten eine gesunde Konkurrenz zwischen See- und Luftverkehr. Das Flugzeug erzeugte einen Teil seines Verkehrs ohnehin neu. Dazu zählten beruflich Reisende, deren Reisezweck nicht gewichtig genug gewesen wäre, um zwei lange Seereisen zu rechtfertigen. Hinzu kam jener Teil von Privatreisenden und Touristen, deren begrenzte Urlaubsansprüche lange Seereisen fast unmöglich machten. Nicht nur in Deutschland betrug der Mindesturlaub kaum drei Wochen. Die sechziger Jahre: Der Niedergang beginnt Die Zahl der Schiffspassagiere ging ab 1958 zurück. Eine der Ursachen war die im April im Flugverkehr eingeführte Economyklasse, deren Preis nur noch knapp 20 Prozent über dem Schiffspreis 3. Klasse lag. Dafür wurden die Sitzreihen auf 86 Zentimeter zusammen geschoben, Toiletten und Waschräume reduziert oder verkleinert und Gratismahlzeiten und Freigepäck stark beschränkt. Trotzdem flogen schon im Sommer 1958 rund 65 Prozent aller Fluggäste Economy. Eine Untersuchung zeigte, dass rund 20 Prozent der Economy-Passagiere ohne den günstigeren Tarif das Schiff benutzt oder auf die Reise verzichtet hätten. 3 Die Passagierzahlen der Schiffe sanken bis 1962 aber primär auf den Überfahrten in westlicher Richtung. Ein Grund lag in den schwindenden Auswandererzahlen als Folge des wirtschaftlichen Aufschwungs in Europa. Emigranten waren aber schiffsaffine Reisende. Sie schätzten die günstigen Schiffstarife, die große Menge an kostenlosem Freigepäck, und sie hatten Zeit. 4 Ende Oktober 1958 flogen die ersten Düsenmaschinen über den Atlantik. Da sie den nordatlantischen Flugbetrieb aber erst ab 1960 dominierten, konnten sie die sinkenden Schiffspassagierzahlen von 1958/ 59 nur unwesentlich mit verursacht haben. Die Jets machten das Fliegen attraktiver. Die Flugzeiten sanken auf sieben bis neun Stunden, und die leistungsstarken Turbinentriebwerke erlaubten größere Flugzeuge. Die 1. Klasse erhielt breitere, bequemere Sitze und spürbar mehr Beinfreiheit. In der Economyklasse wurden nur die Sitze fünf Zentimeter breiter. Doch die halbierten Flugzeiten milderten die Unbequemlichkeiten der Flugreise für alle Passagiere. Hinzu kamen die Laufruhe der Düsentriebwerke und das Fliegen in höheren, ruhigeren Luftschichten. Schon die ersten Düsenflugzeuge senkten die Gesamtkosten pro Tonnenkilometer um durchschnittlich 30 Prozent. Doch der Kauf der teuren Jets und anfängliche Sitzüberkapazitäten erzwangen vorerst sogar moderate Tarifsteigerungen. Erst 1963 sanken die Flugtarife um zehn Prozent, und ab Die „Constellation“ von Lockheed gehörte zu den besten Langstreckenflugzeugen mit Kolbenmotoren. Foto: Deutsche Lufthansa AG Die deutsche „Bremen“ zählte mit rund 1.100 Passagierplätzen und einer Reisedauer von acht Tagen (Bremerhaven-New York) zu den mittleren Linern. Foto: Hapag-Lloyd AG Speisesaal 1. Klasse der „Bremen“ Foto: Hapag-Lloyd AG Die beengte Passagierkabine einer „Constellation“ Foto: Deutsche Lufthansa AG Internationales Verkehrswesen (75) 2 | 2023 60 MOBILITÄT Schifffahrt Mitte der sechziger Jahre lagen sie in der Economyklasse nur noch knapp über dem günstigsten Schiffstarif. Hinzu kamen Lockerungen der Gruppentarifbestimmungen. Reiseveranstalter erhielten nun Gruppentarife, die rund ein Drittel unter den günstigsten Schiffstarifen lagen. 5 Die Normalpreise sanken aber erst um 1970 spürbar unter jene der günstigsten Schiffspassage. Dafür mitverantwortlich war auch die Einführung der besonders wirtschaftlichen Jumbojets. 6 Die Reedereien hatten den Preiskampf zwar verloren, wollten die Tariflücke zum Flugzeug aber wenigstens begrenzen, obwohl die verbliebenen Schiffspassagiere den Preis offenbar nicht als wichtigstes Kriterium der Verkehrsmittelwahl ansahen. Viele Reeder kalkulierten noch knapper und mit Passagierauslastungen, die sich in einem normalen Liniendienst nur schwer erreichen ließen. Hinzu kamen nicht selten Sondertarife, u. a. für Studenten, die nicht kostendeckend waren, um Passagiere zu gewinnen, die sonst aus Kostengründen fliegen würden. Zugleich steigerten viele Reedereien schon in den sechziger Jahren Service und Komfort aller Klassen, um Passagiere zu gewinnen. Damit stiegen aber auch die Kosten. Auf neueren Schiffen wie der „France“ ließen sich 1. und Touristenklasse kaum noch unterscheiden. Einige Kritiker empfahlen stattdessen (vergeblich) eine spartanische 3. Klasse, die dem Flugpreis Paroli bieten könnte. Schon 1965 war die Zahl der Liner auf 40 und die Passagierzahl auf 650.000 gesunken. Die Reedereien hielten vor allem ihre großen Schnelldampfer auf der Linie. Kleinere, langsamere und damit auch preiswertere Schiffe wurden verkauft, verschrottet oder in die Kreuzfahrt geschickt. Experten erwarteten aber kein Ende der Linienfahrt, denn der hohe Komfort und die Annehmlichkeiten der Seereise zogen noch immer Passagiere an. „Getting there is the half fun“ lautete der Werbeslogan der Cunard Line, und eine viel zitierte Studie der New Yorker Hafenbehörde prognostizierte für 1985 noch 280.000 Linienpassagiere. 7 Ein zentrales Handicap des nordatlantischen Reiseverkehrs waren seine saisonalen Nachfrageschwankungen. Sie resultierten vor allem aus dem hohen Anteil von Touristen und Privatreisenden, die schon um 1960 zwei Drittel aller Nordatlantikpassagiere stellten. Viele Touristen bevorzugten die komfortable und erholsame Ferienwoche auf See, anstatt ihre Reisekasse für den bloßen Transport im Flugzeug zu nutzen. Touristen reisten aber vor allem im Sommerhalbjahr. Eine ebenfalls schiffsaffine Gruppe waren Auswanderer. Sie reisten saisonal unabhängig, doch ihre Zahl sank ständig ab. Zu jeder Saison reisten auch Künstler, Diplomaten oder Geschäftsleute. Sie tendierten aber stärker zum Flugzeug, denn Zeit war Geld, und das Ticket bezahlte die Firma oder der Staat. Hinzu kam das kalte und stürmische Winterwetter des Nordatlantiks. Als sich Flug- und Schiffstarife angenähert und die Jets den Flugkomfort verbessert hatten, bevorzugten noch mehr Reisende im Winter das Flugzeug. Ab Mitte der sechziger Jahre fuhren die meisten Liner im Winter so weit unterhalb der Rentabilitätsgrenze, dass die Sommermonate die Verluste nicht mehr kompensierten. Die Reedereien reduzierten die winterlichen Überfahrten drastisch, und ab 1968/ 69 endete der winterliche Schiffsverkehr fast vollständig. Im Sommerhalbjahr hingegen blieb die Nachfrage groß. Viele Überfahrten waren Monate im Voraus ausgebucht, und Reisende wurden abgewiesen. Im Winter hingegen fanden Reisewillige keine Schiffe mehr. Diese Situation verstärkte die Abwanderung zum Flugzeug zusätzlich. Kreuzfahrten hatten vor allem kleineren und langsameren Linienschiffen schon immer eine Alternative für die Wintersaison geboten. Erst Mitte der sechziger Jahre wechselten auch die großen Schnelldampfer verstärkt in die Kreuzfahrt. Doch Superliner mit 2.000 Passagierplätzen waren für diesen noch kleinen Markt zu groß. Zudem fehlten vielen Kreuzfahrtzielen große und tiefe Häfen, da sie abseits der Hauptschifffahrtsrouten lagen. Die Riesendampfer ankerten auf Reede und brachten ihre Passagiere mit Beibooten an Land. Zudem verlangten die kalten Nordatlantikwinter eher verglaste Promenaden als große Sonnendecks mit Swimmingpools. Unattraktiv war auch die strikte räumlich Klassentrennung, zumal die unterste Kabinenkategorie älterer Liner Vergnügungsreisende kaum ansprach. Probleme machten auch die hohen Bau- und Betriebskosten der Superliner. Die auf höchste Geschwindigkeiten und tagelange Dauerlast ausgelegten Dampfturbinen waren teuer, voluminös und personalintensiv. Außerdem brauchten Liniendampfer sehr solide Rümpfe, die auch bei hoher Geschwindigkeit schweren Atlantikstürmen standhielten. Vorn und achtern waren die Rümpfe scharf zugeschnitten, um den Wasserwiderstand reduzieren und die Längsstabilität im Sturm verbessern. Dadurch verringerte sich aber der nutzbare Schiffsraum. Zudem bestanden die Deckshäuser vieler Nachkriegsliner aus teurem Aluminium. Das leichte Metall senkte den Masseschwerpunkt des Schiffes und verbesserte damit das Seegangsverhalten, und der reduzierte Tiefgang erhöhte die Geschwindigkeit. Letztlich machten viele der teuren Superliner auf Kreuzfahrten Minus. Erfolgreicher waren kleinere Schiffe, die zudem nur zwei Klassen besaßen, und die sich auf Kreuzfahrten durch verschiebbare Trennwände und geöffnete Verbindungstüren als Einklassenschiffe fahren ließen. Hinzu kamen Mehrbettkabinen der Touristenklasse, die sich durch Wegklappen von Ober- oder Couchbetten in bequeme Ein- oder Zweibettkabinen verwandeln ließen. Die sechziger Jahre veränderten auch die Wahrnehmung der Seereise. Die schnellen, bequemer gewordenen Jets lockten nun auch jenen Teil der oberen Zehntausend stärker an, der bislang noch gern die 1. Klasse der Luxusliner bevölkert hatte. Die „High Society“ hieß bald nur noch „Jetset“, dessen Glamour auch auf die Economyklasse abstrahlte. Luxusliner hingegen verblassten langsam zu Statussymbolen von gestern. Es schien fast symbolisch, als der französische Staatspräsident Giscard d’Estaing der „France“, dem letzten französischen Nordatlantikliner, die Subventionen strich und dafür den Bau der „Concorde“ förderte. Staatssubventionen für die nordatlantische Linienschifffahrt hatten sich lange Zeit Entwicklung der Schiffspassagierzahl auf der Nordatlantik- Route Quellen: Cunard Line u.a. jahr Jahr Passagierzahl in Tausend